Morphologie eines Verbrechens

Isabel Morfs Krimi-Debut „Schrottreif“ überzeugt durch einen vielschichtigen Plot und originelle Lebensentwürfe

Von Daniel AlderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Alder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Valerie Gut das Fahrradgeschäft von ihrem Vater übernommen hat, geht es steil bergauf: Der Standort wurde gewechselt, die Ladenfläche verdoppelt und neues Personal eingestellt. Die ehrgeizige Valerie zeigt sich als geistesgegenwärtige Chefin, welche auf die richtigen Trends setzt und immer auch an die Zukunft ihres Geschäfts denkt. So führt sie eine grosse Anzahl an Kinderfahrrädern in ihrem Sortiment, damit die jungen Kunden bereits früh in Kontakt mit dem Geschäft kommen und später Fahrräder mit höheren Margen anschaffen.

Valerie gibt das Bild einer tüchtigen Geschäftsfrau ab, welcher der Durchbruch in einem von Männern dominierten Berufsfeld gelungen ist. Es zeigt sich, dass beruflicher Ehrgeiz Menschlichkeit nicht auf der Strecke lässt: FahrGut, so der Name ihres Geschäfts, befindet sich im jüdischen Viertel von Zürich, im Stadtkreis Wiedikon. Extra für jüdische Kinder hat Valerie einen Kurs für einfache Fahrradreparaturen angeboten. So erstaunt es nicht, dass die kleine Adele oft bei ihr vorbeischaut und der interessierten Zuhörerin über ihre eigene Kultur berichtet. Auch für den portugiesischen Anlehrling Luis ist Valerie eine wichtige Bezugsperson. Geduldig bringt sie ihm die deutschen Bezeichnungen für Fahrradteile bei. Sie lässt auch mal seinem jugendlichen Übermut freien Lauf, als er ohne Absprache stolz im Züri-TV vor der Kamera über seltsame Ereignisse im Geschäft berichtet.

Der Autorin Isabel Morf ist es mit ihrem Krimi-Debüt gelungen, um die Protagonistin verschiedene Figuren so anzuordnen, dass ein abwechslungsreiches und vielschichtiges Bild einer multikulturellen Zürcher Gesellschaft entsteht. Glücklicherweise steht dabei weder eine Wertung noch eine integrative Absicht im Vordergrund, denn die einzelnen Persönlichkeiten zeichnen sich durch individuelle, meist originelle Lebensentwürfe aus. Die Auswahl der Figuren reicht vom zehnjährigen jüdischen Kind Adele bis zur achtzigjährigen Salome Zweifel, welche als Primarschullehrerin die Hälfte aller auftretenden Figuren unterrichtet hat. Irgendwo dazwischen befinden sich Valerie als aufstrebende Frau und Konkurrent Schiesser, welcher schon mit Valeries verstorbenem Vater in einem ständigen Wettstreit stand – mit dem Unterschied, dass Schiesser damals noch nicht dermassen auf der Verliererstrasse war.

Um die verschiedenen Facetten der Figuren aufzuzeigen, kommt ein sich immer stärker ins Zentrum der Handlung schiebendes Verbrechen gerade richtig. Anfänglich fehlen einzelne Artikel in den Regalen von FahrGut, dann verschwinden 4000 Franken aus der Kasse und schliesslich wird eine Leiche im Geschäft aufgefunden. Viele der involvierten Figuren fühlen sich schnell in die Enge getrieben und offenbaren mehr, als ihnen lieb sein kann. So zeigt sich, dass Raffaela Zweifel, die sich fürsorglich gebende Grossnichte von Salome Zweifel, vieles vor ihr verheimlicht: „Was Salome Zweifel nicht wusste, war, wie die junge Frau ihre Wochenenden verbrachte. Mit Partys, auf denen sie sich ab und zu eine Linie zog. Später neben Männern aufwachte, an die sie sich kaum erinnern konnte. Das hätte der alten Dame nicht gefallen.“ Konkurrent Schiesser, der mit seiner „Schmuddelbude“ vor sich hin kränkelt, möchte Nutzniesser der Ereignisse werden und versucht, FahrGut endgültig zu ruinieren, indem er die Schaufenster mit den Sprüchen „Mord und Totschlag = Weiberwirtschaft“ und „Judenfreundin“ beschmiert. Selbst der schweigsame FahrGut-Mechaniker Markus Stüssi gibt ungewollt Einblicke in seine Vergangenheit als Neonazi.

Die Schlinge um einige Figuren wird immer enger, doch fehlt lange das alles miteinander verbindende Puzzleteil. Valerie stellt erschöpft fest: „Die Kette der Ereignisse, die den Boden unter ihren Füssen wanken liess, schien kein Ende zu nehmen. Immer gabs eins drauf. Und sie bekam nicht auf die Reihe, wie alles zusammenhing. Hing denn alles zusammen?“ Solche Einschübe in erlebter Rede zeigen unerwartete Innensichten der Figuren. Aber nicht nur erzähltechnisch, sondern auch sprachlich trifft man auf Feinheiten, während das Verbrechen allmählich enthüllt wird. Das Sprachspiel FahrGut funktioniert, weil Gut sowohl ein Familiennamen als auch ein Adverb in Bezug auf Fahrradfahren ist. Valerie ist fasziniert von solchen Doppeldeutigkeiten, auch als sie einen eigenen Fahrrad-Prototyp, der schwarz eingefärbt ist, „Schwarzes Schaf“ tauft – natürlich mit einer selbstbewussten Anspielung auf das originell Hervorstechende. Zuletzt bleibt selbst die Frage offen, ob der Familienname bei Salome Zweifel nicht gleichsam ein Sprachspiel aufdeckt: Der Zweifel, ob eine frühere Bestrafung eines Schülers gerecht war, führt zu einer unüberlegten Aktion und schliesslich auch zu ihrem Tod – beinahe ein salomonisches Urteil.

Wie bei der Sprache die Morpheme die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten bilden, werden in Morfs Kriminalroman die kleinsten bedeutungstragenden Elemente akribisch untersucht, Elemente innerhalb der verschiedenen Biographien, aber auch Elemente innerhalb des Verbrechens. Da solche Qualitäten vorhanden sind, verzeiht man Morf gerne, dass einzelne Handlungselemente doch zu klischeehaft eingebaut sind und besser weggelassen worden wären. Dass die achtzigjährige Salome Zweifel sich dafür interessiert, wie man einen Laptop bedient und MMS verschickt, ist eher eine funktionale Voraussetzung dafür, dass das Rätsel des Verbrechens später aufgelöst werden kann, als dass es ihren eigenen Charakter um einen originellen Aspekt erweitert.

Titelbild

Isabel Morf: Schrottreif. Kriminalroman.
Gmeiner Verlag, Meßkirch 2009.
230 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783839210222

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