Sicher ist, dass nichts sicher ist

Der von Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle herausgegebene Begleitband zur Weimarer Ausstellung „Schillers Schädel“ zeigt die Suche nach diesem als Geschichte einer Obsession

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Weimar sucht nicht weiter“ – So titelte die „Welt“ im Mai 2008, als nach langen Untersuchungen feststand, dass die Gebeine, die seit über 200 Jahren für diejenigen Friedrich Schillers gehalten wurden, nicht die richtigen sein konnten. Mit modernsten Untersuchungsmethoden war es einem internationalen Team aus Biologen, Anthropologen, Chemikern und Medizinern gelungen, nachzuweisen, dass es sich bei bislang in Weimar aufbewahrten sterblichen Überresten um die Knochen von drei verschiedenen Personen handeln musste. Den sogenannten Schwabe-Schädel – benannt nach seinem „Entdecker“, dem ehemaligen Bürgermeister Weimars, Karl Lebrecht Schwabe – hielt man zunächst für authentisch, was auch eine wissenschaftliche Gesichtsrekonstruktion und die vergleichende tomografische Aufnahme des Schädels und der Totenmaske bestätigten. Erst als die DNA-Analyse des Schädels und der Gebeine von Schillers exhumierten Verwandten keine Übereinstimmungen ergab, war man sich sicher, dass es sich in keinem Fall um diejenigen Schillers handeln konnte.

Scientia locuta, causa finita? Möglicherweise, aber – und das ist eine Grundthese der Weimarer Ausstellung, die vom 24. September 2009 bis 31. Januar 2010 im Schiller-Museum zu sehen ist – die Suche nach dem Schädel Schillers ist weit mehr als das Erbringen eines endgültigen Beweises für die Echtheit der Gebeine, sondern es ist auch die Geschichte einer obsessiven Suche, eines geradezu religiösen Reliquienkultes und ein Kulminationspunkt ideeller Aufladungen jeglicher Couleur. Ob man die Gebeine Schillers denn nun wirklich hatte oder nicht, war für die meisten Forscher ziemlich unerheblich. Man projizierte seine Vorstellungen auf das Gefundene, das Ergebnis der Untersuchung stand dabei bereits fest. So musste bei der ersten Exhumierung der größte Schädel in der Gruft derjenige Schillers sein, denn dieser ließ nach der damaligen Lehre auch das größte Genie vermuten.

„Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge. / Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! / Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!“, schrieb Johann Wolfgang Goethe, nachdem er den Schädel erhalten hatte und diesen in seinem Haus aufbewahrte, ihn auf einem Samtkissen unter einer Glashaube studierend. Man wollte schlichtweg glauben, dass man es mit den Überresten des Dichters zu tun hatte. Dies führte sogar in späterer Zeit zu der kuriosen Tatsache, dass man in einer Art Planübererfüllung gleich zwei möglicherweise echte Schiller-Schädel präsentierte. „Der unangenehmste Fall wäre es, wenn beide Schädel von Schiller stammen“, so scherzte 2006 der Präsident der Stiftung Klassik Weimar, Hellmut Seemann, vor Beginn der Untersuchungen des sogenannten „Schiller-Codes“. Nun hat man also gar keinen, wovor bereits Albrecht Schöne in seinem 2002 erschienenen Essay „Schillers Schädel“ noch augenzwinkernd warnte.

Aber eigentlich ist der Weg zum Ziel auch im Falle Schiller das viel spannendere Thema – und so zeigt die Ausstellung nicht nur schnöde Dichterreliquien, sondern dokumentiert die ebenso kuriosen wie verwinkelten Wege der Forschung nach und um Schillers Schädel. Der von Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle herausgegebene Begleitband dokumentiert diese Episoden einer vorgeblichen Suche nach Wahrheit, die doch immer wieder in vorwissenschaftliche und mystische Muster zurückfiel und archaische religiöse Muster bis hinein in die Moderne transportierte.

In einem kunsthistorischen Exkurs zeigt Bettina Werche zunächst den Funktionswandel der Schiller-Bildnisse in der ersten Zeit nach dessen Tod und geht dem Übergang von einer Kultur des Erinnerns hin zur einer der Idealisierung nach. Um die Kulturgeschichte der Totenmaske und um deren Bedeutung für das Schiller-Bild geht es in den Beiträgen von Caroline Welsh sowie von Aurelia Badde und Ulrike Müller-Harang. Die weiteren Beiträge grenzen die „Physiognomie“ der „fixen Idee“ von Schillers Schädel dann weiter ein.

Die Geschichte der Bergungen und Wiederbestattungen der angeblichen Relikte Schillers wäre an sich schon Stoff genug für eine ganze Ausstellung – wie auch das erste Kapitel von Walter Hinderers jüngst erschienenem Buch „Schiller und kein Ende. Metamorphosen und kreative Aneignungen“ belegt. Zahllose Anekdoten und Halbwahrheiten prägen die Erinnerung an dieses Ereignis, Schiller sei wie ein „armer Mann“ um Mitternacht „heimlich“ verscharrt worden, unter „lauter Fremden“, hieß es in Weimar – dass das eigentliche Begräbnis zwar ohne große Öffentlichkeit, aber mit erheblichem Aufwand über die Bühne ging, geriet dabei schnell in Vergessenheit.

Das Gerede war auch der Grund, wieso die Gebeine bereits im März 1826 aus einem „Chaos von Moder und Fäulnis und einzelner Stücke Breter“, wie Schwabe berichtete, aus dem Kassengewölbe geborgen und in die Fürstengruft umgebettet wurden. Der Schädel Schillers hingegen wurde zunächst ins Haus des Bürgermeisters gebracht, dann in die Weimarer Bibliothek – eine ,Reliquie‘ an einem Ort, der der Aufklärung dienen sollte –, gelangte schließlich zu Goethe und wurde nach einer Intervention König Ludwigs von Bayern zum dritten Mal zu Grabe getragen, wiederum in der Fürstengruft.

Diesen langen Weg zur vorläufigen letzten Ruhe zeichnet der zweite Beitrag von Ulrike Müller-Harang im Begleitband nach und gibt bereits die Richtung vor für das Verständnis der künftigen Stilisierung Schillers als ein „Heros und Heiliger der Deutschen“, die die beiden überaus lesenswerten Aufsätze von Christoph Schmälzle beleuchten und in denen er die beinahe unüberschaubaren Ausprägungen des von der Kirche argwöhnisch beäugten „Schillerkultes“ sichtet und ordnet. Konzentriert sich Schmälzle in seinem ersten Beitrag auf die Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, so widmet er sich in seinem zweiten der Schiller-Rezeption „in den Kämpfen des 20. Jahrhunderts“. Leider sind seine Ausführungen zur Zeit ab 1933 etwas knapp geraten. Mit einigen dürren Worten geht er auf die Instrumentalisierungen Schillers im Nationalsozialismus ein, zu den Gedenkfeierlichkeiten im November 1934 heißt es lediglich, Adolf Hitler hätte einen Kranz am Sterbebett Schillers abgelegt. Einige wenige Sätze später ist der Autor bereits bei der DDR und deren Rezeption des Dichters.

Einem anderen Thema widmen sich die Beiträge von Gisela Maul, Claudia Schmölders und Roland Meyer, die sich mit der Rolle der Anthropologie, der Physiologie und der Phrenologie beschäftigen und den spekulativen, keinesfalls immer deterministischen „wissenschaftlichen“ Erforschungen des Schiller‘schen Schädels und deren Schlussfolgerungen nachgehen. In eine ähnliche Richtung gehen die eher technisch ausgerichteten Beiträge von Ute Gebhardt und Ursula Wittwer-Backofen, die die „modernen Naturwissenschaften im Dienst der Schiller-Schädel-Forschung“ sehen. Diese Beiträge zeigen aber auch, dass der technische Fortschritt zwar Ergebnisse liefern kann, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung exakt erscheinen, dies aber nicht immer sind. So kam nämlich ausgerechnet Wittwer-Backofen, eine Expertin für Gesichtsrekonstruktion, ähnlich wie 1961 Herbert Ullrich und Michail M. Gerassimow, zu dem Schluss, der Schwabe-Schädel wäre echt, er würde exakt zur Totenmaske Schillers passen. Ebenso daneben lag im letzten Jahrhundert der Tübinger Anatom August von Froriep, der zwar den Schwabe-Schädel für falsch hielt, sein 1913 als der wahre Schiller-Schädel präsentierte Fund jedoch entpuppte sich als der einer Frau, offenbar der Hofdame Anna Amalias, Luise von Göchhausen.

Insofern widersprachen sich also die jüngsten Ergebnisse der Anthropologen und der Molekulargenetiker und lassen weiter Raum für Spekulationen. Das Grabmal Schillers in der Weimarer Fürstengruft ist nun also leer – was die Besucherströme an dessen vorgeblichem Grab aber kaum beeinträchtigt. Im Sarg findet sich der Dichter nicht mehr, wohl aber immer noch – wie Hinderer sein Kapitel beschließt – in den „strahlenden Ländereien seiner Werke“.

Weimar braucht also gar nicht weiterzusuchen, das Konzept Schiller funktioniert auch so hervorragend. Und das beinahe selbstreflexiv gemeinte Ausstellungsprojekt der „Physiognomie einer fixen Idee“ funktioniert ebenso.

Titelbild

Albrecht Schöne: Schillers Schädel.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
110 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3406486894

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Titelbild

Walter Hinderer: Schiller und kein Ende. Metamorphosen und kreative Aneignungen.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.
448 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826041525

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Titelbild

Jonas Maatsch / Christoph Schmälzle (Hg.): Schillers Schädel. Physiognomie einer fixen Idee.
Herausgegeben von der Klassik Stiftung Weimar.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
240 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305755

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