Das Theater als politische Anstalt

Friedrich Schillers Kritik am System totalitärer Herrschaft und sein Plädoyer für eine humane Gesellschaft

Von Walter HindererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Hinderer

I

 

Knapp fünf Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, im Herbst 1784, schilderte Schiller in der „Ankündigung der ‚Rheinischen Thalia’“ seine misslichen politischen und literarischen Erfahrungen nicht ohne gezielte Herausforderung: „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient. Frühe verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt auszutauschen, die ich nur eben durch die Fernröhre kannte. Ein seltsamer Mißverstand der Natur hat mich in meinem Geburtsort zum Dichter verurteilt. Neigung für Poesie beleidigte die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward, und widersprach dem Plan seines Stifters. Acht Jahre rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel; aber Leidenschaft für die Dichtkunst ist feurig und stark, wie die erste Liebe“. Zweifelsohne war das Verhältnis zu seinem absoluten Fürsten Karl Eugen ambivalent. Dieser hatte nicht nur einen seiner hartnäckigsten Kritiker, Christian Friedrich Daniel Schubart, auf heimtückische Weise in Blaubeuren gefangen nehmen und auf zehn Jahre auf der Festung Hohen Asperg festsetzen lassen, sondern sich auch nicht gescheut, seine eigenen Landeskinder zu verkaufen, um seinen Liebhabereien frönen zu können. Auf der anderen Seite gründete er mit seiner Militärpflanzschule, der späteren Hohen Karlsschule, eine Art Eliteuniversität, die trotz des dort herrschenden Regelzwangs und eines mehr oder weniger raffinierten Spitzelsystems erstaunliche Resultate erzielte. Nichtsdestoweniger hat der „naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius“ die Geburt der „Räuber“ in die Welt gesetzt, wie Schiller durchaus effektvoll seinen erfolgreichen Erstling charakterisierte.

Meiner Ansicht nach wurde viel zu wenig registriert, wie Friedrich Schiller in seiner Produktion, ob es sich um praktisches Theater oder Theatertheorien, um historische, politische, kulturelle oder philosophisch-anthropologische Konzepte handelt, immer wieder neu ansetzt, um andere und überzeugendere Lösungen der drängenden Probleme seiner Zeit zu finden. Bemerkenswert scheint mir in diesem Zusammenhang eine Äußerung von dem Mömpelgarder Jugendfreund Georg Scharffenstein (1760-1817) zu sein, die gerade das politische und öffentliche Engagement des jungen Schiller betont. „Wäre Schiller kein großer Dichter geworden“, so meint der ehemalige Karlsschüler und spätere General unmissverständlich, „war für ihn keine Alternative, als ein großer Mensch im aktiven öffentlichen Leben zu werden; aber leicht hätte die Festung sein unglückliches, doch gewiß ehrenvolles Los werden können. Die Räuber schrieb er zuverlässig weniger um des literarischen Ruhmes willen, als um ein starkes, freies, gegen die Konventionen ankämpfendes Gefühl der Welt zu bekennen. In jener Stimmung hat er oft zu mir geäußert: ‚Wir wollen ein Buch machen, das aber durch den Schinder absolut verbrannt werden muß’“. Nicht von ungefähr wurde alsbald von einem anderen Kameraden Schillers für die Publikation eine Vignette „aus den Kupferstechern radiert“, die einen „aufspringenden zornigen Löwen mit dem Motto“ darstellte: in Tyrannos.

II

Das Theater bedeutete für Schiller zweifelsohne die Fortsetzung seiner zeitgeschichtlichen und politischen Einsichten und Analysen mit ästhetischen Mitteln. Die Kanzel, der Katheder und das Theater waren ohnedies die einzigen öffentlichen Kommunikationsmittel in einem Land oder besser gesagt: in deutschsprachigen Ländern, in denen es kein Parlament und deshalb auch keine öffentliche Rede gab und geben konnte. Adam Müller hat dieses symptomatische Defizit in seinen immer noch zu wenig beachteten „Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland“, gehalten zu Wien im Frühling 1812, ausführlich dargestellt. „Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen“, so fragt er polemisch gleich zu Anfang, „nachdem längst aller höhere Verkehr bei uns stumm und schriftlich oder in einer auswärtigen Sprache getrieben wird? – Wenn die gesamten Staatsgeschäfte einer Nation mit der Feder abgemacht werden; wenn alle größeren Geister, welche sich in ihr regen und sie ergreifen oder doch berühren wollen, statt der Rednerbühne einen Schreibtisch bereitet finden; wenn die heiligsten und erhabensten Ideen niemals mit der Gewalt, welche die Natur in die Brust des Menschen und in seine Stimme legte, unmittelbar an das Herz der Nation schlagen können“. Man sollte allerdings in diesem Zusammenhang anmerken, dass die hier apostrophierte Nation ja nicht einmal in Ansätzen existierte, ganz sicher nicht im 18. Jahrhundert zu Herders, Goethes und Schillers Zeiten. Im Gegenteil: Während sich in anderen europäischen Staaten „ein selbstbewußtes Bürgertum … ein politisches Mitspracherecht“ erkämpft hatte, „konservierten in Deutschland“, wie der Verfasser einer deutschen Geschichte zusammenfasst, „über 300 Fürsten und Fürstenbischöfe und über tausend freie Reichsstädte, freie Reichsritter und Reichsabteien eine erstarrte Ständegesellschaft, in der der Feudaladel den Ton angab und absoluten Vorrang vor den Angehörigen des unabhängigen, gebildeten, industriell und kommerziell tätigen Bürgertums hatte“.

In seinen bereits zitierten Reden über die Beredsamkeit erklärte Adam Müller sogar, dass Friedrich Schiller, „der größte Redner der deutschen Nation … die dichterische Form nur wählte, weil er gehört werden wollte und weil die Poesie eine Art von Publikum in Deutschland hatte, die Beredsamkeit aber keines“. Genau genommen versuchte die prosaische, dramatische und lyrische Poesie seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts mit ihren Mitteln die politischen und gesellschaftlichen Defizite auszugleichen. Im Gegensatz zu Frankreich und England ließ sich für Deutschland, was den territorialen und politisch konnotierten Begriff „Nation“ betrifft, nur dessen Nichtexistenz konstatieren. Auch für Schiller und Goethe löst sich der Begriff mehr und mehr aus dem politisch besetzten Zusammenhang und er wird gewissermaßen kulturell umgeschrieben und umcodiert. In den relevanten Xenien „Das Deutsche Reich“ und „Deutscher Nationalcharakter“ drücken die Diokuren zehn Jahre vor Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ und circa sechzehn Jahre vor den Befreiungskriegen den Sachverhalt folgendermaßen aus:

„Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.
Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“

Und:

„Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche vergebens.
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“

Das Defizit wird hier im wahrsten Sinne des Wortes in einen Vorteil umgedichtet, so dass sich Karl Marx später im Hinblick nicht nur auf die deutsche Literatur, sondern auch auf die Philosophie zu folgenden kritischen Sentenzen herausgefordert fühlte: „Wir sind die philosophischen Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein“. Oder: „Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben“. Der Liberale Robert Prutz fasste dann die Kritik an der angeblich so unpolitischen Intelligenz dergestalt zusammen: „Das deutsche Volk ist kein Volk der That; diesen Ruhm müssen wir Andern überlassen, Engländern und Franzosen und von allem den Russen. Wir sind die weise Frau der Weltgeschichte, die großen Ideologen, die den Nationen Unterricht geben in der Philosophie und der Poesie und der Kunst und kurzum, in allen Dingen, zu deren Ausführung man nicht vom Stuhl aufzustehen braucht; wir erobern auch die Welt, aber nicht mit Schwertern, sondern mit Lehrsätzen und Gedichten“.

Wie Kant, Herder und Wieland blieb auch Schiller bei aller Kritik an den Auswüchsen der Französischen Revolution republikanisch gesinnt. Karl August hielt ihn sowohl als Theaterschriftsteller als auch im Hinblick auf seine politischen Ansichten für ebenso unberechenbar wie unzuverlässig und bat nicht selten seinen Freund Goethe um entsprechende Vermittlung. Seit der Entdeckung Shakespeares durch die junge Generation erhielt das Theater in Deutschland ohnedies politische Brisanz. Die englische Literatur löste eben nicht nur die kulturelle und literarische Vorherrschaft Frankreichs ab, die nicht zuletzt von Friedrich dem Großen noch nachdrücklich sanktioniert und gegen die „abscheulichen Stücke von Shakespeare in deutscher Sprache“ á la „Götz von Berlichingen“ ausgespielt wurde, während der junge Goethe stellvertretend für seine Generation in der Rede „Zum Shäkespears Tag“ „alle Französischen Trauerspiele Parodien von sich selbst“ nannte. Im Hinblick auf die pathetische Darstellung wird dann Schiller in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts die unnatürliche Unterdrückung und Verfälschung natürlicher Affekte im französischen Theater der Kritik aussetzen und pointiert formulieren: „Die Könige, Prinzessinnen und Helden eines Corneille und Voltaire vergessen ihren Rang auch im heftigsten Leiden nie, und ziehlen weit eher ihre Menschheit als ihre Würde aus. Sie gleichen den Königen und Kaisern in den alten Bilderbüchern, die sich mitsamt der Krone zu Bett legen“.

Der Paradigmawechsel vom französischen zum englischen Theater bedeutete für die junge bürgerliche Generation nicht nur eine Befreiung von allem ästhetischen Regelzwang, sondern auch eine Ersatzhandlung für die verweigerte politische Aktivität. Nicht von ungefähr erfasste die junge Generation von Gerstenberg, Lenz, Leisewitz, Goethe, Klinger, Wagner bis hin zu Schiller eine Theatermanie.

Umso selbstbewusster und ausgreifender beschreibt Schiller dann 1784 die Ziele des Theaters in seiner Mannheimer Vorlesung „Was kann eine gute stehene Schaubühne eigentlich wirken?“,die unter dem späteren Titel „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ zu einem oft missverstandenen Schlagwort wurde, in einem durchaus anspruchvollen Wirkungskreis. „Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weißheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele“. Auf diese Weise lässt sich die Schaubühne als eine „Verstärkung von Religion und Geseze“ verstehen; denn hier beichtet „das menschliche Herz auf den Foltern der Leidenschaft seine leisesten Regungen“, fallen „alle Larven“, verfliegt „alle Schminke“ und hält „die Wahrheit unbestechlich wie Rhadamanthus Gericht“, wie Schiller sein dramatisches Glaubensbekenntnis rhetorisch auflädt. Die Schaubühne deckt nicht nur „das geheime Räderwerk“ menschlicher Handlungen und Verirrungen auf, sondern korrigiert ebenso falsche Begriffe und Irrtümer der Erziehung wie Missverständnisse zwischen Regierung, Regenten und ihren Untertanen. Schiller spricht der Schaubühne einen großen Einfluss „auf den Geist der Nation“ zu, „weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt, und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat“.

Das Theater ist für Schiller insofern eine wichtige politische Anstalt, als es die zerstreuten gesellschaftlichen Kräfte zusammenführt. Eine Nationalbühne, so hofft der junge Dramatiker, könnte auch die zersplitterten deutschen Staaten zu einer Nation vereinen helfen. In diesem frühen Funktionsprogramm des Theaters ist von einem „mittleren Zustand“ die Rede, den Schiller dann in den neunziger Jahren als den ästhetischen definiert, ein anthropologisch-politischer Dreh- und Angelpunkt, der nicht nur „wechselweisen Übergang eines Zustands in den andern“ erleichtert, sondern auch die Voraussetzung für politische Erfahrung schafft. Im zweiten Brief „Ueber die äesthetische Erziehung“ erklärt Schiller bekanntlich, „daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert“. Zugegeben, der Begriff Schönheit ist an dieser Stelle zumindest missverständlich, er wird aber in den folgenden Briefen näher erläutert. Er markiert anthropologisch eine Instanz, in der theoretische und praktische Kultur im Menschen eine Verbindung eingegangen sind, die „Consummation seiner Menschheit“. Sie stellt den Vorschein „der Totalität in unserer Natur dar, welche die Kunst zerstört hat“ und „durch eine höhere Kunst wider“ hergestellt werden soll. Schiller gab sich keiner Illusion hin, was die Verwirklichung der ästhetischen Voraussetzung für den menschenwürdigen Staat betraf. Die „reine Republik“ mochte sich, so schreibt er, „wohl nur, wie die reine Kirche … in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden“. Dabei enthält der sechste Brief eine imponierende Grundsatzkritik seines Zeitalters. „Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem inneren Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein“. Schiller definiert hier mit der allgemeinen Mechanisierung des Lebens, der Fragmentarisierung auf allen Gebieten, der Trennung von Staat und Kirche, Gesetze und Sitten, Genuss und Arbeit, Mittel und Zweck, Anstrengung und Belohnung, bereits Syndrome der Moderne, die auch politische Konsequenzen haben. Eindrucksvoll fasst der anthropologisch und kulturphilosophisch geschulte Zeitkritiker die gesellschaftlichen und politischen Defizite dergestalt zusammen: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft“.

In einem Brief an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg betont Schiller am 13. Juli 1793 den politischen Auftrag seiner Dichtung und gesteht, dass er „auf ewig von den Musen Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle [seine] Thätigkeit widmen“ würde, „wäre der auβerordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden“. Er erklärt aber gleichzeitig, dass ihm die Ereignisse der Gegenwart alle Hoffnungen auf Jahrhunderte genommen haben, um an eine mögliche „Regeneration im Politischen“ zu glauben. Die politische Sendung wird deshalb für den Theaterschriftsteller Schiller ein notwendiger Bildungs- und Erziehungsauftrag. „Politische und bürgerliche Freiheit“, so wird er nicht müde dem Prinzen zu erläutern, bleibt „immer und ewig das Heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen, und das große Centrum aller Kultur“. Er will mit Hilfe der Kunst, nicht zuletzt der Schaubühne, „für die Verfassung Bürger […] erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann“. Man sieht, dass der angebliche Idealist illusionslos wie ein Realpolitiker abwägt, was unter bestimmten historischen Begebenheiten möglich ist und was nicht, worin die Ursachen für die menschlischen und politischen Versäumnisse und Defizite liegen und welche Medizin dem bürgerlichen Patienten zu verabreichen wäre. Auch in diesem Sinne wird Schillers Theater zu einer politischen Anstalt.

III

Versucht man die Jugenddramen im Hinblick auf gesellschaftliche und öffentliche Probleme hin zu befragen, so fällt auf, daß sowohl in den „Räubern“ als auch in „Kabale und Liebe“ und „Don Karlos“ die Familie deutliche Anzeichen der Destruktion zeigt. Ob es sich um den schwachen Vater von Moor handelt, die bürgerliche Familie des Musikus Miller, die adelige des Präsidenten und seines Sohnes Ferdinand oder um die Beziehung zwischen König Philipp und seinem Sohn Don Karlos, überall zeigen sich bedenkliche Alarmzeichen. Der junge Schiller scheint die Motive vom verlorenen Sohn, den feindlichen Brüdern und der gefährdeten Familie, die bereits in Sturm-und-Drangdramen auftauchten, in den Zusammenhang eines allgemeinen Wertezerfalls zu stellen, der spezifische politische Konsequenzen hat. Erklärte beispielsweise der Major in Lenzens „Hofmeister“ seinem Bruder ebenso sarkastisch wie verstört: „Es gibt keine Familie; wir haben keine Familie. Narrenpossen! Die Russen sind meine Familie: ich will Griechisch werden“, so klagen im Hause von Moor die beiden Söhne über Liebes- und Familienentzug. „Kann ich eine Liebe erkennen, die nicht auf Achtung gegen mein Selbst gründet“, argumentiert Franz, der Zweitgeborene, in einer spitzfindigen matrialistischen Replik, in der er vor sich selbst den radikalen Willen zur Macht dergestalt rechtfertigt: „Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht“. Sein Bruder dagegen reagiert auf die vermeintliche Verstoßung des Vaters mit einer massiven Untergangs- und Rachepsychose. „Ist das Liebe für Liebe? Ich möchte ein Bär sein, und die Bären des Nordlands wider dies mörderische Geschlecht anhetzen“, so redet er sich in Sturm-und-Drang-Manier in Rage. Er will das ganze Menschengeschlecht auslöschen, „den Ozean vergiften, daß sie den Tod aus allen Quellen saufen!“ Wird der eine der Moor-Brüder zum Outcast, zum Terroristen, so der andere zum brutalen und intriganten Gewaltmenschen, der die Vernichtung der eigenen Familie plant. Er liefert auch bereits das Stichwort für alle Despoten und Tyrannen in Schillers Dramen: „Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.“ Sogar der eine Zeitlang zwischen Republik und Alleinherrschaft schwankende Fiesko, der mit allen positiven Voraussetzungen eines Revolutionsführers und allen bewährten Eigenschaften eines homo politicus ausgestattet ist, beharrt selbst gegenüber dem „verschworenen Republikaner“, der als „schwer, ernst und düster“ signalisiert wird, auf totale Subordination und erklärt im Hinblick auf die Revolutionäre: „Wenn ich nicht diese Köpfe drehen kann, wie ich eben will … Wenn ich nicht der Souverain der Verschwörung bin, so hat sie auch ein Mitglied verloren“.

Dieser „wütende Durst nach Gewalt und Vergötterung“ wird von dem jungen Dramatiker eindrucksvoll an der Hauptfigur in Szene gesetzt. Zuerst spielt Fiesko den verliebten Epikureer, tritt in den verschiedenen Rollen und Masken auf, so dass selbst seine Freunde und seine Frau an ihm irre werden, benutzt dann raffiniert seine rhetorischen Talente, um die wegen der Machenschaften des kriminellen Despoten Gianettino empörten Senatoren und Vertreter des Volkes auf seine Seite zu ziehen, ohne freilich seine geheimen politischen Strategien zu enthüllen, mit denen er das Haus Doria stürzen will. In allen indirekten agitatorischen Unternehmungen hat Muley Hassan, eine überaus theaterwirksame Figur, die gleichzeitig die kriminellen Züge des komplexen homo politicus Fiesko in seinen komischen Einlagen enthüllt, bis er seine zentrale Funktion verliert und von seinem Herrn entlassen wird. Dieser will selbstüberheblich den „ungeheuren Quader ohne Menschenhilfe“ allein wälzen. Nicht von ungefähr enthüllt er am Höhepunkt seiner Selbstinszenierung sein politisches „Wagestück“, um in einer Art Apotheose seine fürstliche und göttliche Größe zu offenbaren. Wie es in der „Erinnerung an das Publikum“ heißt, fühlt sich Fiesko in der Tat „einem Gott gleich“, als er aus „geräuschloser Dunkelheit“ hervortritt und „das reife vollendete Werk vor erstaunende Augen stellt“. Er macht als selbstüberheblicher Schöpfer und Regisseur, indem er bewusst seine politischen Aktivitäten gegen die Scheinwelt der Kunst ausspielt, die Wirklichkeit zur Bühne und die Bühne zur Wirklichkeit. Doch die Versuche Fieskos, sich selbst zum verehrten Objekt eines Personenkults der Verschworenen zu stilisieren, scheitern an dem ehemaligen Freund und unbestechlichen Republikaner Verrina: Er sieht hinter Fieskos Theatermantel bereits den begehrten Purpur des Fürsten glänzen und erkennt in dem begabten Schauspieler schon „Genuas gefährlichsten Tyrannen“. Für Verrina ist das „Wagestück“ Fieskos, das „fürstliche Schelmenstück“, eine blasphemische Herausforderung des Himmels, ein Akt der „Gotteslästerung“. Doch nicht nur Fiesko spielt in diesem Stück um den höchsten Einsatz, auch Julia Imperiali, die Schwester des Diktators Gianettino. Trotz aller genialer Züge versäumt Fiesko am Ende wegen seiner unbegrenzten Herrschsucht und seines unabwendbaren Herrschaftsegoismus seine menschliche Bestimmung.

Es ist erstaunlich, wie hellsichtig und kritisch Schiller hier lange vor den Erfahrungen der Französischen Revolution an der Gestalt Fieskos und in der Handlung des Stücks die Problematik von Revolutionsführern im Besondern und die Aporien politischer Revolutionen im Allgemeinen analysiert hat. Er enthüllt nicht nur die eigennützigen Motive der Verschworenen zu Genua, sondern verweist auch auf ihre radikalen Maßnahmen, mit denen sie sich wenig von der tyrannischen Regierung unterscheiden, gegen die sie angetreten sind. Kein Wunder, dass selbst der radikale Revolutionär Verrina, der in einem anachronistischen Vergleich an manche Gestalten der Französischen Revolution erinnern könnte, am Schluss des Stückes, nachdem er Fiesko ins Meer gestürzt hat, entschlossen verkündet: „Ich geh zum Andreas“. Verkörpert Andreas, der seinen totalitären Neffen Gianettino zu Recht als „einen Hochverräter des Staats“ bezeichnet, ohne freilich daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, patriarchalische Herrschaft, so zielt Fiesko wie die Fürsten und Herzöge in Deutschland zu Schillers Zeit auf eine absolute Regierung, während Verrina unter den Verschworenen als der einzige radikale und konsequente Republikaner erscheint. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet er, der immerhin einst nicht nur für den Tod Gianettinos, sondern auch für den von Andreas plädiert hatte, zur patriarchalischen Staatsform zurückkehren will.

Schiller wird erstaunlich früh zum Analytiker des Bösen in der Politik und er zeichnet Psychogramme von machtbesessenen Individuen, die nur aus Kopf und Kalkül bestehen, aber ohne Herz und Moralvorstellungen sind. Franz von Moor setzt sogar die Wissenschaft seiner Zeit ein, die Philosophie der Ärzte, um sein Ziel, die absolute Macht im Hause Moor zu erreichen. Er will den Eid des Hyppokrates geradezu umkehren: Nicht die Verlängerung des Lebens seines Vaters intendiert er, sondern dessen Eliminierung. Obwohl Karl von Moor zweifellos über die besseren Anlagen oder Eigenschaften verfügt, verlangt auch er nicht weniger Unterordnung als sein Bruder Franz oder Fiesko. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Karl sich im Gegensatz zu Franz und Fiesko am Ende auf sein besseres Selbst besinnt und die kriminellen Handlungen bereut.

In „Kabale und Liebe“ rechnet der 25jährige Württemberger Flüchtling mit der zeitgenössischen despotischen höfischen Welt der Duodezfürsten, dem Soldatenhandel und der Mätressenwirtschaft ab, alles Syndrome, die er aus eigener Anschauung kannte, und setzte ihnen eine anderer Auffassung von Glück entgegen. Legitimiert sich im bürgerlichen Liebesdiskurs der Zeit Liebe im Gegensatz zur höfisch-aristokratischen Auffassung immer noch durch einen höheren, auf Gott bezogenen Wert, so stellt Ferdinand durch die despotische Verabsolutierung seiner Liebe gerade diese Codierung infrage und treibt dadurch seine Luise in einen Gewissenskonflikt zwischen religiöser Andacht und bürgerlich-moralischer Familienpflicht. Ferdinand scheint in der Tat auf seine Liebesbeziehung den politischen Herrschaftsegoismus seines rücksichtslosen Vaters zu übertragen, doch bei Lichte besehen ist sein Verhalten weniger despotisch als dogmatisch idealistisch, was freilich nicht ausschließt, dass er sich wie die egoistischen politischen Rechenkünstler der Macht an fremder Freiheit vergreift. Der Liebesdiskurs, wie ihn Schiller in „Kabale und Liebe“ darstellt, übersteigt eindeutig nicht nur die Grenzen der bürgerlichen Norm, sondern gerade auch die der adeligen. Er ist im Grunde ebenso revolutionär wie die Herausforderung einer Klassengesellschaft, die auf der Trennung von Adel und Bürgertum insistiert. Ferdinand, Luise und selbst die Lady lenken den Blick auf die Autonomie des Individuums und üben eine gezielte moralische Grundsatzkritik am Hof. Allerdings ist Ferdinands grenzenloser Liebesidealismus gewissermaßen kämpferisch-heroisch konnotiert; er schwärmt deshalb vom „Riesenwerk“ seiner Liebe, an dem die höfischen „Insektenseelen“ nur „hinaufschwindeln“ können. Sein heroischer Impetus entpuppt sich im Kontext Liebe als kraftgenialischer Gestus. Stammt der von Karl von Moor aus antiken Vorbildern, mit denen im idealistischen Übergriff die „entnervten Zwergseelen“ der Gegenwart abgewertet werden, so scheint Ferdinand von empfindsamer Buchlektüre inspiriert, „der höllischen Pestilenzküche der Bellatristen“, gegen die Musikus Miller schon in der ersten Szene von „Kabale und Liebe“ wettert. Liebe als „Riesenwerk“ und „Liebessprung“, wie sie Ferdinand in Bewegung setzen will, ist „groß und abenteuerlich“, weil sie sowohl die feudale als auch die bürgerliche Ordnung herausfordert. Er schlägt deshalb seiner Luise die Flucht in einen gesellschaftsfreien Raum vor, in dem Nation, Klasse, Religion und Gesellschaft durch Liebe ersetzt sind, eine Vorstellung, die auch Max und Thekla in der „Wallenstein“-Trilogie verbal andeuten. Kaschiert Ferdinand mit seinen Traum von absoluter Liebe unbewusst egoistische Ziele, so zeichnet sich die realistischere Luise dadurch aus, dass sie auf jeden egoistischen Anspruch verzichtet, weil er nach ihren Wertvorstellungen sowohl gegen die Rechte des Vaters als auch der Gesellschaft verstößt. Alles, was Ferdinand widerfährt, sei es nun positiv oder negativ, nimmt wie bei Karl von Moor gleich kosmische Ausmaße an – wenigstens in seiner Fantasie. Mit Ferdinand entwirft Schiller ein treffliches Psychogramm des Idealisten und empfindsamen Schwärmers, das er dann später in „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ begrifflich weiter ausdiffenziert.

Lassen sich in Ferdinands Repliken je nach der Gesprächssituation semantische Umbesetzungen orten, die von der Absolutierung, Feudalisierung, Heroisierung, Moralisierung bis zur Säkularisierung von Liebe reichen, so demonstriert Luise im Gegenzug ihre inneren bürgerlichen Werte, die mit Stichworten wie Tugend, Pflicht, Unschuld, Herz und Tränen angedeutet werden. Sie erkennt auch, dass Ferdinands „Herz“, so sehr er das Gegenteil behauptet, seinem „Stande“ gehört. Im Gespräch mit Lady Milford setzt sie überlegen ihre bürgerliche, „kindliche Unschuld“ gegen die adeligen „Freistätten der frechsten Ergötzlichkeit“. Allerdings ist der Liebesdiskurs in „Kabale und Liebe“, wie schon der von Iffland gewählte Titel signalisiert, eindeutig auch politisch konnotiert. Er enthüllt ebenso die moralischen und gesellschaftlichen Defizite der feudalistischen Klassengesellschaft wie die familiären autoritären Familienstrukturen im mittleren Bürgertum. Musikus Miller fühlt sich als „Herr im Haus“ wie der Herzog und sein Präsident von Walther im Fürstentum. Herrschen diese despotisch über ihre Untertanen, so herrscht der pater familias über seine Familienmitglieder. Gerade eine Liebe, welche die Standesgrenzen missachtet und sich auf die inneren Werte beruft, antizipiert eine neues Konzept vom Menschen, das für alle, den Adel wie das Bürgertum gleichermaßen gelten soll. Ferdinand plädiert für Seelenadel statt für Geburtsadel, für den Adel der Menschheit statt für den Adelsstand. In der bürgerlichen Tragödie „Kabale und Liebe“ entlarvt der Untergang der Liebenden ähnlich wie in „Wallensteins Tod“ á tergo den menschenfeindlichen Despotismus,der, wie es Leonore in der Unterredung mit Fiesko formuliert, „die Welt in ein rasselndes Kettenhaus“ zertrümmert, während Liebe Tränen hat und „Tränen verstehen“ kann.

Auch in „Don Karlos“ setzen Liebe und Freundschaft und eine damit verbundene neue Philosophie vom Menschen, welche die Gegenseite, repräsentiert durch den Herzog von Alba und Domingo, dem Beichtvater des Königs, ebenso fürchtet wie scharf verurteilt, Hoffnungszeichen gegen die repressive Welt der totalitären Herrschaft von Staat und Kirche. Sind Tränen für Karlos ähnlich wie für Leonore „die ewige Beglaubigung der Menschheit“, so hält sie der König eindeutig für Symptome von Schwäche, ja von Krankheit. Als dieser gar Tränen bei seinem Sohn wahrnimmt, wendet er sich angewidert ab. Für den Sohn ist jeder Herrscher ähnlich wie in den begrifflichen Ausführungen in den „Philosophischen Briefen“ „einsam und allein“, was sich im Drama auch später als die Achillesferse des Königs erweisen wird. Zwar scheint es, als habe sich trotz allem eine innere Wandlung gegenüber seinem Sohn vollzogen, als er dem überraschten Herzog von Alba erklärt, daß Karlos in Zukunft seinem „Throne näher“ stünde, aber er läßt es dem Sohn gegenüber bei einem eher abweisenden Verhalten, was Karlos zu der nahezu prophetischen Äußerung veranlasst: „O, zwingen Sie die nie benetzten Augen, / Noch zeitig Tränen einzulernen, sonst, / Sonst möchten Sie’s in einer harten Stunde / Noch nachzuholen haben“. Die „harte Stunde“ kommt, als König Philipp den Marquis von Posa kennenlernt und in ihm einen Menschen gefunden zu haben glaubt, dem er im Gegensatz zu seinen Höflingen vertrauen kann und dessen revolutionäre Ideen ihm imponieren, so wenig er sie teilt. Ausgerechnet dieser Mensch, der ihm persönlich am nächsten zu stehen scheint und der alle Fähigkeiten besitzt, die er an seinem Sohn vermisst, verrät ihn, wie König Philipp die Handlungweise Posas deutet, und opfert sich für seinen schwachen Sprössling. Diese Enttäuschung löst in dem vermeintlich gefühlskalten Herrscher einen Schmerz aus, der ihm die Tränen entlockt, die sein Sohn an ihm vermisst hatte, die Signale menschlicher Empfindung. Nicht von ungefähr bezieht sich Thomas Manns Tonio Kröger gerade auf diese Stelle und schildert seinem Freund Hans Hansen, wie es einem „durch und durch“ gehe, wenn dieser „schrecklich starre und strenge König“ eine dergestalt tiefe menschliche Regung zeigt.

Bereits die erste Szene des Dramas enthält die Vorgänge eines schwelenden politischen Machtkampfes, an dem, wie es sich später auf erschütternde Weise enthüllen wird, die Kirche und ihre Inquisition entscheidend beteiligt sind. Man erfährt von Intrigen, Verleumdungen, Verstellungen und geheimen Überwachungen. Der Beichtvater des Königs, Domingo, und das militärische Oberhaupt, Herzog Alba, wollen die vermutlichen Neuerer – Elisabeth, die ehemalige Verlobte und jetzige Königin und ihren Stiefsohn Don Karlos – unschädlich machen. Für die militanten Konservativen „entbrennt“ Karlos’ Kopf von einer gefährlichen und „seltsamen Chimäre – er verehrt den Menschen“. Domingo überschätzt allerdings den Tatendrang des Königssohnes, wenn er befürchtet, daß der „kühne Riesengeist“ ihrer „Staatskunst Linien durchreißen“ würde. Nicht Karlos ist der „Riesengeist“, wie sich zeigen wird, sondern der mit allen Eigenschaften eines homo politicus ausgestattete Freund, Marquis von Posa. Dieser wird in der Tat mehr und mehr zum Regisseur der politischen Handlung, scheint selbst König, Königin und Freund für seine revolutionären Ziele einzuspannen. Er entwickelt sich zum gefährlichsten Gegenspieler nicht nur der negativen Charaktere Domingo und Alba, sondern indirekt auch der eigentlichen Herrscherin im Staat, der Inquisition. Bekanntlich wollte es sich Schiller, wie er in dem bekannten Brief an Reinwald vom 14.4.1783 schreibt, „zur Pflicht machen, in Darstellung der Inquisition, die prostituirte Menschheit zu rächen, und ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen“.

Das geschieht, so könnte man argumentieren, unter vollem Einsatz der Affektregie, die bereits der junge Schiller ebenso effektvoll wie theaterwirksam zu inszenieren versteht, mit dem Auftritt des Großinquisitors, nach der Regieanweisung ein „Greis von neunzig Jahren und blind“. Er wirft Philipp vor, mit dem gefährlichen Weltverbesserer und Ketzer Posa paktiert und diesen der Rache der Inquisition entzogen zu haben. Wird der König im ersten Akt noch als ebenso loyaler wie rücksichtloser Parteigänger der Kirche geschildert, als ein entschiedener Gegner der Ketzerei und Rebellion in den Niederlanden, der sogar zur Abschreckung ein „Blutgericht … ohne Beispiel“ in Aussicht stellte, so rückt ihn Posas Einfluss von der militant-radikalen auf eine mittlere politische Position, die dann die heftige Kritik des Großinquisitors auslösen wird. Als dieser ihn im wahrste Sinne des Wortes einem Verhör unterzieht, weiß sich Philipp nur mit dem rührenden und lakonischen Hinweis zu verteidigen: „Mich lüstete nach einem Menschen“. Dieser Satz fordert den Greis zu einer der menschenfeindlichsten Herrschaftideologien in Schillers Werk heraus. Er belehrt seinen Schüler mit folgender destruktiven politischen Lehre:

Wozu Menschen? Menschen sind
Für sie nur Zahlen, weiter nichts. Muß ich
Die Elemente der Monarchenkunst
Mit meinem grauen Schüler überhören?

Er, der eben noch um Posa getrauert hatte, wie noch über keinen Menschen, der sogar öffentlich seine Liebe zu ihm bekannte und ihn mit ähnlichen poetischen Worten wie später Wallenstein den toten Freund Max bedachte, ist nun plötzlich nach kurzem Widerstand bereit, der Kirche selbst seinen einzigen Sohn zu opfern. In einer seiner berühmtesten Sentenzen bringt Schiller diese Handlungsweise am Schluss des Stücks auf diese gnomische Pointe:

Kardinal ! Ich habe
Das Meinige getan. Tun Sie das Ihre !

Gewiss gibt es auch in den „Räubern“ und im „Fiesko“ Überschreitungen und Übergänge zu einem Theater der Grausamkeit, das allerdings auch als radikale Zeit- und Herrschaftskritik zu verstehen ist, verdrehen Herzöge wie in „Kabale und Liebe“ die „Gesetze der Menschheit“ oder entpuppen sie sich wie im „Fiesko“ als Hochverräter „an der Menschheit“, treibt ein Reichsvogt im „Wilhelm Tell“ einen Vater an die menschlichen Grenzen und schlägt „die Milch der frommen Denkart“ in das ungeheure Geschäft des Mordes um, erweist sich ein Reichsfürst, der das Zeug zu einem humanen Herrscher gehabt hätte, als ein „großer Rechenkünstler“, der alles zu berechnen und die Menschen „gleich des Brettspiels Steinen“ nach „seinem Zweck zu setzen und zu schieben“ wußte („Wallensteins Tod“), gefährden immer wieder Ursurpation und Machtmissbrauch den Traum einer humanen Gesellschaft und Regierung. Nichtsdestoweniger antizipiert die Darstellung des Großinquisitors und die Philipp übertrumpfende Macht von Kirche und Inquisition die Schreckensherrschaft spätere Regierungen in einem anderen Zeitalter.

Umso zeitgemäßer wirkt im Rückblick das oft als anacharonistisch kritisierte Plädoyer des Marquis Posa gegen jede Art von tyrannischer Regierung, die „für die Ewigkeit“ pflanzen wolle und doch nur Tod säen könne. Er ermahnt König Philipp die „unnatürliche Vergötterung“ aufzugeben, im Sinne von Kants Appellen an die Regierung seiner Zeit, „Gedankenfreiheit“ zu gewähren, „der Menschheit verlorenen Adel wieder“ herzustellen und dergestalt „Bürgerglück“ mit „Fürstengröße“ zu versöhnen.

Schiller beurteilt Monarchien und Demokratien gleichermaßen nach dem, was sie für die menschliche Freiheit und die Annäherung an menschliche Vollkommenheit leisten. Das ist auch der Maßstab, mit dem er den Staat und die Verfassung des Lykurgus misst. Menschen dienen hier bloß als „Mittel und nicht als Zwecke“, wodurch „die Grundveste des Naturrechts und der Sittlichkeit gesetzmäßig eingerissen“ werden. Der drakonische Staat des Lykurgus, den Schiller mit einem mechanischen Uhrwerk vergleicht, das Neuerung und jeden Fortschritt ausschließt, lieferte zwar eine Verfassung, diese stand aber der „wahren Größe und Glückseligkeit“ der spartanischen Bürger im Wege. Solon dagegen gelang es nicht nur, die drei Staatsformen von Demokratie und Aristokratie und deren Synthese politisch umzusetzen, sondern er schenkte auch der griechischen „Republik eine neue Konstitution“, die den „Menschen den Gesetzen“ zubildete, also nie den „Bürger … von dem Menschen“ trennte wie wir heute. Deshalb haben auch, wie Schiller schwärmt, ihre „Staatskörper … eine so lebendige Wärme, die den unsrigen ganz fehlt; mit unzerstörbaren Zügen war der Staat in die Seelen der Bürger gegraben“. Solon, so rühmt Schiller, hat eben „Achtung … für die menschliche Natur“. Er opferte „nie den Menschen dem Staat, nie den Zweck dem Mittel“ auf, sondern ließ „den Staat dem Menschen dienen“. Diesem Ideal kommt vielleicht Schillers Darstellung des Volksaufstands in „Wilhelm Tell“ und die Gründung einer freien bürgerlichen Gemeinschaft am nächsten.

Fragt man nun im Hinblick auf die Jugenddramen, welche Herrschaftsformen einer scharfen Kritik unterzogen werden, so handelt es sich immer wieder um die Defizite von Charakteren, welche die Herrscher und die Gesellschaft prägen. Die Syndrome von Herrschaft und Gesellschaft, Staat und Verfassung enthüllen sich ebenso in den gestörten Familienbeziehungen der von Moors, der von Walthers und des Hauses von König Philipp wie in dem allgemeinen Wertezerfall. Immer wieder klagen die dramatischen Hauptfiguren bis hin zu Wallenstein über Intrigen, Ungerechtigkeit, Vertrauensmangel, Verrat, Lieblosigkeit, Verstellung und Täuschung, Korruption, Verstoß gegen Menschenrechte, Unterdrückung und Verletzung menschlicher Freiheit. Probleme in Gesellschaft und Herrschaft führt Schiller weniger auf Fehler der jeweiligen politischen Institutionen oder Verfassungen zurück als vielmehr auf Defizite im Charakter der politischen Führer und ihrer Untertanen; denn für ihn ist der „Charakter eines ganzen Volkes … der treueste Abdruck seiner Gesetze und also auch der sicherste Richter ihres Werts oder Unwerts“. Deshalb geht es auch in seinen Jugenddramen nicht gezielt um eine Alternative von Republik oder Monarchie, um die Propagierung idealer Staats- und Herrschaftsformen, sondern um die auch immer wieder in Aufsätzen erörterte Fragestellung, was ein politisches System für den Fortschritt der „Menschheit“ leistet. Schon deshalb lehnte Schiller entschieden jede Form von Despotie, Tyrannei und Anarchie ab, wie Caroline von Wolzogen zurecht bezeugt. Obwohl er ähnlich wie Wieland, Herder, Lenz und Kant ursprünglich auf der Seite der bürgerlichen Emanzipation stand und kurze Zeit die Französische Revolution begrüßt hat, verteidigte er nichtsdestoweniger in diesem Zusammenhang Gesetz und Menschwürde gegen jede Art von Missachtung durch Machtmissbrauch und diktatorische Maßnahmen. Beschäftigte Schiller in seiner „Wallenstein“-Trilogie, wie der „Prolog“ nahelegt, noch das Ringen „um der Menschheit großer Gegenstände / Um Herrschaft und um Freiheit“, so rückt in diesem bewundernswert komplexen Geschichtsdrama das Problem der Legitimität von Herrschaft in den Vordergrund. Dieses zentrale Problem stellt er in Variationen auch in seinen späteren Dramen dar, von „Maria Stuart“ bis zur „Braut von Messina“, „Wilhelm Tell“ und dem Fragment „Demetrius“, an dem er bis zu seinem letzten Atemzug gearbeitet hat.

Ich kann es mir nicht versagen, in diesem Zusammenhang auf den für den modernen politischen Diskurs so wichtigen Monolog Wallensteins in der 4. Szene des ersten Aktes von „Wallensteins Tod“ hinzuweisen. Nachdem Schiller äußerst differenziert die verschiedenen traumatischen Erfahrungen in Wallensteins politischer Karriere aus mehreren Perspektiven dargestellt hat, läßt er seine Hauptfigur über die Macht und Überlegenheit traditionaler Herrschaft reflektieren, die „der Völker frommen Kinderglauben / Mit tausend zähen Wurzeln sich befestigt“ hatte. Mir scheint, dass dieser Monolog Max Weber zu den drei Grundtypen „der Legitimitätsgründe einer Herrschaft“ angeregt hat, wobei er sogar ohne Hinweis auf die Quelle mit dem Begriff der Autorität des „ewig Gestrigen“ direkt Bezug auf diesen Monolog Wallensteins nimmt, um „,traditionale’ Herrschaft, wie sie der Patriarch und der Patrimonialfürst alten Schlags übten“, zu definieren. Der zweite Grundtyp trifft deutlich auf Wallenstein zu, selbst auf Fiesko, auf „die Autorität der außeralltäglichen Gnadengabe (Charisma).“ Charismatische Herrschaft zeichnet nach Weber sowohl den auserkorenen „Kriegsfürsten oder den plebiszitären Herrscher, den großen Demagogen und politischen Parteiführer“, aus. Der dritte Grundtyp, Herrschaft kraft von Legalität, „wie sie der moderne ‚Staatsdiener’ und alle jene Träger von Macht ausüben, die ihm in dieser Hinsicht ähneln“, ließe sich ohne Mühe auf den loyalen und kaisertreuen einstigen Freund und Vertrauten Wallensteins, Octavio Piccolomini, anwenden.

Friedrich Dürrenmatt hat 1954 in seinem vielzitierten Aufsatz „Theaterprobleme“ die Ansicht vertreten, dass Schiller so schrieb, „wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch. War doch Napoleon vielleicht der letzte Held im alten Sinne. Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen“. Dürrenmatt vertritt die Ansicht, daß der historische Wallenstein noch eine „sichtbare Macht“ verkörpert habe, während der „heutige Staat … unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden [sei], und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch in Bern“. Meine amerikanische Erfahrung unter der letzten amerikanischen Regierung spricht allerdings entschieden gegen diese Auffassung. Ich selbst hatte es nicht für möglich gehalten, daß ein einziger Präsident und seine Regierung innerhalb von relativ kurzer Zeit eine dergestalt fest etablierte Demokratie und eine ganze Nation gefährden und auf mehreren Gebieten beschädigen konnten. Es sind eben immer noch die einzelnen politischen Führer, selbst in Demokratien, welche die Geschicke und Beschaffenheit einer Gesellschaft bestimmen. Was Schiller am 13. Juli 1793 an Herzog Friedrich Christian von Augustenburg schrieb, scheint mir immer noch aktuell zu sein. Ich meine folgenden Sätze: „Nur der Karakter der Bürger erschaft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich. Denn wenn die Weisheit selbst in Person vom Olymp herabstiege, und die vollkommenste Verfassung einführte, so müßte sie ja doch Menschen die Ausführung übergeben.“ Nicht umsonst hat Carlo Schmid, einer der kultiviertesten Politiker der Nachkriegszeit, in einer Rede zum Gedenkjahr 1955 die Bemühungen von Schillers Theater als einer politischen Anstalt auf diesen Nenner gebracht: „Staat und gesellschaftliche Ordnungen sind für Schiller keine Kulisse, innerhalb derer ,Helden’ agieren – sie sind für ihn die Wirklichkeit, in der der Mensch zu sich selber findet und in der er zu dem wird, was in ihm an Möglichkeiten angelegt ist.“

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Autor im Schiller-Jahr 2009 unter anderem in Freiburg gehalten hat. Ausführlicher setzt sich ein Kapitel in Walter Hinderers eben erschienenem Buch „Schiller und kein Ende“ mit dem Thema auseinander.