Chinesische Weisheiten und alltägliche Blindheiten

Rolf-Bernhard Essig spricht mit Matthias Politycki über sein neues Buch „Jenseitsnovelle“

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

R-B E: In Ihrem neuen Buch „Jenseitsnovelle“ nimmt sich ein Ehepaar gegenseitig falsch wahr. Gibt es für Sie dabei eine weibliche und eine männliche Form des Irrtums?

MP: Oh, deren gibt es gewiss mehr als jeweils eine, aber das ist ja vielleicht gerade der Reiz an der ganzen Sache. Nähmen wir einander „wahrhaftig“ war, wäre das Vergnügen gewiss geringer, die Illusion, die Enttäuschung, der Schmerz. In der „Jenseitsnovelle“ ist freilich eine Form des wechselweisen Irrens erreicht, die ans Tragische grenzt; das Glück beziehungsweise Unglück mit dem jeweils anderen beruht darin letztlich auf bloßen Vermutungen und (Fehl-)Interpretationen.

R-B E: Was reizte Sie besonders an der traditionellen Form und kam Ihnen das Werk schon als Novelle in den Sinn? Fühlen Sie sich in einem Wettstreit mit den berühmten Novellisten oder eher als ihr Nachfolger?

MP: Tatsächlich sind die Vorgaben der Novellenform wesentlich schwerer zu erfüllen als die des Romans, das Ergebnis soll ja sozusagen ein auf das Allerwesentliche eingedampfter Kurzroman sein, ein literarisches Hochkonzentrat. So etwas reizt natürlich per se, vor allem, wenn man sich schon einigermaßen an Romanen abgearbeitet und schließlich erkannt hat, dass sie umso besser werden, je weniger man davon erzählt. Die „Initialzündung“ für die Jenseitsnovelle, nämlich für deren Beginn, war freilich nichts als ein schlimmer Traum.

R-B E: Eine Novelle, fordern manche, benötige einen Wendepunkt. Ihre „Jenseitsnovelle“ bietet mehr als ein Dutzend davon, kleinere und größere. Machte es Ihnen Spaß, dem Leser dieses Wechselbad der Gefühle zu bereiten?

MP: In der Tat bietet die „Jenseitsnovelle“ mehr als ein einziges „unerhörtes Ereignis“, aber das ist ja gerade die Herausforderung einer traditionellen Form: deren Vorgaben einzulösen – und sie gleichzeitig mit neuem Leben zu erfüllen. Alles andere wäre bloßes Epigonentum. Die Geschichte, die in der „Jenseitsnovelle“ erzählt wird, ist sozusagen ein Beziehungsthriller, eher vielleicht sogar eine Beziehungstragödie. Was bei derlei zählt, ist der Aufbau einer maximalen Fallhöhe und die schlimmstmögliche Vernichtung der Hauptfigur. Das macht beim Schreiben alles andere als Spaß, man empfindet ja mit all seinen Figuren mit.

R-B E: Liebe, Tod, Betrug, Erkenntnis, Verblendung und Traum spielen eine wichtige Rolle in „Jenseitsnovelle“. Das ist schon in Ihrem jüngsten Gedichtband „Die Sekunden danach“ der Fall. Nähern Sie sich diesen Themen souveräner, da Sie ihnen mit mehr Lebenszeit öfter ausgesetzt sind?

MP: Im Gegenteil, ich leide noch stärker darunter als ich es ohnehin stets tat. Im Übrigen ist man als Schriftsteller ja niemals souverän gegenüber seinen Buchprojekten, sondern ein Getriebener.

R-B E: In Ihrem Buch kommt eine magisch bedrohliche Jenseitsvorstellung vor, ein fast uferloser schwarzer See, in dem die Gestorbenen noch einmal sterben. Sie ist verbunden mit dem chinesischen „Buch der Wandlungen“, dem „I-Ging“, das für Prophezeiungen eine große Rolle auch im Westen spielt. Seit wann beschäftigen Sie sich mit chinesischer Weisheitslehre und wollen Sie den Leser anregen, über das hinaus, was im Buch steht, mehr darüber erfahren zu wollen?

MP: Mit den alten Chinesen habe ich mich eigentlich schon während meiner Studentenzeit beschäftigt, habe damals übrigens auch selber immer mal wieder das Orakel mit alten chinesischen Münzen befragt – was macht man in dieser Zeit nicht alles, um Antworten auf all die brennenden Fragen zu bekommen, die einen schon als Schüler umgetrieben haben!

R-B E: Ihr Buch verbindet gefühlvolle, ja melodramatische Szenen mit Freude an Konstruktion und Klassikerzitaten. Erleichtert das Spiel den Umgang mit den schweren Themen?

MP: Jede Form erleichert den Umgang mit dem Inhalt, und je differenzierter ihre Anforderungen an den Schreibenden sind, desto mehr – Nietzsche nannte das „in Ketten tanzen“ – und die sukzessive Erkenntnis des Subtextes, der in den Text eingeflochten ist, ist ja kein unerheblicher Lustgewinn für den Leser. Wenn aber die schiere „Netto-Geschichte“, der Plot, den Leser nicht ergreift, berührt, in diesem Fall hoffentlich bestürzt, nützen auch die raffiniertesten Anspielungen und die ausgebuffteste Konstruktion nichts.