Raus aus dem Käfig ist das Ziel

Siegfried Lenz’ Erzählung „Landesbühne“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Lenz ist einer der letzten großen Geschichtenerzähler, ein stilsicherer Traditionalist, ein schriftstellerisches Urgestein, das ganz der Kraft des Erzählens vertraut und so zum Meister der „kleinen Tragödien“ avancierte. Mit „Deutschstunde“, „Heimatmuseum“ und seinen besten Erzählungen hat er sich einen Ehrenplatz in der ersten Reihe der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gesichert. Im letzten Jahr hat Lenz mit der anrührenden Novelle „Schweigeminute“ noch einmal ein vor Vitalität strotzendes Meisterwerk vorgelegt.

Umso größer ist nun die Enttäuschung nach der Lektüre des schmalen Bändchens „Landesbühne“, das ohne Genrebezeichnung erschienen ist und erst mittels eines luftigen Layouts und einer großen Drucktype auf Buchformat gestreckt wurde. Im Mittelpunkt dieser Erzählung stehen die beiden Gefängnisinsassen Clemens und Hannes. Während einer Theateraufführung der Landesbühne gelingt den beiden (gemeinsam mit einem Dutzend Mithäftlingen) die Flucht – ausgerechnet mit dem Bus der Theatertruppe passieren sie unbehelligt die Gefängnisschranken.

Es sind keine Schwerverbrecher, die uns der 83-jährige Siegfried Lenz fortan nahe bringt. Kleine naive Betrüger, Menschen mit Herz und Verstand wie der Ich-Erzähler Clemens, ein Universitätsprofessor, der einigen Studentinnen, nachdem sie das Bett miteinander geteilt hatten, durchs Examen geholfen hat und anschließend für vier Jahre ins Gefängnis musste. Clemens’ Zellennachbar Hannes hat sich dabei erwischen lassen, wie er mit einer Polizeikelle ausgerüstet auf Ausfallstraßen Bußgelder kassiert hat; dann ist da noch der korrupte Fußballschiedsrichter Mumpert oder der Heiratsschwindler Bolzahn, der am Ende der Erzählung ein tragisches Ende findet.

Gemeinsam sitzen sie im Bus und träumen von der Freiheit: „Raus aus dem Käfig ist das Ziel“. Richtig kurios wird es, als die Ausbrecher mit dem Bus der Landesbühne mitten in das festliche Treiben der fiktiven norddeutschen Kleinstadt Grünau geraten und dort als prominente Ehrengäste von den überaus einfältig gezeichneten Stadtvätern begrüßt werden. Der Bürgermeister verkündet prompt, dass er bestrebt sei, die kulturellen Aktivitäten zu forcieren. In dem bunten Feier-Reigen findet man als Leser keinerlei Maß mehr für einen zeitlichen Rahmen. Wie lange halten sich Hannes, Clemens und ihre Fluchtgenossen unerkannt (und gefeiert als eine Art kulturelle Botschafter) in Grünau auf? Hannes will ein Museum aufbauen, Clemens hält Vorträge über den „Sturm-und-Drang“, und jede Menge Volkslieder werden auch noch intoniert.

Irgendwann ist der Spuk vorbei, die Sträflinge kehren ins Gefängnis zurück, und Hannes lernt bei einem erneuten Besuch der Landesbühne in der Haftanstalt Samuel Becketts „Warten auf Godot“ schätzen. Das klingt allzu stark nach rührseligem Lehrstück. Die Dauerwartenden Wladimir und Estragon als geistige Verwandte der Strafgefangenen? Einen weiteren Ausbruchversuch (es wäre wohl sein vierter gewesen) lehnt Hannes ab: „Die Traurigen müssen zusammenbleiben, sie sind füreinander bestimmt.“ Hannes will den Professor nicht allein zurücklassen. Not schweißt zusammen und lässt eine echte Männerfreundschaft entstehen. Als tragendes Motiv ist dies selbst für eine relativ schmale Erzählung ziemlich dürftig. Nach der Lektüre legt man das schmale Bändchen ziemlich teilnahmslos beiseite. Die blutleeren Figuren konnten keinerlei Emotionen wecken, die Handlung mit dem aufgesetzten Freiheitshabitus huscht vorbei, ohne Wirkung zu hinterlassen, und Siegfried Lenz’ bekannter und gerühmter Erzählstrom ist nur noch ein tröpfelndes Bächlein. Schade, denn wir wissen, dass dieser verdienstvolle Autor immer noch erheblich mehr kann.

Titelbild

Siegfried Lenz: Landesbühne.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009.
120 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783455042825

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