Zimmer mit Aussicht

Luc Bondys erster Roman „Am Fenster“ inszeniert das Leben als leicht arrangiertes Regiestück

Von Lavinia Meier-EwertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lavinia Meier-Ewert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erzähler, dessen Erinnerungen wir hier lesen, wie er sie am Fenster stehend vor sich hin spricht, wieder aufrollt, neu verknüpft und inszeniert auf der Bühne in seinem Kopf, nähert sich uns im Schatten eines anderen. Der andere steckt den Schauplatz ab und versieht die Gestalt des „Sechzigjährigen“ mit pointierten Charakterisierungen: „Er hat Energie, aber keine Hoffnung.“ Er lässt ihn Kaffee kochen und an seinen Großvater denken und verschwindet, nachdem er seiner Figur einen Namen gegeben und sie zu einem „Ich“ gemacht hat – „obwohl ich auch sechzig und nicht er bin.“ Auftritt Donatey.

Voller Schamgefühl, „wie oft in meinem Leben, wenn ich für eine Weile aus der Deckung getreten bin“, schreibt der sich in den Roman. Er ist gerade aus dem Sanatorium entlassen worden, trägt im Rücken eine stützende Eisenstange und verbringt seine Tage rauchend, mit Unmengen von Kaffee und in der resignativen Gewissheit, dass nichts mehr kommt, am Fenster seiner kleinen Wohnung in der Zürcher Seminarstraße. Dort lässt er seine Vergangenheit an sich vorbeiziehen und malt sich Gründe aus, warum seine Freundin Seraphine nicht mehr zurückkommen könnte.

„Am Fenster“ ist nach den autobiographischen Erzählungsbänden „Wo war ich?“ und „Meine Dibbuks“ der erste Roman des großen Theaterregisseurs Luc Bondy. Ein fiktives, Raum und Zeit enthobenes Erinnerungsbuch, das alles bleischwere Bemühen um die eine, rechte Deutung von Vergangenem von sich abgestreift hat, ja sogar den Begriff Erinnerung meidet, als würde er schon zu enge Grenzen ziehen: „Ich habe weniger Erinnerungen als das Gefühl, dass da etwas passiert ist, wonach ich immer wieder haschen möchte wie nach Schmetterlingen“, schreibt Donatey.

Er streift die Geschichte seiner Großeltern, Offenbacher Juden, die vor den Nationalsozialisten fliehen konnten, und er versucht, seinem ihm unbekannten italienischen Vater und seiner Mutter Mathild, die außer in einigen versteckten Briefen nie über ihr früheres Leben hat sprechen wollen, eine Vergangenheit zu konstruieren. Er erzählt aus seinem Leben am Theater, seiner lebenslangen Assistenz im Gefolge des berühmten Regisseur Gaspard Nock, von anderen Freunden, auch sie große, raumgreifende und prägnant gezeichnete Persönlichkeiten wie der Bildhauer Ingo Licht oder der Pariser Erfolgsanwalt Piotr Lwof, und von Cynthia, der starken Schauspielerin, die Malerin wurde, bevor sie sich eines Tages umbrachte, unerwartet für alle.

Sie alle sind gestorben, Donatey kämpft mit der Leere des Übriggebliebenen und genießt gleichzeitig dessen Deutungshoheit. Endlich kann er, der ewige Vermittler, der in seiner lebenslangen Unterwürfigkeit und seinem wohlig-wärmenden Opportunismus von diesen bewunderten Übercharakteren an den Rand gedrängt und allenfalls „ins Vorzimmer“ ihrer Persönlichkeit gelassen wurde, die „Dinge wieder geradebiegen, die mich mein Leben lang geknickt und verbogen haben.“

Was folgt, ist indes keine bittere Abrechnung, sondern so etwas wie eine innere Regiearbeit – in einer Zeit übrigens, das wird ganz nebenbei markiert, in der Theater längst zu Schwimmbädern umgebaut worden sind und man die Definition von „Regisseur“ allenfalls noch unter „Berufe bis 2014“ im Internet findet. Donatey arrangiert Szenen, Beobachtungen und Anekdoten – er nennt sie „Anflüge“ –, ein dichtes Geflecht aus Erinnerungen, vermengt mit Filmszenen – seine Mutter in blauer Dämmerung, auf der Flucht mit Lino Ventura –, und Variationen über das unentwegt befürchtete Davonlaufen Seraphines, die in ihrem Versuchscharakter an Max Frisch erinnern: „Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“

Wie in seinen Inszenierungen öffnet Bondy in seinem Roman, in dem alles „nahe beim Plausiblen und doch nicht im Realen liegt“, mehr mögliche denn wirkliche Räume. Aus den beinahe unmerklichen Perspektivverschiebungen und einem stetigen Ausbalancieren der mal larmoyanten, mal amüsierend selbstironischen Erzählstimme, ihrem Schwanken zwischen Selbstbehauptung und Selbstzurücknahme, erhält „Am Fenster“ seinen unverbindlich schwebenden Charakter. Über den Roman hinaus treten Donateys Erinnerungsfragmente in Beziehung zu bekannten Spuren und Motiven aus Bondys erzählerischem Textkosmos – die Großmutter, die sich so gern gegen Heizkörper lehnt, die Beschimpfung als „Saujude“ in einer Nürnberger Straßenbahn oder die erste Flucht des Großvaters vor den Nationalsozialisten.

Einzig die seltsam präzisen Angaben technischer Gerätschaften ragen spitz aus diesem Universum: Donatey besitzt iPod und PowerBook G4, die Kinder vor dem Fenster spielen „mit dem PSP“. Ist das jetzt inkonsistent, eine absichtlich gelegte Fußangel, um den unzuverlässigen Erzähler zu entlarven oder dessen Selbstvergewisserung an der nüchternen Gegenständlichkeit der Welt, der Trost der kleinen Dinge? Oder ohnehin alles nicht so gemeint? „Nehmt“, verfügt Donatey, „mein Schreiben wie das Reden der Menschen, die auf der Straße allein laut vor sich hin sprechen und die man ungerechterweise für verrückt hält.“

Titelbild

Luc Bondy: Am Fenster. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009.
158 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054721

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