Maschine versus Mensch

Paul A. Youngman über deutsche Literatur im IT-Zeitalter

Von Severin PerrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Severin Perrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Computer sind doof.“ Was sich unter diesem Slogan zu Beginn der 1970er-Jahre noch ernsthaft gesellschaftskritisch, etwa in Hans Magnus Enzensbergers „Kursbuch“, debattieren ließ, bevor es rund zehn Jahre später zum musikalisch blödelnden Refrain verkam, gibt heutzutage kaum noch Stoff für einen medienpolitischen Diskurs her. Als „blöd“ oder albern gelten stattdessen je nachdem die Computer- und Netzwerk-Benutzer, die Überwacher und Reglementierenden oder bisweilen gar die ins allzu Unverständliche abhebenden Medien-Theoretiker und -Kritiker. Das ist eine spannende Entwicklung im Diskurs um die Neuesten Medien.

Der amerikanische Germanist Paul A. Youngman von der North Carolina-Charlotte Universität und Direktor des „Center for Humanities, Technology, and Science“ geht nun diesen Diskursfragen um Computer und Internet speziell in der deutschen Gegenwartsliteratur nach. Was sein Buch mit dem an Pop-Songs gemahnenden Titel „We Are the Machine“ gleich vorweg auffallend macht, ist der unkonventionelle mutige Ansatz. Welcher Germanist ist schon in der Technikgeschichte bewandert und dehnt seinen Interpretations-Kanon von Günter Grass über Barbara Frischmuth und René Pollesch bis hin zu Daniel Glattauer aus?

Bereits in seiner 2005 erschienenen größeren Publikation „Black Devil and Iron Angel“ hat der 19. Jahrhundert-Spezialist Youngman auf bemerkenswerte Parallelen in der kulturellen Rezeption von Eisenbahn und Computer-Netzwerken als technologische Neuerungen hingewiesen. In „We Are the Machine“ geht er nun diesen informationstechnologischen Zusammenhängen im gegenwärtig beschleunigten „IT-Zeitalter“ anhand von ausgewählten Texten vertieft nach. Er nimmt dabei die Literatur überaus ernst, indem sie für ihn immer wieder entscheidende kulturelle Deutungsmuster schafft oder ausformt, mit denen wiederum wissenschaftliche Theorien und technische Neuerungen rezipiert werden können. Schriftstellern wird insofern eine höhere „seismografische“ Sensibilität in Bezug auf die sie umgebenden Gegenwartsphänomene und ihre zukünftige Entwicklung unterstellt.

Youngman wählt entsprechend literarische Texte zur Interpretation aus, die vor- und eindringlich von den IT-Veränderungen sprechen. Ausgehend von Heinrich Hausers „Gigant Hirn“ (1948) und Friedrich Dürrenmatts Gedicht „Elektronische Hirne“ (1958) lassen sich in der Dämonisierung künstlicher Intelligenz Rückschlüsse auf ein Technik-Verständnis ziehen, das, zwischen Überschätzung und Unverständnis hin und her gerissen, grundsätzlich um die humane Überlegenheit gegenüber der Maschine bangt. Die „Nacht der Händler“ (1995) von Gerd Heidenreich und „Die Schrift des Freundes“ (1998) von Barbara Frischmuth konkretisieren wiederum diese grundsätzliche Angst im Sinne von Cyberspace- und Überwachungs-Alpträumen.

In einem dritten Teil rücken Anwendungen des Computers wie beispielsweise das Internet stärker in den Vordergrund. Sei es als Manipulation wie in der Novelle „Im Krebsgang“ (2002) von Günter Grass, als die Realität gefährdende Virtualität wie „Im Reichsgericht“ (2001) von Erich Loest oder im Drama „world wide web-slums“ (2001) von René Pollesch. Und indem die Internet-Kommunikation von der simplen E-Mail und dem Chat zur komplexen sozialen Interaktion mutiert ist, wird auch die paradoxe Situation von Vernetzung und gleichzeitiger Vereinzelung zum spannenden Literaturthema wie Christine Eichel mit „Im Netz“ (2004) und Daniel Glattauer mit „Gut gegen Nordwind“ (2006) erfolgreich zeigen.

Diese Fülle von verschiedenartigen literarischen Auseinandersetzungen mit zentralen Themen der IT-Welt führt Youngman den Lesenden einfach und klar vor Augen und interpretiert dabei zugleich seine Ergebnisse adäquat wie umsichtig. Vielleicht eine Spur zu vorsichtig. Aber daran mag auch die heikle zugrundeliegende Hypothese Schuld sein, indem sie den Schriftstellern nicht nur einen hohen Wissens- oder Sensibilisierungsgrad in technischer Hinsicht zuschreibt, sondern diesen zugleich auch noch für eine derart globale Technik allzu national und historisierend fokussiert.

So wären zumindest weitergehende Untersuchungen wünschenswert, die dem Phänomen der globalen IT-Rezeption im literarischen Feld (wie stark beeinflusst darin speziell die amerikanische Literatur die deutsche?) ebenso Rechnung tragen wie den Auseinandersetzungen im Bereich der neuesten Aufschreibe-Systeme (Stichwort: Hyperfiction als literarische Form) und der Rezeptionsforschung (wie technizistisch liest etwa die Glattauer-Fan-Gemeinde ihren Kult-Autor?). Aber gerade diese vielfältigen Anregungen machen das Buch „We Are the Machine“ von Youngman zu einer vielversprechenden Diskussionsbasis, die weit über das Verdienst einer originellen deutschen Literaturvermittlung in Amerika hinausgeht. Selbst dann, wenn einige altbackene Germanisten noch meinen sollten: „Computer-Diskurse sind doof.“

Titelbild

Paul A. Youngman: We Are the Machine. The Computer, the Internet, and Information in Contemporary German Literature.
Camden House, Rochester/New York 2009.
171 Seiten, 53,99 EUR.
ISBN-13: 9781571133922

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