„Mit Anstand von dieser Welt verschwinden“

Psychoanalytische Anmerkungen zur Suizidalität in Leben und Werk Sigmund Freuds

Von Benigna GerischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benigna Gerisch

I. Zur Suizidalität im Leben Freuds: „Mit Anstand von dieser Welt verschwinden“

Vor 70 Jahren, am 23.9.1939, starb Sigmund Freud. Wenn wir seiner gedenken, dann sprechen wir vor allem von seinem Werk, das er geschaffen hat und das in uns auf sehr lebendige Weise nachwirkt. Wir denken dabei vielleicht nur selten an die Umstände seines Todes, der ein Suizid, genauer ein assistierter Suizid war.

Freud litt, wie wir durch seine detailreichen Biographien und Selbstzeugnisse wissen, zeitlebens unter mannigfaltigen körperlichen Erkrankungen und neurotischen Symptomen. Oft spricht er von Herzrhythmusstörungen und Atemproblemen, von Depressivität und Todesangst, aber auch von Todessehnsucht, von Grippen, von Migräne, Magenschmerzen, Verdauungsstörungen, leichtem Typhus, Angina und Pocken etc. Aufgrund dieser Liste von Symptomen zu behaupten, Freud sei zeitlebens auch chronisch und latent suizidal gewesen, wäre nichts als krude Spekulation und ließe sich mit Freuds Parade – in einem anderen Kontext gegenüber seinem Biographen Fritz Wittels geäußert – erledigen, nämlich, dass das „Wahrscheinliche nicht immer das Wahre“ ist.

Gleichwohl finden sich zahlreiche Passagen, in denen Freud resigniert, erschöpft und gemütsverdunkelt klingt. So etwa, als er im Februar 1896 an Wilhelm Fließ schreibt: „Ich hoffe mit wissenschaftlichem Interesse bis ans Lebensende versorgt zu sein. Ein Mensch daneben bin ich freilich kaum mehr. Abends 10 1/2 Stunden nach der Praxis bin ich zu Tode müde“ (zit. nach Salber 2006, S. 174). Eine düstere Passage, die gleichwohl, insbesondere in Phasen der erdrückenden Erschöpfung, in Briefen häufiger zu finden ist, etwa als er, der die folgenschweren Symptombildungen der restriktiven Triebunterdrückung wie kein anderer beschrieb, 1911 in einem Brief an Emma Jung beklagt: „Die Ehe ist längst amortisiert, jetzt gibt es nichts mehr als Sterben“.

Wir alle wissen, dass sich Freuds jahrelange (neurotische) Krebsangst auf bittere Weise bestätigte, als er schließlich im Frühjahr 1923 tatsächlich an Krebs erkrankte. Betroffen waren der Gaumen und die Mundhöhle, was im Laufe von vielen Operationen am Ende auch zur Entfernung eines Teils des Kieferknochens führte. Essen und Sprechen waren für ihn, auch durch die Kiefer-Prothese, nie mehr schmerzfrei.

Freud, der Arzt, von Ärzten umgeben, wandte sich zunächst mit seinem Anfangsverdacht an Felix Deutsch, der es selbst am schwersten hatte, sich mit dieser Wahrheit abzufinden, so dass er nicht in der Lage war, Freud mit der ganzen grausamen Realität zu konfrontieren. Peter Gay schreibt: „Er machte sich sorgen, daß Freuds Herz auf die Wahrheit nicht gut reagieren könnte. Er hatte einige Hoffnung, dass eine zweite Operation jede Ursache zur Besorgnis beseitigen und Freud weiterleben lassen könnte, ohne dass er je erfuhr, dass er Krebs gehabt hatte. Aber darüber hinaus war Deutsch beunruhigt durch etwas, was er als Freuds Bereitschaft zum Selbstmord deutete. Bei ihrer entscheidenden Begegnung am 7. April (1923) hatte Freud Deutsch gebeten, ihm zu helfen, ‚mit Anstand von dieser Welt zu verschwinden‘, falls er zu einem langen Leiden verurteilt sein sollte. Wenn man ihm offen sagte, daß er Krebs hatte, könnte sich Freud versucht fühlen, seine unausgesprochene Drohung wahrmachen“ (Gay 1989, S. 473; Hervorhebung von mir, B.G.). Am Ende war es nicht Felix Deutsch, sondern Max Schur, der ihm helfen sollte, in Würde zu sterben.

Überdies war Freud in jenem Jahr nicht nur mit seiner eigenen Sterblichkeit wie nie zuvor konfrontiert, sondern er musste auch noch den Tod seines geliebten Enkels Heinerle verkraften, des jüngeren Sohns seiner Tochter Sophie, der im Juni 1923 an Tuberkulose verstorben war. Ferenczi gegenüber sprach er offen von seiner gegenwärtigen Lebensunlust. „Ich habe noch nie eine Depression gehabt, aber das muß jetzt eine sein” (zit. nach Gay 1989, S. 474). „Das ist“, so Gay, „eine bemerkenswerte Behauptung: Da Freud immer wieder unter depressiven Stimmungen gelitten hatte, muß dieser Anfall ungewöhnlich schwer gewesen sein.” (ebd.) Verschiedentlich gestand er in Briefen an seine Kollegen, dass er sich dem Leben entfremdet und als Todeskandidat fühle und den Verlust des Jungen nicht verwinden könne: „Er bedeutete mir die Zukunft und hat so die Zukunft mit sich genommen“ (ebd.). Durchaus ungewöhnliche Worte für einen Mann, den wir eher als unsentimental, nüchtern und nicht selten sarkastisch und scharfzüngig kennen. Der Tod Heinerles hatte alle anderen Verluste, so auch den Tod seiner geliebten Tochter Sophie aktualisiert, den er, so Freud, vergleichsweise gut vertragen habe, aber nun schien Freud von einer solchen Wucht schmerzhafter Affekte überschwemmt zu werden, dass ihm der Lebensmut zu schwinden drohte.

Aber er lebte und arbeitete weiter, nicht selten bis zur totalen Erschöpfung. Zwischen 1923 und 1928 musste er mehr als 350 Mal seinen Chirurgen konsultieren. Und 1924 schrieb Freud zermürbt: „Das Richtige wäre, Arbeit und Verpflichtungen aufzugeben, und in einem stillen Winkel auf das natürliche Ende zu warten…“ (zit. nach Gay 1989, S. 510).

Im September 1930 stirbt Freuds Mutter, sie überlebte ihren Mann um vierunddreißig Jahre. Bis zu ihrem Tode im hohen Alter von 95 Jahren wird Freud ihr jeden Sonntag die Aufwartung machen, gleichwohl mit ambivalenten Gefühlen und mit Magendrücken, wie er einmal gesteht. Der 74-jährige, schwer krebskranke Freud räumt in einem Brief ein: „Es hat merkwürdig auf mich gewirkt, dies große Ereignis, kein Schmerz, keine Trauer, was sich wahrscheinlich aus den Nebenumständen, dem hohen Alter, dem Mitleid mit ihrer Hilflosigkeit am Ende erklärt, dabei ein Gefühl der Befreiung, der Losgesprochenheit. Das ich auch zu verstehen glaube. Ich durfte ja nicht sterben, solange sie am Leben war, und jetzt darf ich. Irgendwie werden sich in tieferen Schichten die Lebenswerte merklich geändert haben“ (zit. nach Salber 2006, S. 42; Hervorhebung von mir, B.G.). Und bemerkenswerterweise konnte Freud nicht einmal an ihrem Begräbnis teilnehmen: „Ich war nicht beim Begräbnis, Anna hat mich vertreten“ (ebd.). „Der Verlust der Mutter muß etwas ganz Merkwürdiges, mit anderem Unvergleichbares sein und Erregungen erwecken, die schwer zu fassen sind“, hatte Freud im Jahr zuvor an den langjährigen Freund und Kollegen Max Eitingon geschrieben und auf seine Lage hingewiesen: „Ich habe selbst noch meine Mutter, und sie sperrt mir den Weg zur ersehnten Ruhe, zum ewigen Nichts“ (ebd.).

II. Freuds psychoanalytische Thesen zum Suizid

Freud postulierte (1896c) bereits 1896 im Rahmen der entlang der Hysterie entwickelten Verdrängungslehre, dass ein aktueller Anlass nur dann traumatisch wirke, wenn dieser eine verdrängte, unbewusste Konfliktthematik aktualisiere. In einem Vergleich der Hysterie mit dem Suizidversuch präzisierte Freud: „Nicht die letzte, an sich minimale Kränkung ist es, die den Weinkrampf, den Ausbruch von Verzweiflung, den Selbstmordversuch erzeugt, mit Mißachtung des Satzes von der Proportionalität des Effekts und der Ursache, sondern diese kleine aktuelle Kränkung hat die Erinnerungen so vieler und intensiverer früherer Kränkungen geweckt und zur Wirkung gebracht, hinter denen allen noch die Erinnerung an eine schwere, nie verwundene Kränkung im Kindesalter steckt“ (1896c, S. 454).

Doch die Eröffnung eines psychoanalytischen Diskurses zum Suizid fand erst im Jahre 1910 mit dem „Symposium über Selbstmord“ statt, das von Freud anlässlich eines Schülerselbstmordes in Wien einberufen worden war. An jener Tagung, die von Freud (Freud, 1910g, S. 61ff.) eingeführt wurde, beteiligten sich u.a. Adler, Stekel und Federn (vgl. Federn, 1929a). Die Persönlichkeit des Selbstmörders wurde ganz allgemein als „nervöser Charakter“ beschrieben, und es wurde ein konstitutionell stark ausgeprägter Aggressionstrieb als Bedingung zum Suizid angenommen. Während Adler insbesondere die Bedeutung sozialer Faktoren heraushob, betonten andere die Suizidneigung als Ausdruck eines Tötungswunsches, der einer anderen Person gilt. Darüber hinaus wurde das Fehlen zwischenmenschlicher Beziehungen als ein ursächlicher Faktor des Suizids formuliert.

Im Schlusswort der Diskussion pointierte Freud noch einmal die unbeantwortete Ausgangsfrage, nämlich ob die Überwindung des Lebenstriebes das Resultat enttäuschter Libido sei, „oder ob es einen Verzicht des Ichs auf seine Behauptung aus eigenen Ich-Motiven gibt“ (Freud, 1910g, S. 64).

Schon damals vermutete Freud, dass ein Vergleich der Melancholie mit dem Affekt der Trauer den psychodynamischen Zugang zum Suizidproblem eröffnen würde. Er griff das Problem erst 1916 in seiner Arbeit „Trauer und Melancholie“ wieder auf. Sie gilt als einzige systematische Darstellung Freuds zur Psychodynamik der Suizidhandlung und ist bis heute für die klinische Praxis und die theoretischen Konzeptualisierungen von unschätzbarem Wert.

Hinweise auf das Phänomen der Suizidalität, insbesondere im Kontext von Fallgeschichten, durchziehen das gesamte Werk Freuds. Nach 1900 lassen sich zusammengefasst vier Haupttheorien ausmachen, die einen Bogen spannen vom topographischen zum ersten triebtheoretischen Modell, über den narzisstischen Typus der Objektwahl hin zum Todestrieb. Im Folgenden möchte ich mich nur auf zwei Konzeptualisierungen konzentrieren, nämlich auf die Suizidtheorie im Kontext der Melancholie und die Todestriebtheorie.

Das Freud-Abrahamsche Depressionsmodell der Suizidalität

Die in der Suizidologie als klassisch psychoanalytisches Erklärungsmodell rezipierte Suizidtheorie wurde von Freud (1917e) und Abraham (1912, 1924) entwickelt. Der zentrale Unterschied zwischen der Trauer und der Melancholie bestehe, so Freud, in folgendem Phänomen: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“ (Freud 1917e, S. 432).

Die volle Entfaltung des melancholischen Syndroms, das von einer ausgeprägten Affektverstimmung und dem Verlust der Selbstachtung begleitet wird, ist somit an die Voraussetzung eines disponierenden und eines auslösenden Faktors gebunden: Als psychische Disposition des Melancholikers wird eine „primäre narzißtische Wunde“ (Abraham, 1924) angenommen, die im Erleben des Kindes durch eine enttäuschende und versagende Mutter verursacht wurde und sich als basale „Urverstimmung“ (Abraham, 1924) niederschlägt. Diese begünstigt sowohl eine ausgeprägte Ambivalenz von Liebe und Hass gegenüber den Objekten als auch die Tendenz zu einer narzisstischen Objektwahl. Als auslösende Ursache wirkt ein realer oder auch nur durch Enttäuschungen, Kränkungen oder Zurückweisungen phantasierter Ob­jektverlust, der als traumatische „Wiederholung der primären Liebesenttäuschung“ erlebt wird. Auf diesen Objektverlust reagiert der zur Melancholie prädisponierte mit einer „Welle des Hasses“ (Abraham, 1924), die abgewehrt werden muss, weil das Objekt geliebt und gerade aufgrund des Ambivalenz­konfliktes als unverzichtbar erlebt wird. Es kommt zu einer narzisstischen Identifikation mit dem Objekt, die es ermög­licht, dass das Objekt trotz des bestehenden Konfliktes nicht aufgegeben werden muss. Auf diese Weise erschloss sich Freud das „Rätsel der Selbstmordneigung“: „Wir wußten zwar längst, daß kein Neurotiker Selbstmordabsichten verspürt, der solche nicht von einem Mordimpuls gegen andere auf sich zurückwendet, aber es blieb unverständlich, durch welches Kräftespiel eine solche Absicht sich zur Tat durchsetzen kann. Nun lehrt uns die Analyse der Melan­cholie, daß das Ich sich nur dann töten kann, wenn es durch die Rückkehr der Objektbe­setzung sich selbst wie ein Objekt behandeln kann, wenn es die Feindseligkeit gegen sich richten darf, die einem Objekt gilt, und die die ursprüngliche Reaktion des Ichs gegen die Objekte der Außenwelt vertritt“ (Freud, 1917e, S. 438f.).

Und ferner, so formuliert Freud (1917e), erlangt das Objekt im Selbstmord, obwohl es durch die narzisstische Identifikation aufgehoben wurde, letztlich seine Macht über das Ich zurück: „In den zwei entgegengesetzten Situationen der äußersten Verliebtheit und des Selbstmordes wird das Ich, wenn auch auf gänzlich verschiedenen Wegen, vom Objekt überwältigt“ (S. 439; vgl. auch Gerisch 1998, 2003).

Zur Todestriebtheorie der Suizidalität

Nach Einführung des ersten psychodynamischen Entwurfs zum Selbstmordproblem durch Freud (1917e) und Abraham (1912, 1924) waren die Bedeutung der Aggression und Aggressionsumkehr als zentrale Bedingungen der suizidalen Handlung auch innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft unumstritten. Als Freud vier Jahre später in seiner Arbeit „Jenseits des Lustprinzips“ (1920g) die Todestriebhypothese (vgl. auch Freud, 1923b, 1924c, 1940a) entwickelte und die ursprüngliche Selbstmordthese dort zu integrieren bemüht war, spaltete sich die psychoanalytische Gesellschaft in Anhänger und Gegner der Todestriebtheorie.

Mit Einführung des Todestriebs begründete Freud seine zweite dualistische Triebtheorie, indem er die Ich- und Sexualtriebe im Lebenstrieb („Eros“) zusammenfasste und ihnen den Todestrieb („Thanatos“) gegenüberstellte. Das Ziel des Todestriebs ist sein Streben nach vollständiger Aufhebung von Spannung und die Rückführung des Lebewesens in einen anorganischen Zustand. Freud (1940a) ging davon aus, dass der Todestrieb in jedem Menschen biologisch verankert ist und sich von Anbeginn mit den Lebenstrieben im Kampf befindet. Während im Mord eine aktive Ausprägung des Todestriebs gesehen wird, ist der Suizid dessen passive und extremste Manifestation, verursacht durch eine regressive Entmischung libidinöser und aggressiv-destruktiver Energien. In der Melancholie, so Freud (1923b), werde das „Über-Ich zu einer Art Sammelstätte der Todestriebe“ und so „gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben (S. 283). In „Das ökonomische Problem des Masochismus“ griff Freud (1924c) die den Suizid begünstigende Triebentmischung noch einmal auf, indem er die Rückwendung des Sadismus gegen die eigene Person als Folge der kulturellen Triebunterdrückung erklärte. Aus diesem Grunde, so folgerte Freud, kann auch die Selbstzerstörung nicht ohne libidinöse Befriedigung erfolgen, weil sich im gegen das Selbst gewendeten Sadismus neben der Destruktionsneigung immer auch eine erotische Komponente befindet (S. 382f.).

III. „Brother Animal“: Anmerkungen zum Suizid von Viktor Tausk

Viktor Tausk ist manchen vielleicht noch als glühender Anhänger Freuds in den Anfängen der Psychoanalyse, mehr noch aber als Geliebter von Lou Andreas-Salomé in Erinnerung, sein tragisches Ende hingegen ist den meisten indes unbekannt. Vielleicht will man sich schlicht dieser unglücklichen Geschichte nicht erinnern, rührt sie doch allzu sehr an ein unrühmliches Kapitel in Freuds Leben und seinen ihn umgebenden Kreis; obgleich uns die vielen heftigen Konflikte und Beziehungsabbrüche zu einst verehrten Kollegen und Freunden durchaus bekannt sind. Vergessen oder, vielleicht besser gesagt, verdrängt vermutlich auch deshalb, weil der Suizid Viktor Tausks sich sehr zeitnah zu einem heftigen Streit mit Freud ereignete.

Wir verdanken es Paul Roazen (1969, 1976) und seinen Arbeiten, Licht ins Dunkel dieser traurigen Lebensgeschichte gebracht und die Strategien der Verleugnung transparent gemacht zu haben. So gelingen uns, bei aller Vorsicht und Skepsis, die man auch bei historisch verifizierten Zeugnissen und Berichten immer haben sollte, auf diese Weise Einblicke in die Quellen der Tabuisierung, die den Suizid immer schon umgeben, erzeugt er doch wie kaum ein anderes zwischenmenschliches Ereignis Schuld, Scham, Verantwortung, Ohnmacht und Abwehr – gerade in den Hinterbliebenen (vgl. auch Kettner u. Gerisch 2004).

Aber zunächst zurück zu den Anfängen: Tausk wuchs in Kroatien, im ehemaligen Jugoslawien auf, mit einer unterwürfigen, liebevollen Mutter und einem tyrannischen Vater. 1897 ging Tausk zum Jurastudium nach Wien, heiratete seine Frau Martha, kehrte mit ihr nach Sarajewo zurück und bekam zwei Söhne, nachdem das erste Kind nach der Geburt verstorben war. Doch das Paar trennte sich, Martha ging nach Wien und Tausk nach Berlin. Dort setzte er sein Studium fort, arbeitete als Journalist und litt zunehmend unter seinen sich perpetuierenden, unglücklichen Liebesdramen, die stets im Desaster endeten und ihn immer depressiver werden ließen. Nach etlichen Zusammenbrüchen ging er schließlich nach Wien und wandte sich Hilfe suchend an Freud. Er konnte sich stabilisieren, studierte Medizin und wurde Psychiater, als der er sich dem Studium der Psychosen widmete. Als brillanter Denker wurde er zunächst offenherzig im Kreise Freuds aufgenommen. Mit Beginn der Liebesbeziehung zu Lou Andreas-Salomé entwickelte sich eine eigenartige Menage a trois, in deren Gefolge es zu einer unüberschaubaren Gemengelage von wechselseitig projizierten Gefühlen wie Eifersucht, Neid und Rivalität kam. Freud war fasziniert von Tausks Intellektualität, fürchtete aber auch, dass Tausk ihm noch unausgereifte Gedanken wegnehmen und voreilig zum Ende bringen könnte. Obwohl Tausk wusste, dass Freud sich in seiner Nähe zunehmend unbehaglicher fühlte, wollte er ihn doch als seinen Analytiker gewinnen. Freud lehnte erwartungsgemäß ab und schickte ihn Anfang 1919 zu Helene Deutsch, die ihrerseits zu jener Zeit von Freud sechsstündig in der Woche analysiert wurde. Für Tausks Persönlichkeitsstruktur schien es bezeichnend gewesen zu sein, dass er nicht nur die Menschen unbedingt für sich dauerhaft gewinnen wollte, die in unabhängiger Distanz blieben, wie Freud, oder wieder abrückten, wie Lou Andreas-Salomé, sondern dass er wie von einem unbewussten Zwang getrieben, Enttäuschungen und Kränkungen unablässig reinszenierte. Und die Freud-Tausk-Deutsch-Konstellation war – wie die vorangegangene mit Freud und Lou – eine solche Reinszenierung mit desaströsem Ende: Deutsch sprach in ihrer Analyse bei Freud ausschließlich von Tausk und Tausk in seiner Analyse bei Deutsch ausschließlich von Freud, so dass Freud dieser inzestuösen Verstrickung nach nur drei Monaten, gegen Ende März 1919, ein radikales Ende setzte. Er stellte Deutsch vor die Wahl: Entweder sie beendete die Analyse von Tausk oder er die ihrige bei ihm. Erwartungsgemäß gehorchte Deutsch und brach die Analyse von Tausk unverzüglich ab. Bei allem eigenen Zutun muss dieses Fallengelassenwerden von zwei bedeutenden Menschen sich in Tausk katastrophisch angefühlt und ausgewirkt haben. So erklärt sich dann vielleicht auch seine überstürzte Liebeswahl im Sinne der Suche nach einem Ersatzobjekt, die auf Hilde Loewi fiel, eine sechzehn Jahre jüngere Konzertpianistin und, dies war das eigentliche Pikante, eine ehemalige Patientin von Tausk. Doch etwas in Tausk muss geahnt haben, wie sehr sein verzweifelter Versuch, sein Leben zu ordnen, doch nur wieder ein unbewusstes Agieren innerer Konflikte war. So schaffte er es nicht, das Aufgebot zu bestellen. Vielmehr beschloss Tausk, in den frühen Morgenstunden des 3.7.1919, sich das Leben zu nehmen: „Er band sich eine Vorhangschnur um den Hals, setzte seine Armeepistole an die rechte Schläfe und drückte ab. Die Kugel riß ein Stück aus seinem Kopf, und im Fallen erhängte er sich“ (Roazen1976, S. 317).

Die unterschiedlichen Reaktionen im Kreise Freuds und in Freud selbst nehmen sich geradezu paradigmatisch für derlei Nachbeben eines suizidalen Aktes aus, in dem implizit oder explizit die Schuldfrage verhandelt und mit dem Verweis auf die Pathologie des Betroffenen zugleich abzuwehren versucht wird. Freud schrieb zwar ein rühmendes Gedenkwort für Tausk, gestand aber in einem Brief an Lou, dass er ihm nicht eigentlich fehle: „Ich hielt ihn seit langem für unbrauchbar, ja für eine Zukunftsbedrohung“ (ebd.). Und er fügte knapp und präzise seine ätiopathogenetischen Überlegungen an: „…wahrscheinlich eine psychische Impotenz und (ein) letzter Akt seines infantilen Kampfes mit dem Vatergespenst“ (zit. nach Gay 1989, S. 440). Lou war einerseits entsetzt über Freuds Kälte, stimmte ihm aber andererseits in seiner Einschätzung über Tausks fragil-neurotischen Charakter zu. Paul Federn hingegen sah Tausks Suizid ausschließlich in der Abwendung Freuds begründet: „Wie auch andere Angehörige dieser winzigen Subkultur, glaubte Federn ohne weiteres, dass es zur Selbstvernichtung eines Menschen führen konnte, wenn Freud ihn fallen ließ. Der Ausschluß aus der revolutionären Gemeinschaft war eine schlimmere Vernichtung als jeder physische Tod“ (ebd. S. 318).

In dieser Gemeinschaft aber wurde Tausks Suizid fortan totgeschwiegen. Bestürzend an dieser Geschichte ist nicht allein Freuds unrühmliches Verhalten, ebenso wenig soll es hier um die müßige Debatte der Schuldfrage gehen. Traurig und nachdenklich stimmt, dass Freud nur zwei Jahre zuvor die erste, ätiopathogenetisch vollständige psychoanalytische Suizidtheorie entwickelt hatte, mit der eine simplifizierende Auslöser-Ursache-Gleichsetzung endgültig aufgehoben wurde. Seither fokussieren wir bei der Suizidalität auf die unbewusste Verflechtung von äußerem Anlass und lebensgeschichtlich geprägter, zumeist unbewusster Konfliktthematik. Und in all seinen Facetten ließe sich dieses Verstehens- und Erklärungskonzept am Falle Tausks exemplifizieren. Freud war nicht Schuld am Suizid von Tausk, seine Abwendung mag der Auslöser gewesen sein, wie auch Tausks Einsicht, zu echten, tragfähigen Liebesbeziehungen nicht fähig gewesen zu sein. Aber dieser Auslöser fiel auf ein fragiles inneres Gefüge von brillanter Intelligenz einerseits und emotionaler Instabilität andererseits, die ihre Wurzeln vermutlich in seinen frühen, intrapsychisch transformierten (elterlichen) Beziehungserfahrungen hatte. Dass Tausk seine unbewussten Konflikte – u.a. seine traumatische Fixierung an einen unerreichbaren Vater – auch mit Freud wiederholte, lässt ebenso wenig Freuds Schuld erkennen. Wohl aber wäre es sicher konstruktiver gewesen, wenn Freud und seine Kollegen an seiner Bereitschaft zu unbewussten destruktiven Reinszenierungen nicht noch mitgewirkt hätten, sondern ihm die Hilfe hätten zuteil werden lassen können, die wir unseren Patienten heute, gerade mittels freudscher Konzeptualisierungen, anzubieten in der Lage sind.

IV. Freuds Tod: „In Freiheit sterben“

Am 5.6.1938 übersteht Freud die Flucht vor den Nazis nach London, in die er zum Schutze seiner Familie schließlich eingewilligt hatte, und „um in Freiheit sterben zu können“. Bereits Ende August 1939, es war gerade zum ersten Fliegeralarm in Maresfield Garden gekommen, fühlt Freud, dass sein Ende nahte; er liegt überwiegend, versinkt immer wieder in Dämmerschlaf und liest sein letztes Buch von Balzac über die magisch schrumpfende Haut, „Le Peau de chagrin“. Am 21. September 1939 erinnert Freud seinen Arzt Dr. Schur, dass er ihm helfen sollte, wenn es so weit wäre. „Das ist jetzt nur noch Quälerei und hat keinen Sinn mehr. Besprechen sie es mit der Anna, und wenn sie es für richtig hält machen sie ein Ende.“ (Gay 1989, S. 732). Nur zögerlich stimmt Anna Freud einer Injektion von 30mg Morphium zu, die am Tage darauf noch zweimal wiederholt wird. Freud erwacht nicht mehr. Er stirbt am 23. September 1939 um 3 Uhr früh. Anna, die nicht von seiner Seite weicht, hüllt sich in den Mantel ihres Vaters ein.

„Bereist vier Jahrzehnte zuvor“, so berichtet Peter Gay, „hatte Freud Oskar Pfister geschrieben und sich gefragt, was man eines Tages tun würde, wenn ‚die Gedanken versagen oder die Worte sich nicht einstellen wollen? Man wird ein Zittern vor dieser Möglichkeit nicht los. Darum habe ich bei aller Ergebung in das Schicksal, die einem ehrlichen Menschen geziemt, doch eine heimliche Bitte, nur kein Siechtum, keine Lähmung der Leistungsfähigkeit durch körperliches Elend. Im Harnisch laß uns sterben, wie König Macbeth sagt‘“ (Gay 1989, S. 733).

Literatur

Abraham K. (1912): Ansätze zur psychoanalytischen Erfahrung und Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und verwandter Zustände. Zbl Psychoanal 2: 302-311.

Abraham K (1924) Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido aufgrund der Psychoanalyse seelischer Störungen. In: Abraham K Gesammelte Schriften Bd II. Fischer, Frankfurt aM (1982), S 32-145

Gay, P. (1989): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Gerisch, B. (1998): Suizidalität bei Frauen. Mythos und Realität — Eine kritische Analyse. Tübingen: edition diskord.

Gerisch, B. (2003): Die suizidale Frau. Psychoanalytische Hypothesen zur Genese. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Federn P (1929a) Die Diskussion über „Selbstmord“, insbesondere „Schüler-Selbstmord“ im Wiener psychoanalytischen Verein im Jahre 1918. Z psychoanal Pädagogik 3: 333 -354

Freud S. (1896c): Zur Ätiologie der Hysterie. GW Bd 1, S. 423-459

Freud S. (1910g): Zur Selbstmord-Diskussion. In: Über den Selbstmord (Diskussionen des Wiener psychoanalytischen Vereins). GW Bd 8, S. 62-64.

Freud S. (1917e): Trauer und Melancholie. GW Bd 10, S 427-446.

Freud S. (1920g): Jenseits des Lustprinzips. GW Bd 13, S. 1-69.

Freud S. (1924c): das ökonomische Problem des Masochismus. GW Bd 13, S. 369-383.

Freud S (1940a) (1938) Abriß der Psychoanalyse. GW Bd.17, S. 63-138.

Kettner, M.; Gerisch, B. (2004): Zwischen Tabu und Verstehen: Psycho-philosophische Bemerkungen zum Suizid. In: Kappert, I.; Gerisch, B.; Fiedler, G. (Hrsg.): „Ein Denken, das zum Sterben führt“: Selbsttötung: Das Tabu und seine Brüche. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 38 -66.

Roazen, P. (1969): Brother Animal. The Story of Freud and Tausk. New York: Alfred A. Knopf.

Roazen, P. (1976): Sigmund Freud und sein Kreis. Eine biographische Geschichte der Psychoanalyse. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe.

Salber, L. (2006). Der dunkle Kontinent. Freud und die Frauen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.