Schillers Schweigen über Napoleon

Indizien für seine Gegnerschaft zu einem Diktator

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag ist ein fußnotenloser, geringfügig gekürzter und redaktionell bearbeiteter Auszug aus Walter Müller-Seidels eben im Verlag C.H. Beck erschienenem Buch „Friedrich Schiller und die Politik“. Er ist dem Kapitel „Napoleon ante portas: Das Verschweigen einer Gegnerschaft“ entnommen. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de.

 

In Schillers Brief an seinen Schwager Wilhelm von Wolzogen vom 27. Oktober 1803 wird derjenige, der für das Verschwinden der schweizerischen Freiheit verantwortlich ist, namentlich nicht genannt; der Name Bonapartes wird, wie man den Eindruck haben kann, ostentativ ausgespart; und das ist auch sonst der Fall. Schon hier sei es vorweggenommen: Die Aussparung des Namens hängt mit Schillers Gegnerschaft zu dem französischen Diktator aufs engste zusammen – mit einer verschwiegenen Gegnerschaft, um die es sich offensichtlich handelt.

Indizienbeweis in Jurisprudenz und Philologie

Das konsequente Verschweigen des Namens in Schillers biographischen wie literarischen Zeugnissen bringt erhebliche Schwierigkeiten in der Vorgehensweise mit sich. Philologische Arbeit besteht in hohem Maße darin, daß man die namentlichen Erwähnungen zusammenträgt, sichtet und ordnet, um aus solchen Zeugnissen einen Befund zu erstellen. Das ist hier aufgrund der fehlenden Erwähnungen nicht möglich. Es gibt keine direkten und unmittelbaren Belege. Man muß die Ergebnisse aus dem vorhandenen Material erschließen. Die Methode, auf die man sich verwiesen sieht, ähnelt dem, was man in der Jurisprudenz einen Indizienbeweis nennt, ein in philologischer Arbeit weithin fremder Begriff. In der Rechtswissenschaft ist er legitim; er schließt bloß Erschlossenes nicht aus und kann gegebenenfalls manchen unsicheren Zeugenaussagen vorzuziehen sein. In heutigen Enzyklopädien wird er wie folgt definiert: „Der moderne Strafprozeß kennt keine festen Beweisregeln und läßt daher nach dem Grundsatz freier Beweiswürdigung eine Verurteilung auf Grund eines Indizienbeweises zu.“ Etwas ist uns nicht direkt und unmittelbar gegeben; wir müssen es erschließen. Das bedeutet auch, daß nicht jede Aussage von sich aus schlüssig und überzeugend sein kann. Die Evidenz liegt in der Vielzahl der erschlossenen „Beweisstücke“. Aber man macht es sich zu leicht, wenn man in der Schillerforschung nur deshalb über Napoleon nicht spricht, weil Schiller seinerseits über ihn nicht spricht; und verblüffend ist es schon, daß die Konsequenz des Verschweigens so wenig Erstaunen erregt hat. Das im folgenden zu betretende Gebiet ist also in hohem Maße eine terra incognita, sieht man von einigen Einzelstudien als Ausnahmen ab, die es in neuerer oder neuester Forschung gibt.

In keiner dieser Studien ist Napoleon eine Vordergrundsfigur, um die sich alles dreht. Er gehört im historischen Kontext zum Hintergrundwissen, ist eine Hintergrundsfigur, die als diese die Analyse der Dramen begleitet und in den Zusammenhang verschiedener Themen und Motive zu bringen ist. Wer sich aber im Hintergrund aufhält, ist zumeist nur undeutlich erkennbar. Aber eine historische Persönlichkeit nur deshalb zu übergehen, weil sie schwer erkennbar ist, könnte bedeuten, daß man sich nur deshalb um Einsichten bringt, weil sie nicht offen zu Tage liegen.

Das Wort Hintergrundsfigur soll nicht mißverstanden werden, und nicht früh genug sind alle Versuche zurückzuweisen, Napoleon in einer Dramenfigur verkörpert oder verschlüsselt zu sehen. Schiller hat zu keiner Zeit Schlüsselromane in Dramenform verfaßt. Das schließt nicht aus, daß gelegentlich einzelne Züge im Bild der historischen Persönlichkeit Bonaparte in diese oder jene Dramenfigur eingegangen sind oder sein können. Im ganzen aber geht es hinsichtlich der hier in Frage stehenden Bezüge weniger um Figuren als vielmehr um Ideen, Themen und Motive vorwiegend politischer Art. Sie sind um so bemerkenswerter, als es sie vor Schillers Rückkehr zum Drama mit „Wallenstein“ nicht gibt; und sie dringen erst in der Zeit in seine Dramen ein, in der Bonaparte die politische Weltbühne betreten hat. Es sind Themen wie Frieden, Vaterland oder Fremdherrschaft. Daß die Figur des Tyrannen, des Alleinherrschers, erneut Geltung gewinnt, wird deutlich. Es handelt sich mithin um Ideen, Themen, Motive und um Figuren, die allesamt die Gegnerschaft Schillers bezeugen.

Aber mit diesem Erweis ist die Frage nicht beantwortet, wie wir es uns zu erklären haben, daß der Name des Korsen konsequent verschwiegen wird. Auch die Beantwortung einer anderen Frage steht noch aus: Was denn als Grund dieser Gegnerschaft auszumachen sei. Fragen wie diese müssen um so mehr überraschen, als in der Person Goethes die völlig entgegengesetzte Einstellung zur Person des im Aufstieg begriffenen Bonaparte wahrzunehmen ist. Diese Wahrnehmung, Goethes Bewunderung für Napoleons Erfolge, ist alles andere als neu. Sie gehört seit langem zum tradierten Goethebild, was nicht ausschließt, daß immer neue Einzelheiten in diesem nicht ganz selbstverständlichen Verhältnis entdeckt werden.

Goethes und Schillers Napoleon-Bilder: eine unüberbrückbare Kluft in der Freundschaft

Über die völlig entgegengesetzten Einstellungen Goethes und Schillers zu Napoleon ist zunächst zu sprechen. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist der Brief Goethes an Schiller vom 9. März 1802. In diesem Brief wird der Name Bonaparte von Goethe genannt. Aber er kommt in dieser weitläufigen und weltläufigen Korrespondenz nicht noch einmal vor. Die geistige Situation, die dem Brief zugrunde liegt, hat man sich nicht zu heiter und frohgemut vorzustellen, wie das im 19. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein geschieht, wenn im hohen Ton von Weimarer Klassik gesprochen wird. Beide Briefpartner sind mit Tragödien von unerbittlicher Entschiedenheit befaßt: Goethe mit dem Trauerspiel „Die natürliche Tochter“, Schiller mit der antikisierenden Tragödie „Die Braut von Messina“. Diese Dramen sind nicht als „Kunststücke“, losgelöst von der „Stimmungslage“ ihrer Autoren, zu lesen. In Goethes Trauerspiel wie in Schillers vermeintlich antikem Drama weht ein scharfer geschichtspessimistischer Wind, den man in dieser Zeit häufig zu spüren bekommt. Gut ein Jahrzehnt später wird in Schopenhauers Philosophie, im ersten Band seines Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“, eine verwandte Tonlage zu vernehmen sein. Aber sowohl der Brief Goethes wie mehrere Gedichte Schillers aus dieser Zeit bestätigen diese geschichtspessimistische Tonlage – sehr im Gegensatz zur zukunftsfrohen Antrittsvorlesung Schillers im denkwürdigen Jahr 1789. In diesem Brief Goethes sind nicht einige markante Stellen hervorzuheben. Er ist im ganzen und ohne jede Auslassung zu zitieren. Der Wortlaut ist dieser:

„Es ist gegenwärtig hier gerade eine lustige und gesellige Epoche und ich bin meist Mittag, oder Abends auswärts. Dagegen kann ich noch keine productiven Momente rühmen, die sich überhaupt immer seltner machen. Ich bin über des Soulavie memoires historiques et politiques du regne de Louis XVI gerathen, ein Werk das einen nicht los läßt und das durch seine Vielseitigkeit einnimmt, wenn gleich der Verfasser mitunter verdächtig erscheint. Im Ganzen ist es der ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnothwendigkeit, von vielen Höhen und aus vielen Thälern, gegen einander stürzen und endlich das Uebersteigen eines großen Flusses und eine Ueberschwemmung veranlassen, in der zu Grunde geht wer sie vorgesehen hat, so gut als der sie nicht ahndete. Man sieht in dieser ungeheuern Empirie nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen so gern Freyheit nennen möchten. Wir wollen erwarten ob uns Bonaparte’s Persönlichkeit noch ferner mit dieser herrlichen und herrschenden Erscheinung erfreuen wird. Da ich in den wenigen Tagen schon vier Bände dieses Werks durchgelesen habe, so weiß ich freylich sonst nicht viel zu sagen. Das schöne Wetter hat mich einigemal hinaus in das Freye gelockt, wo es auch noch sehr feucht ist. Leben sie recht wohl und sagen mir gelegentlich etwas von den weimarischen Zuständen und in wie fern Ihnen einige Arbeit glückt. Jena, den 9. März 1802 G.“

Der Brief Goethes fügt sich seiner Tonlage nach gut in das Ganze dieser einzigartigen Korrespondenz ein: Das Persönliche wird nicht gänzlich ausgespart, aber eine dominierende Stellung wird ihm nicht eingeräumt. Dominierend ist vielmehr das literarische Leben in der Vielzahl seiner Aspekte, die Erfahrung mit Lektüre und immer erneut das eigene Werk, hier die Arbeit am Trauerspiel „Die natürliche Tochter“. Philosophie wird beiläufig erwähnt, eher distanziert; sie ist nicht der Trost, auf den es in solcher Lage ankäme. Keine Consolatio Philosophiae! Denn letztlich vermag sie wenig gegenüber dem Naturgeschehen, das tut, was es will. Die geschichtspessimistischen Schatten, die über dem Brief liegen, vermag sie nicht zu bannen. Der fatalistische Ton ist ausgeprägt. Eine verwandte „Stimmung“ in Goethes Brief deutet sich an in dem Bemerken, daß der Weltlauf wie ein übermächtiger Strom alles mit sich fortreißt und der Einzelne wenig gegen dieses Naturgeschehen auszurichten vermag. Wie eine kleine Spitze gegenüber dem der Philosophie verbundenen Freund liest sich der Nebensatz: „was wir Philosophen so gern Freyheit nennen“. Ausgesprochen unfreundlich ist die Bemerkung nicht zu verstehen; denn Goethe bezieht sich ein; er sagt: „wir Philosophen“. Aber auch dem geschichtspessimistischen Ton wird alle Schärfe genommen im Blick auf dasjenige Phänomen der Zeitgeschichte, das Zuversicht ausstrahlt: kein anderes als die wie ein Meteor aufgeschossene Persönlichkeit des französischen Diktators. Diese Zuversicht verbindet sich für Goethe unweigerlich mit dem Namen Bonapartes. Bonaparte wird mit dem Bild einer „herrlichen und herrschenden Erscheinung“ in Verbindung gebracht.

Es bleibt noch anzumerken, daß die von dem Korsen ausstrahlende Hoffnung und Zuversicht keineswegs auf Goethe beschränkt bleibt. Wir befinden uns in einer Zeit, in der der Friedensschluß von Lunéville noch nicht weit zurückliegt, und mit diesem Ereignis verband sich für nicht wenige das Bild Bonapartes als eines Friedensbringers und Friedensstifters. Von Wieland wie von Herder, aber vor allem von Hölderlin gibt es begeisterte Äußerungen. An Knebel schreibt Herder am 30. November 1799: „Was sagen Sie zu den neuen Consuls? Ich habe große, große Hoffnung, wenn sie sich erhalten: und das werden sie!“ Goethes Stimme ist nur eine im allgemeinen Jubelchor. Aber Schiller hat in diesen Chor nicht eingestimmt. Er hat Goethes mit Bonaparte verbundene Hoffnung gänzlich unerwähnt gelassen; und offensichtlich hat er sie nicht geteilt. Auf Goethes Erwähnung Bonapartes ist er im nächsten Brief mit keinem Wort eingegangen.

Das ist Golo Mann als einem, der sich in Schillers Dichten und Denken vorzüglich auskennt, nicht entgangen. Er hat sich hierüber in einem seiner immer noch lesenswerten Essays aus dem Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wie folgt geäußert: „Der Briefwechsel mit Goethe reicht, wenn man ihn auf die Biographie Napoleons bezieht, vom Jahre von Toulon bis zum Jahre von Austerlitz; aber nur ein einziges Mal wird in diesen tausend Briefen der Name des Korsen genannt, von Goethe, nicht von Schiller.“ Golo Mann sieht diese außerordentliche Korrespondenz merkwürdigerweise zwischen zwei Siegesdaten Napoleons eingespannt, indem er nur die Orte nennt, an denen der Korse seine Siege errungen hat, nicht die Jahreszahlen, die er einfach als bekannt voraussetzt. Zum ersten Toulon. Die Stadt war 1793 von französischen Royalisten den Briten zur Besitznahme überlassen worden, aber noch in demselben Jahr war sie von Truppen des jungen Bonaparte zurückerobert worden. Im Werdegang Schillers ist 1793 das Jahr seiner Empörung über die Hinrichtung des französischen Königs, aber auch der Debatten um das Widerstandsrecht. Die zweite Ortsbestimmung, die Golo Mann anführt, heißt Austerlitz, östlich von Brünn in der heutigen tschechischen Republik gelegen. Es ist der Ort der Dreikaiserschlacht, wie sie genannt wird, in dem Franz II. von Österreich und Zar Alexander I. von Rußland von dem längst aufgestiegenen Bonaparte vernichtend geschlagen wurden. Schiller hat diese Niederlage der Gegner des späteren Kaisers nicht mehr erlebt. Sie hat im Dezember 1805 stattgefunden, aber immerhin noch in seinem Todesjahr; und wie schon gesagt: Golo Mann wundert sich, daß in diesem weltgeschichtlich bewegten Zeitraum der Name des späteren Napoleon nur einmal genannt wird – „von Goethe, nicht von Schiller“.

Man könnte einwenden, daß man von der Art, wie Schiller die Erwähnung Bonapartes im Brief Goethes übergeht, kein Aufhebens machen muß. Es könnte sich ja um eine Nachlässigkeit oder eine Unaufmerksamkeit handeln, die nichts weiter zu bedeuten haben. Aber das ist hier mit Gewißheit auszuschließen, denn die Feststellung Golo Manns ist um eine Aussage von nicht geringer Bedeutung zu ergänzen: Der Name Bonapartes oder Napoleons kommt in keinem der uns überlieferten Briefe Schillers vor, und man darf folgern: Das Verschweigen ist kein Zufall, sondern hat Methode. Dem Verschweigen des Namens liegt eine Gegnerschaft zugrunde, und hierüber gibt es nun doch einen zuverlässigen Beleg – nicht von Schiller unmittelbar, sondern von seiner literaturkundigen und hochgebildeten Schwägerin Karoline von Wolzogen. In ihrer zweibändigen Schiller-Biographie, die 1830 erschien, führt sie aus, und die Zuverlässigkeit ihrer Aussage ist nicht in Frage zu stellen: „Zu dem Eroberer [Napoleon] hatte Schiller nie Neigung und Vertrauen, nie hoffte er, daß irgend etwas Gutes der Menschheit durch ihn werden könne. Seiner freien Seele war der Hauch der Tyrannei durchaus zuwider. Als alle Welt voll war von dem Ruhme Napoleons, und des Feldherrn Genie und die ungeheure Wirkung desselben auch manchen guten Kopf und manches edlere Gemüt mit Zauberkraft magisch umspann, da sein Name die allgemeine Losung war, stimmte Schiller in den allgemeinen Beifall und Jubel nicht ein; er war des ewigen Redens über den Helden der Zeit müde, und wir hörten ihn sagen: ,Wenn ich mich nur für ihn interessieren könnte; Alles ist ja sonst tot – aber ich vermag’s nicht; dieser Charakter ist mir durchaus zuwider – keine einzige heitere Äußerung, kein einziges Bonmot vernimmt man von ihm’“. Dem steht entgegen, was Schiller gegenüber Cotta gesagt haben soll, und es ist angebracht, die Aussage im Wortlaut wiederzugeben: „Sehr oft denke ich … an unseren verewigten Freund, der bei einem Anlaß Bonaparte als die selten erhabene Erscheinung schilderte, die man täglich mehr an ihm bewundern kann“. An dieser überlieferten Quelle sind Zweifel angebracht. Wenn sich Schiller tatsächlich so geäußert haben sollte, so sind Vorsicht und taktische Motive in Rechnung zu stellen. Daß Cotta zu den Bewunderern Bonapartes gehörte, ist anzunehmen. Zum Frieden von Lunéville erbat er sich von Schiller ein jubilierendes Gedicht, dem sich der Dichter verweigerte. Die weltgeschichtliche Persönlichkeit des französischen Herrschers, der schon um diese Zeit als ein Alleinherrscher bezeichnet werden kann, kann unterschiedlicher nicht wahrgenommen werden, als es durch das Weimarer „Dioskurenpaar“ geschieht. Über das Thema Goethe und Napoleon gibt es eine schon fast unübersehbar gewordene Literatur; und es gibt nach 1806, nach Jena und Auerstedt, harte und härteste Fakten, als französische Truppen plündernd in das klassische Weimar einfielen. Über Schiller und Napoleon hat sich die Forschung nur selten geäußert, weil es keine Äußerungen Schillers über den Korsen gibt. Keinesfalls nimmt man im Verhältnis Goethes zu Napoleon nur Bewunderung und Begeisterung wahr. Das Bild, das er sich von ihm macht, ist komplex und ständig im Wandel begriffen. Überdies findet die persönliche Begegnung in Erfurt 1808 nach Schillers Tod statt. Daß die Freundschaft zerbrochen wäre, wenn man schon diese Frage stellt, ist unwahrscheinlich. Der Franzose bleibt für Goethe in hohem Maße und auf lange Zeit hin der Bändiger der Revolution, die für ihn das „schrecklichste aller Ereignisse“ war. Im Hinblick auf dieses Schreckliche bleibt Napoleon für Goethe derjenige, der für Ordnung sorgt und als Feldherr glänzende Siege erringt. Aber alle diese Verdienste im einzelnen sind zweitrangig gegenüber der Erhöhung und Erhebung in Bereiche jenseits des Allgemein-Menschlichen. Diese Neigung zur Erhöhung geht bei Goethe einher mit unterschiedlichen Formen der Mythisierung, und auch Schiller wird mit den Jahren zunehmend in einen solchen Bereich des Mythischen entrückt. Die aus der Bildwelt des Dichters nicht wegzudenkende Figur heißt Prometheus. Sie begleitet das literarische Werk seit früher Zeit und kehrt im Festspiel „Pandora“ verändert und verwandelt wieder. Hans Blumenberg hat sie in den Schlußpartien seiner ausgreifenden „Arbeit am Mythos“ auf die Formel gebracht: „Prometheus wird Napoleon, Napoleon Prometheus“. Aber schon das Festspiel läßt Distanz zu dieser mythologischen Figur erkennen, die sich nach der Niederlage von Jena und Auerstedt auf den mythisierten Kaiser überträgt und ihn gelegentlich hier und da einer Art Entmythologisierung aussetzt. Die Äußerungen ändern sich, und hin und wieder ist die mythische Erhöhung einem scherzhaft spöttischem Ton gewichen. Da kann es schon vorkommen, daß Goethe den Korsen beiläufig auch einmal einen Tyrannen nennt: „Gott Danck! daß uns so wohl geschah, Der Tyrann sitzt auf Helena …“.

Schon diese stichworthaften Hinweise zeigen, daß die Kluft, die beide Wortführer der Weimarer Klassik in ihren Auffassungen über Napoleon trennt, unüberbrückbar ist. Wir dürfen annehmen, daß an den Stein des Anstoßes aus Schillers Sicht auch im persönlichen Gespräch nicht erinnert wurde – daß man, mit anderen Worten, gegenseitige Rücksicht walten ließ. Das Wissen, das uns auf diese Weise zukommt, verändert unser Bild dieser Freundschaft. Sie wurde in der älteren Forschung als eine Art Heiligtum gefeiert, wie es der österreichische Professor Jakob Minor anläßlich der hundertsten Wiederkehr dieses denkwürdigen Jahres 1794 getan hat: „Nichts aber kann uns zu lauterem Preise des waltenden Glückssternes ermuntern, als die Betrachtung des steilen und mühevollen Weges, auf dem die Beiden durch Hindernisse, Verkennungen, Mißverständnisse der mannigfachsten Art endlich sich zusammenfanden.“ Soll heißen: Das alles liegt weit zurück. Doch sind verwandte Töne auch im 20. Jahrhundert noch vielfach zu vernehmen. Aber Bedenken, ob eine solche Sakralisierung der Wirklichkeit entspricht, regen sich zunehmend. Daß es Spannungen gab und daß eine Kluft sie trennte, ist oft betont worden; Hans Pyritz ist gar geneigt, den ehedem feierlichen Freundschaftsbund auf eine bloße „Wirkungsgemeinschaft“ zu reduzieren. Um dieselbe Zeit lesen wir in einer Abhandlung über Goethes Kritik an Schillers „Wallenstein“ den Satz: „Die geradezu fundamentale Verschiedenheit des Goetheschen und Schillerschen Dichtertums läßt sich natürlich auf Schritt und Tritt und an Hand beinahe jedes einzelnen Werkes belegen. Nirgendwo aber klaffen die Gegensätze zwischen ihnen so tief und sind so folgenschwer wie in ihrem Verhalten zur Geschichte.“ Die unüberbrückbare Kluft zwischen Goethe und Schiller in Hinsicht auf ihr Verhältnis zu Bonaparte bietet keinen Anlaß zu Bilderstürmerei, und auf eine bloße „Wirkungsgemeinschaft“ sollte das Bündnis aufgrund der hier in Frage stehenden Differenz nicht reduziert werden. Aber wie immer man die Spannungen einzuschätzen geneigt ist – man kann nicht leugnen, daß es sie gibt und daß mit der völlig entgegengesetzten Einstellung zu Napoleon eine weitere hinzutritt. Die Spannung, die es aufzuzeigen gilt, tendiert nicht zur Destruktion. Sie läßt im Gegenteil Bewunderung darüber aufkommen, daß es zu einem Bruch nicht gekommen ist und daß es für mehr als ein Jahrzehnt das Zusammenwirken zweier grundverschiedener Naturen gegeben hat. Beide hatten sie es, was das beiderseits erwünschte Zusammenwirken angeht, mit einem zerbrechlichen Instrument zu tun, und offensichtlich waren sie sich dieser Zerbrechlichkeit bewußt. Daß Goethe im Brief nie wieder auf Napoleon zu sprechen kommt und daß Schiller nicht nachsetzt und auf der Gegenposition beharrt, zeugt von Takt und Diskretion beiderseits. Die Spannung, die mit dem Namen des französischen Alleinherrschers bestätigt wird, erweist sich als eine Produktivkraft eigener Art – als eine Arbeitsgemeinschaft, die in der bewahrten Kultur gegenseitiger Rücksichtnahme Achtung verdient.

Gründe für Schillers Schweigen

Natürlich ist zu fragen, wie man sich dieses konsequente Schweigen und Verschweigen Schillers zu erklären hat. Sicher mußte es gegenüber einem Herrscher, der über so viel Macht verfügte wie Napoleon, darum gehen, jede öffentliche Gegnerschaft tunlichst zu vermeiden. Solche Rücksichten war Schiller gegenüber seiner Familie wie seinem Herzog schuldig. Das Äußerste, Tötung oder Hinrichtung, hatte er, wie später im Falle Andreas Hofers, des Nürnberger Verlegers Johann Philipp Palm oder des Herzogs von Enghien, gewiß nicht zu befürchten, aber Unannehmlichkeiten, wenn er seine Gegnerschaft öffentlich bekannt gemacht hätte, wären nicht auszuschließen gewesen. Wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, daß eine öffentlich gemachte Gegnerschaft seiner Poetik von Grund auf widersprochen hätte. Tagespolitische Einmischungen hatte er sich im Programm der „Horen“ selbst verbeten. Aber keineswegs verbeten hatte er sich politische Themen generell, wenn sie nicht tagespolitischer Art waren. Die Vermeidung solcher Stellungnahmen schließt dargestellte und versteckte Zeitgeschichte keineswegs aus. Aber auch sie ist nicht unmittelbar und für jeden erkennbar zu ersehen, sondern im Gewand historischer Dramatik versteckt. Sie wird damit in größere Zusammenhänge eingebunden, die mit Parteinahmen zum Tagesgeschehen nicht zu verwechseln sind.

Schillers Geschichtsdramatik basiert auf einer Art Geheimsprache, die ganz anders zum Nachdenken anregt als jedes offene Bekenntnis. Geheimsprachen, Geheimbünde und geheime Gesellschaften erfreuten sich damals großer Beliebtheit, und sie waren aufgrund der Zeitverhältnisse geboten, wenn es unerwünschte Nachstellungen und Verfolgungen zu vermeiden galt. In einem Brief an Iffland aus späterer Zeit hat Schiller seine Freude an „Geheimhaltung“ deutlich ausgesprochen. Er schreibt am 19. November 1800: „Was ich Ihnen von dem Schauspiele, die Maltheser, schrieb, bitte ich nicht weiter zu sagen, und mir zu verzeihen, wenn ich Ihnen den Gegenstand meines jezt unter Händen habenden Stücks noch verschweige. Wenn es auch nur eine leere Einbildung ist, so habe ich doch gefunden, daß ich mit lebhafterm Interesse arbeite, wenn niemand das Geheimniß weiß, und es ist mir geglückt, dieses bei meiner jetzigen Arbeit zu beobachten. Sobald aber der letzte Strich daran geschehen, erhalten Sie das Stück und das Geheimniß“. Wenn Schiller nach der Pause Vaterländisches in vielfacher Weise in seinen Dramen zur Sprache bringt, meistens am Beispiel anderer Länder wie England, Frankreich oder die Schweiz, so wird damit eine Übertragung auf das eigene Land keineswegs ausgeschlossen. Indem er das Eigene im Fremden versteckt, setzt er sich als Schriftsteller nicht dem Verdacht aus, für das eigene Land Propaganda zu betreiben.

Wenn Schiller so beharrlich den Namen Bonapartes verschweigt, so ganz offensichtlich nicht nur aus Vorsicht und Rücksicht, etwa gegenüber dem Herzog von Weimar. Die Unterdrückung des Namens auch dort, wo deutlich Bonaparte gemeint ist, scheint sich als eine Eigenart des Zeitstils zu erweisen. Auch andere Schriftsteller sind als Gegner des Korsen anzuführen, die seinen Namen aussparen. Es gibt einen Text Kotzebues, der so verfährt. Im Jahr der Befreiungskriege veröffentlicht er eine Flugschrift, die sich schon ihres unverständlich langen Titels wegen als eine satirische, gegen Napoleon gerichtete Schrift zu erkennen gibt. Der Anlaß dieser Publikation ist Freude über die Niederlage des Franzosen in Rußland – also Schadenfreude. Barbara Beßlich geht in der spannend erzählten Geschichte der Mythologisierung Napoleons im 19. Jahrhundert auf diesen wenig bekannten Text ein und erläutert ihn. Die literarische Qualität dieser pamphletartigen Flugschrift ist gering zu veranschlagen. Demgegenüber bezeugt sich in E.T.A. Hoffmanns aufregendem Text „Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden“ ein literarisches Niveau hohen Grades. Die Gegnerschaft zum französischen Eroberer ist offenkundig. Aber der Gebrauch des Tyrannenbegriffes genügt, um den Leser wissen zu lassen, um wen es geht. Und ein letztes Beispiel, das den Zeitstil des unterdrückten Namens bestätigt, sei angeführt. Es betrifft einen der nächsten Gesinnungsfreunde Schillers, keinen anderen als Wilhelm von Humboldt. In dem vermutlich letzten Brief, den er an seinen Freund in Weimar geschrieben hat, im Brief am 22. Oktober 1803, kommt er auf Napoleon, damals noch Bonaparte, zu sprechen. Aber ganz im Zeitstil der Napoleongegner wird auch hier der Name unterdrückt. Humboldt vergleicht sich und die geistige Welt, in der er zu Hause ist, mit der ganz anders beschaffenen Welt dessen, dem das Herrscherliche über alles geht, und schreibt in Abgrenzung von diesen herrscherlichen Lebensformen einen fast bekenntnishaften Brief mit dem Blick auf seine eigene Lebenswelt. „Der Maßstab der Dinge in mir bleibt fest und unerschüttert; das Höchste in der Welt bleiben und sind die – Ideen. Diesen habe ich ehmals gelebt, diesen werde ich jetzt und ewig getreu bleiben, und hätte ich einen Wirkungskreis wie der, der jetzt eigentlich Europa beherrscht, so würde ich ihn doch immer nur als etwas jenem Höheren Untergeordnetes ansehn, und das ist meine wahre Meynung.“ Im Stil der Napoleon-Gegner spricht Humboldt von dem, der jetzt Europa beherrscht, und im Kommentar der Nationalausgabe wird der Name genannt: gemeint sei Napoleon oder, wie es 1803 noch heißen müßte: Bonaparte.

Eine andere Klassik-Legende: Das Schweigen der Forschung – mit Ausnahmen

Aber das Verschweigen kann nur Anlaß sein, die Gründe zu erkunden. Es kommt darauf an, die Ansatzpunkte freizulegen, die eine Gegnerschaft im literarischen Text nahelegen. Im Zusammenhang der vorangegangenen Analyse der Dramen ist der Name Napoleons gelegentlich genannt worden, wenn er auch in der einschlägigen Forschung vorkam. Diese Hinweise gilt es aufzunehmen und weiterzuführen. Doch soll der Eindruck nicht aufkommen, als würden hier Entdeckungen gemacht, von denen noch nie die Rede war. Besonders in der älteren Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man wiederholt, obgleich nicht oft, in Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft auf das unwegsame Problemfeld aufmerksam gemacht. In der zweibändigen Biographie von Karl Berger, die zuerst 1904 erschienen ist, wird Schillers Gegnerschaft zu dem französischen Eroberer durchaus wahrgenommen, wenn gesagt wird: „Seit Campo Formio (1797) galt Napoleon Bonaparte, der siegreiche junge Heerführer, den meisten als Friedensstifter, und als Menschheitsbeglücker und Freiheitsbringer wurde er in schwungvollen Gedichten gefeiert. Unter denen aber, die dem Zauber des dämonischen Bannes sich nicht gefangen gaben, war Schiller … Er selbst sollte es nicht mehr erleben, wie die letzten Wellen der französischen Revolution die Reste des heiligen römischen Reiches deutscher Nation fortschwemmten … Aber er sah noch den ,republikanischen Helden’ zur schrecklichen Enttäuschung aller Träumer zum allesbeherrschenden Tyrannen sich auswachsen, er sah den unersättlichen Staatenzertrümmerer nach Krone und Purpur greifen …“ Im Bericht über den Besuch der Madame de Staël wird die Todfeindschaft „des gewaltigsten Mannes der Zeit“ erwähnt, womit Bonaparte gemeint ist. Eine innere Beziehung zwischen dem Drama und den politischen Ereignissen wird nicht hergestellt: das Drama Tells und der Verlust der Schweizer Freiheit stehen unverbunden nebeneinander. In dem großen Werk Hermann August Korffs, „Geist der Goethezeit“, das seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu erscheinen begann, wird Politisches aus Gründen einer rein geistesgeschichtlichen Betrachtung nur am Rande erwähnt, und bekanntlich wird das Ereignis der Französischen Revolution überhaupt nicht erwähnt. Eine solche Geringschätzung wird Napoleon nicht zuteil. Aber Korff sieht in ihm einen vergleichbaren Typus: „Wallenstein ist ein Napoleon: Napoleon und Wallenstein aber gehören zu dem gleichen Typus dämonischer Unersättlichkeit.“ Daß beide Gestalten, die fiktive und die historische, nach ihrem Verhältnis zum Tragischen durch Welten getrennt sind, wird übersehen. Wie von der Geistesgeschichte Korffs werden von der Deutungsgeschichte der sogenannten Werkimmanenz Auskünfte zum historischen Kontext der Literatur nur ausnahmsweise erteilt. Solche Tendenzen treten in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen man von politischer Literatur im allgemeinen nichts wissen wollte, um vieles deutlicher hervor als in der Zeit der Weimarer Republik. In der ausgreifenden Biographie von Benno von Wiese, die vor bald fünfzig Jahren erschien und damals als ein Jahrhundertwerk aufgenommen wurde, wird der Name Napoleons nach Ausweis des Registers zweimal beiläufig erwähnt. Wir erfahren in einem Nebensatz, „daß Wieland die Rolle Napoleons schon frühzeitig mit erstaunlichem Scharfblick erkannt habe“; und im Kapitel über das Fragment „Demetrius“ lesen wir: „Die Analogie zu Napoleon … liegt immerhin nahe … wir dürfen zum mindesten annehmen, daß die für ,Demetrius’ so wichtige Frage nach der Legitimität der Herrschaft für Schiller nicht zuletzt durch das Auftreten Napoleons auf der europäischen Bühne erhöhte Bedeutung gewonnen hatte“. Auch in der heutigen Forschung ist Napoleon – sehr anders als im Falle Goethes – keine historische Persönlichkeit, auf die man im Umgang mit Schillers Dramen zu achten hätte. In neueren Büchern über Schiller, so in denjenigen, die im letzten Gedenkjahr erschienen sind, kommt sein Name nicht vor. Anlässlich des 200. Todesjahres erschien ein repräsentativer Band mit Vorträgen eines Kolloquiums in Princeton. Der Name Napoleons wird hier dreimal beiläufig erwähnt; aber die Erwähnungen sind nicht der Rede wert. Wie überall gibt es Ausnahmen: Peter-André Alt mit seiner umfassenden Biographie in zwei Bänden und ihm folgend Rüdiger Safranski in seinem 2004 veröffentlichten Schillerbuch. Vor allem der erstere geht in seiner ausgreifenden Schillerbiographie wiederholt auf Bonaparte ein, und seine Hinweise sind stets beachtenswert. Aber auch er läßt seine Leser im Zweifel, welche Bedeutung der noch im Aufstieg begriffenen Herrscherpersönlichkeit für Schillers Denken und für seine Dramen zuzuerkennen ist. In einer gelegentlichen Bemerkung deutet sich Unsicherheit an, wenn gesagt wird: „Selbst wenn sich Schiller gründlicher für Napoleon als geschichtliche Figur interessiert haben sollte, wäre ihm einzig eine perspektivisch gebrochene Darstellung jenseits direkter zeitgeschichtlicher Aspekte möglich gewesen“. Jenseits zeitgeschichtlicher Aspekte! Das wohl nicht! In meiner Sicht hieße es besser, daß er das Herrschaftssystem Napoleon Bonapartes als Zeitbezüge in seine Dramen einbezogen hat. Neben Peter-André Alt geht Rüdiger Safranski in seinem Schillerbuch wieder holt auf Napoleon ein; der Verfasser läßt keinen Zweifel, daß der französische Herrscher für Schiller ein Stein des Anstoßes war. Wie es in Wallensteins Lager zugeht, wird mit den neuen „Umgangsformen“ in der Armee Napoleons verglichen, und es heißt: „Hier gelten, wie später in der Armee Napoleons, nicht die alten Hierarchien, sondern die neuen Karrieren.“ Deutlicher herausgearbeitet sind die Napoleon-Bezüge in der „Jungfrau von Orléans“; hier heißt es, wie ich meine zutreffend: „Hätte Schiller nicht den Aufstieg Napoleons erlebt, er wäre wohl nicht auf die Idee gekommen, die Machtergreifung eines inspirierten Bauernmädchens, das aus dem Himmel oder aus dem Nichts kommt, auf die Bühne zu bringen. Das Phänomen Napoleon gehört zur dunklen Totalidee, die Schiller zur ,Jungfrau von Orléans’ hingeführt hat.“ Noch weniger werden Zweifel daran gelassen, daß man bezüglich der Schweiz an die von Bonaparte gemachte Schweiz zu denken hat, an die Helvetische Republik: „Napoleon hatte 1799 das Land besetzt, den Staatsschatz in Bern geraubt, die alte Kantonalverfassung beseitigt und eine willfährige Regierung eingesetzt. In den Urkantonen, die schon in der Tell-Geschichte eine rühmliche Rolle gespielt hatten, war auch diesmal der Widerstand gegen die französische Herrschaft besonders hartnäckig.“ Bezüge zur Französischen Revolution werden hergestellt, und es wird gefragt: „Aber waren Tell und die Verschworenen des Rütli-Bundes wirklich Revolutionäre? Waren sie vielleicht sogar Jakobiner wie sie im Buche stehen?“ Die Fragen sind so gestellt, daß sie keine positive Antwort erwarten lassen. Wenn es aber nicht um Bezüge zur Französischen Revolution geht und Bonaparte gleichwohl in die Interpretation einzubeziehen ist – wie hat man sich diese Einbeziehung vorzustellen? Das bleibt auch auf diesen dem „Tell“-Drama gewidmeten Seiten weithin offen. Nicht so Schillers Gegnerschaft zu Napoleon; sie stellt Safranski nicht in Frage, wo immer von dem französischen Alleinherrscher die Rede ist.

Von den genannten Autoren abgesehen, bleibt alles weithin beim alten. Man sieht im Blick auf neues und neuestes Schrifttum wenig Anlaß, über Napoleon zu sprechen, wenn man über Schiller spricht. Weithin vergessen ist heute, daß man sich in der damals noch jungen marxistischen Literaturwissenschaft der früheren DDR seit der Mitte der fünfziger Jahre intensiv mit dem Phänomen Napoleon in seiner Bedeutung für Schillers Dramen beschäftigt hat. Daran zu erinnern gebietet die historische Gerechtigkeit; diese keineswegs unergiebigen Arbeiten wurden nur sporadisch, wenn überhaupt, zur Kenntnis genommen. Das erhöhte Interesse an Napoleon in Schillers Dramen erklärt sich aus zwei Gründen. Zum ersten deshalb, weil die marxistische Literaturwissenschaft sehr viel nachhaltiger an historischen Bezügen interessiert war als die damals weithin geschichtslose Werkimmanenz in der alten Bundesrepublik; und zum zweiten: Der Französischen Revolution wurde für das Verständnis der Weimarer Klassik eine fundamentale Bedeutung zuerkannt – mit manchen ideologischen Verbiegungen; das ist wohl wahr. Aber auch die Literaturwissenschaft der damaligen Bundesrepublik war davon nicht frei. Die Verbiegungen bestanden hier darin, daß man die Französische Revolution nicht zur Kenntnis nahm, wenn man über Weimarer Klassik sprach. Es lag für die damalige marxistische Literaturwissenschaft nahe, sich nach anhaltender Befassung mit dem Ereignis der Revolution für den Bändiger und Überwinder der Revolution zu interessieren. In dieser Blickwendung von der Revolution zum nachrevolutionären Zeitalter im Zeichen Napoleons haben sich namentlich Ursula Wertheim und Edith Braemer beteiligt. Aber zweifellos hat sich Hans-Günther Thalheim am intensivsten mit diesem Gegenstandsbereich befaßt, und nicht wenige seiner Beiträge hierzu liest man noch heute mit Gewinn, wenn man die Vorurteile von damals hinter sich läßt. Eigentlich alle Dramen Schillers seit dem Auftauchen Napoleons hat er in das von ihm abgesteckte Problemfeld einbezogen. Es gibt Einsichten und Aussagen, die man, auch aus heutiger Sicht, nicht als überholt bezeichnen muß. Der damals junge Gelehrte will in der Gestalt des russischen Usurpators im „Demetrius“ keineswegs die Gestalt Napoleons verkörpert sehen und bemerkt: „Wohl aber sind Züge Napoleons, seines Auftretens und Wirkens, als das Besondere und zugleich Politisch-Aktuelle in den Charakter des Demetrius eingegangen.“ Er sieht verwandte Themen und Motive in diesem Fragment, wie sie in der romantischen Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ zu finden sind, und führt hierzu aus: „Gemeinsam ist beiden Dramen die Parteinahme für die nationale Unabhängigkeit der Völker und für die Berechtigung der gewaltsamen Vernichtung des feindlichen Eroberers. In der Jungfrau von Orleans gestaltet der Dichter die Unüberwindlichkeit eines Volkes, das sich innerlich und äußerlich einig wird im Kampf gegen den Unterdrücker der nationalen Selbstständigkeit; im Demetrius wird deutlich, daß kein Volk von despotischer Intervention gegen seine Natur unterdrückt werden kann“; und zusammenfassend heißt es an anderer Stelle zur Bedeutung für Schiller im allgemeinen: „Schiller ist immer ein entschiedener Gegner Napoleons gewesen, anders als seine Gedichte … werden die großen Dramen aus dieser Zeit … zu wichtigen weltanschaulichen und ästhetischen Mitteln der Vorbereitung der Nation auf die künftigen Gefahren und die Befreiungskriege …“ Auch die Kluft, die sich mit Blick auf den „fremden Eroberer“ zu Goethe auftut, wird gesehen, und es wird bezweifelt, ob Goethe das Fragment wirklich im Sinne Schillers zu Ende zu führen in der Lage war. Es besteht aus meiner Sicht kein Grund dazu, dem was hier gesagt wird, zu widersprechen. Auf diese Napoleon-Bezüge, die doch nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, gehen die vorhandenen Schiller-Handbücher, die sich beide als repräsentativ geben, nur am Rande ein. In dem alles Historische und Politische ausschließenden Buch von Gerhard Storz geht es vorrangig um den Dichter Friedrich Schiller; und so kommt denn auch der Name Napoleon konsequenterweise nirgends vor. Aber gut zwanzig Jahre später wird der Beitrag Thalheims in einem wichtigen Aufsatz Fritz Martinis gebührend genannt, und daß es geboten sein könnte, auf die welthistorische Persönlichkeit aufmerksam zu machen, wird akzeptiert mit dem Bemerken: „Schiller bezog wohl Gegnerschaft gegen Napoleon, aber er muß gleichzeitig in ihm mit Faszination die Größe des politisch handelnden Menschen bewundert haben, die zum Grundthema seines dramatischen Werkes gehörte.“ Die Gegnerschaft zu Napoleon wird im Anschluß an den genannten Aufsatz aus dem Jahre 1955 gleichfalls bestätigt. Aber für die Behauptung von der „gleichzeitigen“ Faszination von der Größe dieses Herrschers gibt es nicht den Hauch eines Belegs. Daß diese Behauptung richtig ist, ist völlig unwahrscheinlich. Sie ist eine andere Klassik-Legende als diejenige, von der man vor einigen Jahrzehnten sprach.