Fabeln vom eigentlichen Leben

Der Erzählband „Der Schrank“ ist eine Art „Best of Tokarczuk“

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die polnische Autorin Olga Tokarczuk verglich einmal ihre Bücher mit MTV-Videoclips. Diese Analogie trifft besonders auf den vorliegenden Erzählband „Der Schrank“ zu: Die Geschichten sind in sich geschlossen, sehr dicht und kurz, damit gar nicht erst ein Moment des Abschweifens auftreten kann. Die Erzählungen konstruieren sehr anschaulich einfallsreiche Bilder von gewöhnlichen Situationen, die – feinnervig dargestellt – in irgendwie Wesentliches oder Ungewöhnliches umschlagen:

In der Titelgeschichte „Der Schrank“ übt ein solcher eine geheimnisvolle Anziehung auf ein Pärchen aus, so dass die beiden ihr Leben nur noch innerhalb dieser Holzwände als wahr und eigentlich erleben können: „Drinnen spielte es keine Rolle, welche Tageszeit, welche Jahreszeit, welches Jahr es war. Es war immer samten. Ich ernährte mich von meinem eigenen Atem.“

In der zweiten Erzählung erschafft ein Mann mit einem Computerprogramm eine neue Welt. „Gleich zu Anfang musste er die Neigung zu Zerfall und Verderben ausschalten. In diesem Spiel würde man die Welt von Anfang an erschaffen können, noch einmal, fehlerfrei.“ Aber seine Bemühungen, diesen virtuellen Kosmos perfekt oder zumindest besser als die Realität zu gestalten, schlagen mit jedem Versuch fehl, so dass er resignierend zum Aufgeben seines Traums gezwungen wird.

Ein Zimmermädchen wird beim Reinigen der Hotelzimmer in die jeweilige Geschichte der Gäste oder des Raumes gezogen: „Ich fühle mich wie eine Krankenschwester, und das gefällt mir sogar. Ich verbinde das von nächtlicher Schlaflosigkeit verletzte Bett, wasche die Saftwunden von der Tischplatte, entferne die Flaschen aus dem Körper des Zimmers, als zöge ich Dornen heraus.“

Diese drei Geschichten bilden die polnische Originalfassung des Erzählbands. Die deutsche Ausgabe wurde um vier Geschichten erweitert, drei davon sind dem Roman „Taghaus, Nachthaus“ entnommen:

Einer Frau erscheint im Traum ihre große Liebe. Und Träume „irren sich nie, nur die Wirklichkeit wird nicht der Ordnung der Träume gerecht.“ Als sie aufwacht, sucht sie im Telefonbuch den erträumten Namen heraus und begibt sich auf die Suche nach einem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Dann findet sie ihn. Und findet ihn doch nicht.

Ein Deutscher will noch einmal seine Heimat in Polen sehen und stirbt friedlich genau auf der Grenze: „Ein Bein hatte er in Tschechien, das andere in Polen. So saß er vielleicht eine Stunde lang und starb, Sekunde um Sekunde. […] Er wusste nicht, wann er starb, denn es geschah nicht auf einmal, sondern nach und nach brach alles in ihm auseinander.“

Ein Mann ist im Krieg gezwungen, Menschenfleisch zu essen. Er überlebt und findet Jahre später einen Satz von Platon, der allen, die von „menschlichen Innereien gekostet“ haben, das Mensch-Sein abspricht. So verwandelt sich der Mann in einen Werwolf.

Die vierte zusätzliche Geschichte schließlich handelt von einem kleinen Laden kurz vor Weihnachten, von Sauermehlsuppe und der Suche nach einem Vater für ein uneheliches Kind.

Im Ganzen kann das Buch getrost als ein „Best of“ bezeichnet werden. Denn zum einen fehlt den Geschichten zwar im Hinblick auf die bereits in Deutschland erschienenen Romane Tokarczuks der unterschwellige Zusammenhang, der nötig gewesen wäre, um das Buch als eine Einheit zu verstehen. Die Reihenfolge der Erzählungen ist beliebig. Zum anderen jedoch sind es tatsächlich kleine Perlen, die hier zusammengewürfelt worden sind. Daher eignet sich dieser Erzählband sowohl für den Einstieg in die Welt von Tokarczuks Büchern als auch zum Vorlesen einzelner Fabeln an dunklen und kalten Nächten, die uns im Winter bevorstehen.

Titelbild

Olga Tokarczuk: Der Schrank. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000.
120 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3421053812
ISBN-13: 9783421053817

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