Benjamin trifft Papenfuß

Das von Michael Opitz und Michael Hofmann herausgegebene „Metzler Lexikon DDR-Literatur“ verführt zu ungeplanten Wissenserweiterungen

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwanzig Jahre nach der Öffnung der deutsch-deutschen Mauer wird man von einem Lexikon, das die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik in den Blick nimmt, zweierlei erwarten dürfen: Erstens sollten darin als Beiträger nicht ausschließlich ost- oder nur westdeutsche Wissenschaftler, nicht nur Zeitzeugen, aber auch nicht allein ‚Nachgeborene‘ zu Wort kommen – und zweitens sollten in einem solchen Nachschlagewerk die großen Kontroversen, die bis heute die öffentliche Wahrnehmung der Literatur und des Literaturbetriebs der DDR bestimmen, nicht verschwiegen oder einseitig dargestellt werden. Das jüngst von Michael Hofmann und Michael Opitz unter Mitarbeit von namhaften Forschern und Nachwuchswissenschaftlern aus Ost und West herausgegebene „Metzler Lexikon DDR-Literatur“ erfüllt beide Erwartungen erfreulicherweise in vollem Umfang.

Zentrale Streitpunkte im Umgang mit dem Phänomen ,DDR-Literatur‘ sprechen die beiden Herausgeber bereits im Vorwort an, das dem „vielstimmige[n] Chor“ der Beiträge vorangestellt ist. Schon die Eingrenzung des Textkorpus, das zur DDR-Literatur gezählt werden soll, kann, wie Hofmann und Opitz betonen, kontroverse Diskussionen anregen: Schließlich lassen sich ebenso gute Gründe für wie auch gegen die Entscheidung anführen, Texte, die erst nach 1989/90 oder nur im Westen erschienen sind, oder Werke von ausgebürgerten oder ausgewanderten ‚Ost-Schriftstellern‘ der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik zuzurechnen. In der Praxis, das heißt in der Auswahl der Lemmata, haben sich die Herausgeber für eine möglichst weite Auslegung des Begriffs ,DDR-Literatur‘ entschieden und beispielsweise einen Eintrag zu Leben und Werk von Julia Franck in das Lexikon aufgenommen, welche die DDR lange vor Beginn ihrer Schriftstellerkarriere, nämlich mit 13 Jahren, verließ. Und auch Thomas Brussig, der nur sein 1991 erschienenes Debütwerk „Wasserfarben“ in der DDR verfasst hat, ist als Autor bekannter Romane und Drehbücher über die DDR im Lexikon vertreten.

Diese und andere Entdeckungen macht der Leser bereits, wenn er sich nach der Lektüre des Vorworts dem Verzeichnis der Artikel zuwendet, das ein unabdingbares Handwerkszeug bei der Benutzung des Lexikons darstellt. Wer sich ohne eine Konsultation dieses Lexikonsabschnitts zur Benutzung des Nachschlagewerks entschließt, dem werden viele Artikel entgehen, die er gar nicht darin vermutet hätte, so etwa der Eintrag zu Walter Benjamin (der die DDR schon deshalb nie kennen gelernt hat, weil er bekanntlich 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Selbstmord verübte), zu „Bachmann-Preisträger[n] aus der DDR“ oder zum keineswegs DDR-spezifischen Thema „Mythos und Literatur“. Um es kurz zu machen: Das Lemmaverzeichnis – dem übrigens im Anhang ein Mitarbeiter- und ein Personenregister sowie eine Auswahlbibliografie zu wichtiger Forschungsliteratur an die Seite gestellt werden –, macht neugierig, regt dazu an, hier und dort einen Artikel nachzuschlagen, querzulesen, statt sich ausschließlich auf die Lektüre des eigentlich gesuchten Eintrags zu beschränken. Dass ein Lexikon zu solchen Abschweifungen, zu solchen ungeplanten Wissenserweiterungen verführt, kann ihm in jedem Fall hoch angerechnet werden und macht es zu einer für Studierende, Lehrende und Forschende empfehlenswerten Anschaffung.

Aber noch eine weitere positive Eigenschaft offenbart sich dem Leser des „Metzler Lexikons DDR-Literatur“ bereits beim Blick auf das Lemmaverzeichnis, insbesondere auf dessen Sacheinträge. Unter ,DDR-Literatur‘ wird hier nicht einfach eine Gesamtheit literarischer Texte mit DDR-Bezug verstanden, sondern auch der Literaturbetrieb mit all seinen Komponenten wird ganz offensichtlich unter diesen Begriff subsumiert: Zwar übertrifft die Zahl der Autorenartikel, also der Einträge zu den literarischen Produzenten und deren Werk, die Zahl der sachbezogenen Artikel, von denen zudem ein Teil die bedeutenden Anthologien der DDR behandelt und damit gleichfalls die literarischen Produkte und Literaturproduzenten fokussiert. Doch bleiben in den Sachartikeln beispielsweise auch die kulturpolitischen Rahmenbedingungen des Schreibens in der DDR, insbesondere die staatlichen Lenkungsbemühungen und die Gegenreaktionen der Schreibenden und der Leser keineswegs unberücksichtigt. Die düstersten Seiten des Verhältnisses zwischen der DDR und ihren Literaten wie etwa Inhaftierungen der Letzteren werden in diesem Zusammenhang ebenso ausgeleuchtet wie die Haltung der Bundesrepublik zu den Texten, den Autoren und dem offiziellen Literaturbetrieb des sozialistischen Deutschland. Zahlreiche Lexikonbeiträge sind weiterhin den großen Verlagen, Zeitschriften und literarischen Institutionen der DDR gewidmet. Daneben finden sich etliche Artikel zu historischen Ereignissen, die auch oder gar primär kultur- und literaturgeschichtliche Relevanz besitzen. Breit vertreten sind zudem Einträge, die dem Leser einen Überblick über zentrale Genres und Themen der DDR-Literatur zu vermitteln suchen. Auch werden verschiedene Medien der Literaturvermittlung wie Theater und Film in den Blick genommen.

Die Aufzählung der Gruppen von Sachlemmata ließe sich noch fortsetzen und um eine Liste der verschiedenen Autorengenerationen und -gruppen und der weiteren für die DDR-Literatur wichtigen Persönlichkeiten ergänzen, die in das Nachschlagewerke aufgenommen wurden. Doch dürfte eines bereits an dieser Stelle deutlich geworden sein: Bei der Konzeption des Lexikons haben sich die Herausgeber darum bemüht, das gesamte Spektrum des literarischen Lebens skizzenhaft zu umreißen, statt eine minutiös-vollständige Erörterung eines überschaubaren Ausschnitts aus dem Literaturbetrieb anzustreben. Natürlich führt die Breite in der inhaltlichen Ausrichtung des Lexikons unweigerlich dazu, dass der Leser sich hier und da noch einen Artikel gewünscht hätte oder den einen oder anderen Eintrag als verzichtbar betrachtet. So ließe sich etwa darüber diskutieren, ob es die richtige Entscheidung war, Walter Benjamin als wichtigen Vordenker vieler DDR-Poeten in das Lexikon aufzunehmen, aber auf einen Artikel zur Rolle des Marxismus-Leninismus im Literaturbetrieb der DDR zu verzichten. Ebenso mag man, da sich die Herausgeber für ein Lemma „Romantik-Rezeption“ entschieden haben, einen Eintrag zur Klassik-Rezeption vermissen. Auch könnte man anmerken, dass beispielsweise ein Artikel zur normierenden Funktion der Literaturwissenschaft in der DDR sowie ein Eintrag „Lied“ oder auch „Liedermacher“ eine wichtige Ergänzung im Spektrum der Lexikonartikel dargestellt hätten. Doch tun die nicht zu vermeidenden weißen Flecken, die ein derartig breit angelegtes Projekt aufweisen muss, der beeindruckenden Gesamtleistung der Herausgeber und Beiträger letztlich keinen Abbruch. Auch steht der unausweichlichen Fragmentarizität des Gesamtpanoramas eine erfreuliche Detailliertheit der einzelnen Artikel entgegen: Sie erstrecken sich immer über mehrere Spalten, oft über mehrere Seiten und schließen mit einer Kurzbibliografie weiterführender Literatur für jene Leser, die sich eine Vertiefung der durch die Lexikonlektüre erworbenen Kenntnisse wünschen.

Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall ist der ideologische Zündstoff, der in 40 Jahren des Ost-West-Gegensatzes das Forschungsfeld ,DDR-Literatur‘ zum gefährlichen Terrain werden ließ, noch nicht zur Gänze entschärft. Auch heute noch mag mancher, der sich diesem Forschungsgegenstand annähert, den Eindruck eines verminten Geländes erhalten und nach kurzer Zeit wieder zum Rückzug übergehen. Wer dem eingangs erwähnten „vielstimmigen Chor“ des hier besprochenen Lexikons lauscht, wer sich vom Lemmaverzeichnis zu einem ersten Kennenlernen der DDR-Literatur und der um sie geführten Kontroversen verführen lässt und sich kreuz und quer durch den Band hindurch- und damit in die Materie einliest, der hat jedoch die Chance, diese Angst zu verlieren und vielleicht eines Tages selbst den gesamtdeutschen Chor der Forscher um seine Stimme zu bereichern.

Titelbild

Michael Opitz / Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2009.
405 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022387

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