Die See, der Sand, der Schnee...

...und „Mehr Meer“: Ilma Rakusa reflektiert in ihren „Erinnerungspassagen“ das eigene Leben und Werk

Von Beate KennedyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Kennedy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schwer zu entscheiden, ob „Mehr Meer“ eher eine Autobiografie ist oder in Schrift geronnener Treibsand von Erinnerungen einer Poetin, die der Verwandlung von Sand in Worte mächtig ist. Wie zumeist bei solchen Entscheidungsfragen liegt die Wahrheit wohl in der Mitte, was so viel heißt wie: im Auge des Betrachters.

Einiges spricht dafür, den Text als eine Lebensgeschichte der Autorin zu lesen, nicht nur der Untertitel und die Erzählung in der ersten Person Singular. Dass die Eckpfosten, an denen die einzelnen Kapitel entlang gespannt sind, mit den Eckdaten des Rakusa'schen Lebens korrelieren, könnte natürlich postmoderne Posse à la Paul Auster sein; einen solchen Vorbehalt sollte man heute immer sicherheitshalber äußern. Allerdings zeigte ein derartiges Spiegelkabinett wenig witzig dort Sprünge, wo Rakusa rekurrierende Themen ihrer schriftstellerischen Arbeit zitiert – so viel Selbstreferenz kann nur ernstgemeint sein. Nein, dies ist genuine Erinnerungsprosa, allerdings nicht am Stück, sondern in einer Collage, gefertigt aus gesichertem Bestand und gerade frisch gesammeltem Treibgut eigenen Lebens, Lesens und Schreibens.

Treibgut des eigenen Lebens: angedeutete wie ausbuchstabierte Zeiten und Orte markieren die Aufeinanderfolge von Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenendasein, eine Zeitenfolge, die in sich durch bestimmte Konstellationen und Konzentrationen strukturiert ist. So gehört in den Erinnerungsort „Triest“ notwendig das Meer und mit ihm alles, was in der Kindheit der Autorin von maximaler Bedeutung war: Sonne, Sand und Salz, das am Abend abgeduscht wurde, und zwar von der Mutter, derselben, die dem Kind Märchen erzählte, so oft und so genau, dass der Wortlaut noch verfügbar ist für die Verfertigung des Erinnerungstextes, und nicht nur für diesen. Die Ewigkeit suggerierende Strandszene, die Zeitlosigkeit versprechende Märchenwelt, die Halbwachheit des Mädchens, das die Eltern flüsternd fragen hört „Schläft sie schon?“ – diese „melancholische Muße träger Siesta-Stunden“ findet sich auch schon in früheren Texten Rakusas, dort weniger explizit autobiografisch, so im Erzählungsband „Miramar“ von 1986 und in den (Ich-)Erzählungen und Prosaminiaturen „Im Schnee“ (2006).

Treibgut des Lesens: Sind es die Märchen und besonders ihre rhythmisch wiederholten Weisheiten in Versform, die das Ohr der Lyrikerin schulen, so sind es die epische Breite, dramatische Spannung und moralische Strenge Dostojewskis, welche die Leserin Rakusa prägen. Was summarisch in „Mehr Meer“ abgehandelt wird (allerdings um eine Zusammenfassung des Plots von „Schuld und Sühne“ bereichert), kann man im Kapitel „Dostojewskis Frauengestalten“ im 2003 erschienenen Essayband „Von Ketzern und Klassikern“ nachlesen und beweist einmal mehr Rakusas von früher Jugend an gewachsene Bindung an die russische Literatur. De facto zeigt sich diese in einer überwältigenden Anzahl von Übersetzungen, mit denen Rakusa uns mit manchen russischen, aber auch slowenischen und ungarischen Dichtern bekanntgemacht hat. Im Buch allerdings finden sich nicht die Mühen des Übersetzens, sondern die Lust an der Literatur, außerdem eine fast schlafwandlerische Sicherheit darin, für sich das richtige Buch zur rechten Zeit zu finden.

Treibgut der Liebe: Selten wurde irgendwo so schonungslos mit der Liebe abgerechnet wie in diesem Band. Praktisch kommt sie nie vor, es sei denn, man hat ein Faible für Sublimation. Die reich illustrierte Liebe zur Musik sticht, im sinnfälligen Vokabular eines Kartenspiels, die erotische Liebe, die ohnehin erst richtig zu glänzen beginnt, wenn ihr der Schein des liebevollen Gedenkens zuteil wird. An diesen Stellen schmerzt die Absenz eines Erzählerkommentars.

Treibsand für den Leser: eingesogen in die von Sinnesbeschwörungen und Begriffskult überbordende Poesie der Textabschnitte, kann er nicht anders, als dieses Werk insgesamt als ein Bacchanal der Erinnerung zu begreifen und zu staunen ob der Fülle der Bilder. Simultan aber wird ihn die Frage beschäftigen: wie kann es sein, dass die Erinnerung nur dasjenige behält, was dem jeweiligen Jetzt-Zustand des erlebenden Ichs zuträglich ist? Welche Meisterin der Selektion dürfen wir hier bei der Arbeit an der Konstruktion ihres Memorials beobachten! Oder ist es die Finesse der täuschend echten Vorspiegelung, die uns so beeindruckt? Um dies zu entscheiden, wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich den Fluten von „Mehr Meer“ zu überantworten.

Titelbild

Ilma Rakusa: Mehr Meer. Erinnerungspassagen.
Literaturverlag Droschl, Graz 2009.
320 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207603

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