Die theologische Säkularisierung des Deutsch-Jüdischen

„Die theopolitische Stunde“ von Christoph Schmidt. Eine Neuorientierung der politischen Theologie

Von Gabriele GuerraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Guerra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von der „politischen Theologie“ geht heute eine große Anziehungskraft aus, nachdem Carl Schmitt sein gleichnamiges Buch 1922 veröffentlichte und damit den Begriff prägte. Attraktiv ist sie nicht nur für Rechtshistoriker, Verfassungstheoretiker, religiöse Komparatisten und all diejenigen, die professionelle Gründe für ihr Interesse haben, sondern auch für solche, die sich aus einer kulturpolitischen Nähe heraus auf Schmitts Begriff berufen, ihn wiederholen oder umfunktionieren. Der dem Begriff innewohnende Zusammenhang von Religion und Politik zeigt stetig seine Wirksamkeit, vor allem wenn die politische Theologie dazu dient, verschiedene und entgegengesetzte Zeit- und Geschichtswahrnehmungen zusammen zur Darstellung zu bringen. Sie wirft somit die Frage nach der Zeit auf, aber auch die nach der Beziehung zwischen immanenter und transzendenter Geschichte, sowie zwischen Offenbarung und Säkularisierung – und deren gegenseitiger Ablehnung.

Die Frage nach der Zeit bringt auch die nach der Apokalyptik mit sich, wie Jacob Taubes in seiner „Politischen Theologie des Paulus“ erkannt hat: „Ich kann mir vorstellen als Apokalyptiker: soll sie [die Welt] zugrunde gehen“, sagte Taubes bei seinem letzten Seminar über die politische Theologie, „I have no spiritual investment in the world as it is. Aber ich verstehe, daß ein anderer in diese Welt investiert und in der Apokalypse, in welcher Form auch immer, die Gegnerschaft sieht und alles tut, um das unterjocht und unterdrückt zu halten, weil von dort her Kräfte loskommen können, die zu bewältigen wir nicht in der Lage sind“.

Taubes hat die Pointe der politischen Theologie sehr genau erkannt: Die Zeitfrage impliziert immer eine politische Parteinahme über die Welt, gegen oder für deren Aufrechterhaltung. Da also die politische Theologie stets zugleich nach dem Jenseits und Diesseits dieser Welt fragt, weist sie konstitutive Ähnlichkeiten mit dem Judentum auf. Denn indem sich die jüdische Haltung zur Welt an deren künftiger Auslöschung festmacht, wird ihre apokalyptische Haltung zum politisch-theologischen Index.

Von diesem reichen Hintergrund ausgehend, bestreitet Christoph Schmidt, associated professor an den Abteilungen für deutsche Literatur und für Kulturwissenschaft der Hebräischen Universität Jerusalem, die vielen Wege, die politisch-theologisch bestimmt und bestimmbar sind. Die Zwölf Kapitel, aus denen das Buch besteht, bilden eine Figuren- und Begriffsgalerie, in der die politisch-theologischen Fragestellungen eine dezidiert jüdische Färbung bekommen und der Frage der Apokalyptik gegenüber stehen. „Die theopolitische Stunde“ ist also jene Stunde, die schlägt, wenn ein Volk wie das jüdische sich unter das doppelte Zeichen des Gesetzes und des Gottesbundes stellt und eine Gemeinschaft verwirklichen will, die eine neue Beziehung zur Zeit (und zum Raum) schafft. Wie in Franz Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“ treffen dabei zwei Typologien aufeinander: einerseits die des „Mann[es] vom Lande“, Anhänger einer Politischen Theologie, „die seit der Aufklärung, seit Lessing und Kant etwa, mithilfe des aus der Vernunft abgeleiteten ausnahmslos geltenden Gesetzes sich von jeder (göttlichen und menschlichen) Autorität zu emanzipieren sucht“; und andererseits die des Türhüters, der eine Auffassung des Gesetzes verkörpert, „die, indem sie sich auf die Idee göttlicher Macht stützt, stets Macht schon voraussetzt, die das Gesetz erst ein- und durchsetzt“. Auf diese Weise gelingt es Schmidt, zwischen einer politischen Theologie „von oben“ und einer „von unten“ zu unterscheiden. Zwar bestimmt Schmidt „neun sekundäre Formen von politischer Theologie“, die sehr nützlich sind, um die politische Theologie fachwissenschaftlich besser zu begreifen. Dennoch folgt diese Typologie einer grundlegenden Antithese, die das ganze Buch durchzieht. Die „Theopolitik“ nämlich, ein von Martin Buber gegen Carl Schmitt geprägter Begriff, der „als Ansatz zu einer utopisch-anarchischen Politik in Palästina auf der Grundlage der alttestamentarischen Idee von Theokratie konzipiert“ wurde, dient hier als polemischer Begriff, der wesentlich ‚an-archisch‘ bestimmt ist. Diese Haltung hat wiederum, wie bekannt ist, eine lange Tradition: Man denke zum Beispiel nur an das Gespräch, das Walter Benjamin und Gershom Scholem in der Schweiz führten, und das sie zur Feststellung brachte, dass der theokratische Anarchismus „als die sinnvollste Antwort auf die Politik“ gelte. Eine jüdische politische Theologie stellt also den Versuch der Befreiung von Machtmechanismen dar und basiert somit auf der konstitutiven Idee, dass die echte Macht nur dem einzigen Gott zuzuschreiben ist.

Genauer gesagt gerät, Schmidt zufolge, die gesetz- und normtranszendierende Individualität in den Konflikt mit einer gesetzestreuen politischen Haltung. Nur eine auf Transzendenz, ja auf Heiligkeit bezogene Stellungnahme ist demnach in der Lage, die machtfundierte politische Theologie zu überwinden: „Gründet der Souverän seine politische Macht auf den durch den Feind provozierten Ausnahmezustand, so der Heilige seine Heiligkeit in dem ihm befohlenen Akt, auch den Feind noch zu lieben, womit er die politische Ausnahme durch die theopolitische Liebe noch einmal überbietet und als Ausnahme der Ausnahme durchbricht“. Schmidt folgt den Spuren einer solcher Spannung in den Schriften von Ernst Cassirer und Leo Strauss, Erik Peterson und Martin Buber, Gershom Scholem und Jacob Taubes, die sich als Spiegel der Krise der deutsch-jüdischen Kultur deuten lassen. Nicht nur innerhalb des Deutsch-Judentums der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein solcher Weg aufzuspüren, sondern auch bei anderen Denkern verschiedener Konfessionen, die auf das Paradox der Moderne gestoßen sind. Dieses nämlich durchkreuzt die drei Monotheismen, hält Säkulärisierungstheoreme und Resakralisierungsansprüche zusammen.

Besonders paradigmatisch für diesen Zusammenhang erscheint nach Schmidt Scholem und seine „Kabbala der symbolischen Formen“, das heißt, „eine nachmoderne politische Theologie des Judentums, die im Symbol dieses ultimativen Scheiterns aller messianischen Aktion diejenige politische Theologie der Moderne verabschiedet, die auf der Theorie und Praxis einer historisch aktiven Transformation des Gottesreiches auf Erden beruht“. Dass Scholems Theorie eine in der Tat unermüdliche Dialektik zwischen neuer Glaubensbegründung und nihilistischen Tendenzen ausmacht, zeigt Schmidt am Beispiel des Sabbatianismus, und er wagt dabei sogar, dieses Denken Scholems als „eine Theologie des Sabbatianismus“ sans phrase zu bezeichnen, worin er eine radikale Kritik „des politischen Messianismus der (jüdischen) Moderne“ sieht. Damit aber verengt Schmidt den Weg einer nachmodernen politischen Theologie des Judentums allzu sehr, da sie dann nur zwischen der Skylla einer dezisionistischen und gesetzestreuen politischen Theologie und der Charybdis einer politisch-messianisch orientierten, aber im wesentlichen ahistorischen Neuorientierung oszilliert. Schmidt zeigt an anderer Stelle selbst jedoch einen Weg auf, wie eine jüdische politische Theologie weiter zu entwickeln ist. Dafür arbeitet er sehr genau Benjamins Auseinandersetzung mit Schmitt heraus: „Walter Benjamin erzeugt […] einen Antimythos des Politischen und der Herrschaft, den er im Hamlet zur Allegorie der totalen Krise von (Macht)politik überhaupt – ihrer totalen Sinnlosigkeit und Überflüssigkeit erhebt“. Benjamins entmythisierender Gestus findet dann seine Fortsetzung in der Haltung Taubes’ der Judenvernichtung gegenüber, deren Schreckensvisionen mit Recht die politische Theologie des Letzteren prägt. Vor dem Hintergrund von Taubes’ „politischer Theologie des Paulus“ arbeitet Schmidt schließlich eine „Politik der Liebe“ heraus, die sich wiederum mit jener politischer Theologie des Heiligen verbindet, von der am Beispiel Erik Petersons die Rede war: Denn „die politische Theologie der Souveränität gründet metaphysisch in dem höchsten Prinzip der Macht, und muß so Politik als Dramaturgie der Macht verstehen, die sich je von neuem gegen eine andere Macht (des Feindes) selbst behauptet“. Das bedeutet, dass Taubes vor der Gefahr einer nicht überwundenen Gnosis in der Moderne warnt, „also jener radikal antijudaistischen Form christlicher Theologie, die das Alte Testament als Dokument einer dämonischen Schöpfungstheologie verworfen hat“.

An diesem Punkt erscheint der Begriff der Gnosis zu pauschal und zu stark mit dem Marcionismus überlagert. Eine echte Überwindung der auf Feindseligkeit und somit auf einem antijudaistischen Affekt basierten Gnosis könnte, so die Taubes folgenden Schlussfolgerungen Schmidts, in einer „politischen Theologie der Agape und der Liebe“ bestehen, „indem sie von allen Formen der Selbstbehauptung und sich selbst behauptender Politik emanzipiert werden muß, eben für die immer noch ausstehende wahre ‚Umkehrung aller Werte‘ steht“.

Das Buch von Schmidt stellt einen überzeugenden Versuch dar, über verschiedene Autorendeutungen eine stringente, andere politische Theologie zu entwickeln. Sie vermag es, an Schmitt’schen Argumentationen festzuhalten, sie aber zugleich umzukehren, ohne dabei der Gefahr der Dekonstruktion zu erliegen, also einem hermeneutisch zweideutigen und politisch unbestimmten Deutung zu folgen.

Titelbild

Christoph Schmidt: Die theopolitische Stunde. Zwölf Perspektiven auf das eschatologische Problem der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
321 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770543717

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