Die Zeit der Apologetik ist vorbei

Zu Michael Fleischers Neuauflage seiner Studie über „Theodor Fontane und die ,Judenfrage‘“

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr von Theodor Fontanes 100. Todestag erschien zum ersten Mal Michael Fleischers Buch über Fontane und die ‚Judenfrage‘, damals unter dem Zitat-Titel: „Kommen Sie, Cohn.“ Jetzt ist es, nach Jahren des Vergriffenseins, dankenswerterweise neu herausgekommen. Damals hatte ich das Buch im „Kölner Stadt-Anzeiger“ gerade positiv besprochen, da geschah etwas Merkwürdiges: Einem Abdruck dieser Besprechung im „Kölner Universitäts-Journal“ fügte dessen Herausgeber, der Rektor meiner Hochschule, eine sich zurechtrückend gebende zurechtweisende Bemerkung hinzu. Wie andere Leser jenes Heftes wunderte auch ich mich nicht schlecht: Da trat ein Wissenschaftler, dessen bisheriges Fachgebiet das Erbschaftssteuerrecht war, in die Germanistik hinein und missbrauchte seine Ämter als Rektor und Herausgeber, indem er ihnen noch das an der Kölner Universität nicht mehr vorgesehene eines Zensors hinzufügte. Ebenso aber wunderte ich mich darüber, dass diese Zurechtweisung mit genau dem Vorurteil begründet wurde, dessen Ausräumung das jetzt neu publizierte, von mir damals nachdrücklich zur Lektüre empfohlene Buch gerade betreibt: Hatte seine Ämterlast den Kollegen aus der Juristerei vergessen lassen, dass man nicht nur in der Germanistik, sondern in jeder Wissenschaft, auch in der seinen, einen Forschungsbeitrag, über den man spricht und womöglich urteilt, zuerst liest? Oder gedachte er vielleicht, das Kulturerbe des Werks Fontanes und die deutsche Erblast des Antisemitismus mit Hilfe des Erbrechts zu erhellen? War er sich dessen nicht bewusst, dass er damit nur das alte, aber wenig ehrwürdige Erbe der Kölner virorum obscurorum antrat?

Wie dem auch sei, jenes rektoral abgesonderte Ressentiment: ‚unser‘ Fontane könne einfach kein Antisemit gewesen sein, war vor einem Jahrzehnt noch so weit verbreitet, auch und gerade unter Fontane-Kennern, dass Fleischers Buch zur aufregendsten Publikation des Fontanejahrs 1998 werden musste. Fleischer, der Germanistik in Göttingen bei Kurt Schreinert studiert hatte, dem Herausgeber der Nymphenburger Fontane-Ausgabe, hat sich in diesem Buch eines bis dahin arg vernachlässigten, ja gezielt verdrängten Themas in Fontanes Leben und Werk, in dessen Rezeption und Erforschung angenommen: des Themas ‚Juden und Antisemitismus‘. Das Buch informiert umfassend und verlässlich, detailliert und anschaulich über alle Aspekte von Theodor Fontanes Verhältnis zu Juden – von „Juden im Kurort“ bis zu „Adel und Judentum“, von jüdischen Bekannten und Freunden bis zu jüdischen Figuren in den Romanen. Für jeden Leser, der ebenso wie die Diskontinuitäten auch die Kontinuitäten zwischen traditionellem und modernem Antisemitismus im Blick hat, ist der Schluss von Fleischers auch sonst hervorragend geschriebenem Buch erschütternd: Er teilt mit, wo das Leben von Hans Sternheim geendet hat, Fontanes Patensohn, den er besonders gern hatte: in Auschwitz.

Ihre Brisanz hat Fleischers literaturwissenschaftliche Monografie bis heute darin, dass sie unbestechlich objektiv und durch ihren Materialreichtum unwiderleglich Fontanes Antisemitismus nachweist. Ihn hatte die Forschung bis dahin, von wenigen Ausnahmen abgesehen, viele Jahrzehnte lang, mit der jeweils allgemein herrschenden Geschichtspolitik konform, verleugnet oder verharmlost. Mit und nach seinem Erscheinen hat sich das grundlegend geändert: Auch wenn eine gewisse Verdrängungstendenz weiterhin zu beobachten ist, bedauerlicherweise gerade bei einigen namhaften Fontaneforschern, wird von anderen das brisante Thema in Kongressbänden und Handbüchern, Einzelstudien und Periodika nicht mehr umgangen, sondern produktiv aufgegriffen. Genannt seien nur: Bernd Balzer, Wolfgang Benz, Hans-Peter Fischer, Peter Goldammer, Günter Häntzschel, Hans Otto Horch, Fotis Jannidis/Gerhard Lauer, Ruth Klüger, Florian Krobb, Michael Schmidt.

Es bedarf noch beträchtlicher philologischer Anstrengungen, bis alle Probleme, die Fleischers Durchblick durch das Thema aufgeworfen hat, abgearbeitet sein werden. Das gilt besonders für die vielfältigen und manchmal auch vieldeutigen Brechungen, mit denen Fontanes Antisemitismus in sein literarisches Werk Eingang gefunden hat. Das ist in verschiedenen Formen zu beobachten: bald in Form einer gezielt antisemitischen Auswahl der Serie jüdischer Nebenfiguren wie im „Stechlin“; bald in Gestalt stereotyp karikierender Zeichnung solcher Figuren wie in „Mathilde Möhring“; bald durch Zuschreibung anti-antisemitischer Äußerungen an eine unsympathische Figur wie Superintendent Koseleger anstatt an den sympathischen Pastor Lorenzen; bald – ähnlich wie in Fontanes Briefen – in Form von mehr oder weniger versteckten Anspielungen und Sticheleien. Eines aber ist jetzt schon klar: Jede Fortsetzung fontanefrommer Apologetik ist mit intellektueller Redlichkeit unvereinbar.

Zwar waren spätestens seit Thomas Manns bekanntem Essay von 1910 über den alten Fontane Briefäußerungen bekannt, in denen dieser seinen Antisemitismus – ganz wie sein Junker Dubslav – hinter Philosemitismus notdürftig versteckt: Er liebe die Juden eigentlich, aber regiert sein wolle er von ihnen nicht – ein Ausspruch, den Uwe Johnson in seinen „Jahrestagen“ ebenso entlarvend wie passend einem deutschnationalen Pfarrer in den Mund gelegt hat. Aber die wüstesten antisemitischen Ausfälle Fontanes blieben lange Zeit ungedruckt, etwa das folgende Gedicht von 1895: „Die Meyerheims – man verstehe mich recht –, / Die Meyerheims sind ein Weltgeschlecht, / Sie sitzen im Süden, sie sitzen im Norden, / Ums Goldne Kalb sie tanzen und morden, / Name, gleichgültig, ist Rauch und Schall! / Wohl, wohl, der ,Meyerheim‘ sitzt überall.“ Oder der Brief an Friedrich Paulsen aus Fontanes letztem Lebensjahr: Darin heißt es, überall stören die Juden, alles „vermanschen“ sie, ein „schreckliches Volk“, dem „von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann“. Gedruckt wurde das bezeichnenderweise zuerst im „Dritten Reich“.

Wenn wir, wie heute in der Forschung üblich, unter Antisemitismus jede Art von negativer Vorurteilsbildung gegen Juden als Gruppe verstehen, also nicht nur die, welche die Nazis und ihre rassistischen Eideshelfer verblendete, dann war Fontane ohne jeden Zweifel Antisemit. Die Palette seiner judenfeindlichen Äußerungen reicht von einem weit verbreiteten ‚Alltagsantisemitismus‘ über konservativ-antikapitalistische Kulturkritik bis zu rassistischen Ideologemen. Ihren politischen Kern bildet vermutlich die Krise des bürgerlichen Liberalismus, an welcher der Bürger und Liberale Fontane zutiefst teilhatte, ihren psychologischen Kern Erfahrung von Mangel an sozialer Anerkennung und Angst vor sozialem Abstieg, ihren ästhetischen und ethischen Kern der etwas flackernde Leitstern des „Schön-Menschlichen“, von dem er manche Juden, namentlich Neureiche aus Osteuropa, besonders weit entfernt sah. Natürlich ist Fontanes Ressentiment gegen Juden nicht mit dem mörderischen Antisemitismus des SS-Staates in einen Topf zu werfen. Schon gegenüber dem „Radau-Antisemitismus“ im Kaiserreich hielt er, ganz wie auch andere bürgerliche, gebildete Judenfeinde wie Heinrich von Treitschke oder Victor Hehn, Distanz. Aber gerade sie waren es, die den Antisemitismus auch nach dem Niedergang der antisemitischen Parteien verhängnisvoll dauerhaft salonfähig machten.

Zu ihnen müsste man auch Fontane zählen, hätte er seinen Antisemitismus öffentlich geäußert. Das aber hat er, ein Antisemit mit schlechtem Gewissen, wohlbedacht nicht getan. Insbesondere sein Romanwerk ist zwar keineswegs, wie manche, die es besser wissen könnten, immer noch behaupten, ganz frei, aber doch bemerkenswert arm an Stellen, die man einer antisemitischen Autorintention sicher zuschreiben kann. Desto weniger darf man diese Stellen wie bisher ignorieren. Man muss sie sorgfältig abtasten und den – wie auch immer kritischen – Befund dann in ein ausgewogenes Urteil über Fontanes Erzählleistung im Ganzen integrieren. Was seine Romankunst der Vielstimmigkeit bis heute so bewundernswert und gegenwärtig macht, ist, dass sie über Positionen, die der Autor bezogen hat, und über Grenzen, die ihm gezogen waren, objektiv hinauszuweisen vermag. Ob und inwiefern das auch über seine erzählerischen Darstellungen von Juden und Antisemitismus gesagt werden kann, bedarf behutsamer Abwägungskunst und genauer literarischer Hermeneutik.

Diese sollte sich an einigen Maximen orientieren, die in bisheriger Forschung zu diesem heiklen Thema oft missachtet worden sind. 1. Fontaneforscher müssen von der bequemen Gewohnheit Abschied nehmen, anstatt die Antisemitismusforschung zu befragen, sich selbst zurechtzumachen, was sie als antisemitisch verstehen wollen, um Fontane dann womöglich davon auszunehmen.

2. Sie müssen aufhören mit dem Gebrauch verwischender Formeln wie „kollektive Verblendung“ oder „Stimmung einer Zeit“, der er sich nicht habe entziehen können: Solche Formeln werden dem Individuum Fontane, einem sehr bewussten und kritischen Zeitgenossen, nicht gerecht.

3. Fontanes Antisemitismus sollte nicht mehr auf seine Neigung zu ,völkerpsychologischen‘ Verallgemeinerungen, mit der er gewiss auch zusammenhängt, reduziert werden, wobei dann rassistische Elemente seines Denkens leicht verharmlost werden.

4. Ebenso sollte aufgehört werden mit der apologetischen Reduktion von Fontanes Antisemitismus auf seine Bourgeoisiekritik oder seinen ,Antimaterialismus‘, auch wenn er, ebenso wie andere Antisemiten vor und nach ihm, Juden oft metonymisch für allgemeinere gesellschaftliche Entwicklungen genommen hat.

5. ,Judenfreundliche‘ Äußerungen Fontanes sollten nicht mehr, wie von jenem Kölner Juristen, als ,Gegenbeweis‘ gegen die Antisemitismus-Diagnose angeführt werden, da er selbst sie oft genug, genau umgekehrt, nicht zur Abmilderung, vielmehr zur Bekräftigung seines Antisemitismus getan hat.

6. Damit verbietet es sich auch, tatsächliche oder scheinbare Widersprüche in seinen Äußerungen über Juden apologetisch unter den Begriff der „Ambivalenz“ zu bringen, denn solche Widersprüche entsprangen bei ihm einem inneren Konflikt zwischen oft positiven persönlichen Erfahrungen mit Juden und einer antisemitischen Grundposition, die indessen, bei aller Ambivalenz, bestehen blieb. Philosemitische Anfechtungen konnten Fontanes antisemitischen Glauben letztlich nicht erschüttern.

7. Um die Textstellen über Juden bei Fontane angemessen auszuleuchten, muss man sie nicht nur – eine hermeneutische Binsenwahrheit – sorgfältig aus ihrem Kontext heraus verstehen, sondern auch auf diskursiven Feldern positionieren, die Texte und Kontexte übergreifen und einander überschneiden. Nur so kann man Textelemente als Diskurselemente oder sogar als gezielte Diskurszitate des Autors erfassen. Nur so ließe sich etwa klären, ob im „Stechlin“ die Abgrenzung Pastor Lorenzens gegenüber Stoecker, wie man bisher ziemlich blauäugig annimmt, wirklich auch dessen Antisemitismus gilt; oder ob sich die vermutliche antisemitische Ladung des Gedichts „Veränderungen in der Mark“ nicht aus Positionsnahmen Fontanes auf den diskursiven Überschneidungsfeldern von Rassenideologie, Germanenverklärung und Antisemitismus erschließen und nachweisen ließe.

Als eine letzte Maxime sei hinzufügt: Fontane-Lektüren und Fontane-Studien sollten nicht mehr hinter den Erkenntnisstand zurückfallen, den Fleischer mit seinem Buch erreicht hat. Das ist nun dankenswerter Weise wieder zugänglich. Viele aufmerksame und nachdenkliche Leser sind ihm zu wünschen. Es hat sie philologisch redlich verdient.

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Michael Fleischer: Fontane und die "Judenfrage".
vbb Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2009.
392 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783866501751

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