Postparadiesisch – Die Reflexionen des Kantforschers Reinhard Brandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der berühmte Weltweise Immanuel Kant hielt seine Gedanken gerne auf allerlei Papieren fest, die ihm gerade zur Hand waren; sei es ein Buch, ein Brief oder ein Einkaufszettel. Im 20. Jahrhundert erhielten sie unter dem Titel „Reflexionen“ eine eigene Abteilung in den „Gesammelten Schriften“ des Alleszermalmers. Worauf Reinhard Brandt, einer der bekanntesten Kantforscher unserer Tage seine Reflexionen festzuhalten pflegt, ist hingegen nicht bekannt. Nun hat er jedenfalls etliche von ihnen zusammen mit Aphorismen und gelegentlichen Aperçus zwischen zwei Buchdeckel packen lassen. Dann und wann hat er zudem einen Dialog zwischengeschaltet, in dem sich etwa Jasmin und Vanessa über die wichtigste Handy-Frage austauschen oder Sokrates und Phaidros über Platonische Dialoge parlieren. Nicht zu vergessen diverse Briefe, wie etwa ein kollegiales Schreiben des Finanzministers an die Familienministerin. So vielfältig die Gattungen und Themen der Texte sein mögen, stets sind sie gebildet und gelehrt, hintergründig und tiefsinnig – und nicht selten schalkhaft.

Wirft der Titel des Buches eine Frage auf, nämlich die, warum sich alles ändert, so schließen manche der wenige Zeilen bis zwei, drei Seiten langen Texte mit einer solchen. Doch bietet Brandt gerne auch mal eine Antwort an. Etwa auf die Frage, was der Mensch sei: ein „Dämon, der erst bei sich ist, wenn er außer sich ist“.

Dann wieder macht sich der emeritierte Philosophieprofessor seinem Ärger über den „analphabetischen Kern der Universitätsreform“ Luft oder klagt als Bürger über die „unvermeidliche Korruption und Bornierung der Mächtigen“. Der Religion wohl eher abhold stellt der Aufklärer dennoch seine Kenntnisse des postparadiesischen Geschlechterverhältnisses unter Beweis: Nach dem göttlichen Rauswurf „pochte“ Adam „tränenüberströmt ans Tor, Eva aber rührte ihn leicht am Arm und sagte: ‚Es gibt jetzt viel zu bedenken und zu tun, mein Lieber, laß uns gehen.‘“ Und er gibt eine Probe seiner prophetische Begabung, indem er voraus sagt, dass die „Bibel in gerechter Sprache“ demnächst in „verbesserter zweiter Auflage als ‚Bibel in noch gerechterer Sprache‘“ erscheinen wird. Auch über die „Fortschritt der Neurotheologie“ macht sich Brandt gerne lustig.

An anderer Stelle berichtet er über ein einmaliges Ereignis in der „Vereinsgeschichte der deutschen Germanisten e.V.“ oder vom „letzten Germanistenkongreß“. Dann wieder macht sich der Philosoph Gedanken über seine Gedanken oder er erwägt, ob sich ein Fußballverein nicht vor dem drohenden Abstieg retten könnte, wenn er den Torwart durch einen Schimpansen ersetzt. Er erörtert den Anteil des Zeigens an der Menschwerdung des Affen, zeigt, wie Wittgenstein die Welt zu Fall brachte, wundert sich, dass es „nach und neben“ dem Wirtschaftswunder nicht auch ein „Geistes- oder Bildungswunder“ gegeben hat, zeigt sich überzeugt, dass der Holocaust eine „lange gelehrte und subtile Vorarbeit“ brauchte, denn „aus dem Stand weniger Jahre“ schaffe das „kein noch so zivilisiertes Volk“ und staunt über das Wesen der Metaphern, dieser „kleinen verlogenen Trunkenbolde, die alles aus dem Tritt bringen und die Menschen erst aufhorchen lassen“.

Wie man sieht, behandelt Brandt zahlreiche große und kleine Fragen zentraler und randständiger Themen. Doch geht es immer auch ums Ganze, wie das in der Philosophie nun mal so üblich ist.

R.L.

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Titelbild

Reinhard Brandt: Warum ändert sich alles?
Carl Hanser Verlag, München 2008.
195 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446231122

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