Le grand Docteur

Nils Ole Oermann hat eine Biografie über Albert Schweitzer geschrieben

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuletzt hatte er viele Namen: Jahrhundertgenie, Mythos, Weltgewissen oder nur „le grand Docteur“. Doch am liebsten schien es dem gebürtigen Elsässer Albert Schweitzer, wenn man ihn einfach nur als Urwalddoktor ansah. Seine stets demonstrierte Schlichtheit verlieh ihm eine unglaubliche Authentizität und zugleich eine scheinbare Distanz zu den Größen der Weltpolitik, an die sich seine moralischen Appelle hauptsächlich richteten. Weder seine schriftstellerische Tätigkeit noch sein jahrzehntelanger Einsatz in seinem berühmten Lambarener Urwaldhospital hätten für sich genommen für jene unglaubliche Publicity sorgen können, die dem Multitalent aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet nach dem Krieg den Friedensnobelpreis eintrug und ihn darüber hinaus zum begehrten Briefpartner fast aller namhaften Politiker der Nachkriegswelt machte.

Es war vielmehr die überzeugend gelebte Mischung als Destillat aus seiner humanistischen Philosophie und seinem scheinbar entsagungsvollen Einsatz in einem entlegenen Zipfel Afrikas, der den passionierten Orgelspieler mit der ergrauten Löwenmähne und dem markanten Nitzscheschnäuzer zum Urvater aller Gutmenschen in der westlichen Hemisphäre machte. Als Theologie hatte er sich eindringlich mit dem Leben Jesu befasst und versucht, ihn als historische Figur aus den dogmatischen Festlegungen der religiösen Überlieferungen zu lösen. Schließlich geriet Albert Schweitzer beinahe selbst schon in die Rolle des Religionsstifters, der einmal anlässlich einer Autogrammstunde zu seiner Frau bemerkte, er könne sich keinem Menschen verweigern, der sich vom ihm Hilfe erhoffe und wenn es nur ein Autogramm sei.

Der Berliner Historiker und Theologie Nils Ole Oermann hat es unternommen, das 90 jährige erfüllte Leben dieser moralischen Ikone des Kalten Krieges auf der Grundlage aller verfügbaren Quellen noch einmal nachzuzeichnen. Herausgekommen ist eine knappe, aber meist gut lesbare Biografie, die auch Befremdliches über ihren Protagonisten zutage fördert. Schweitzer war ein Mann, der bei aller allemannischen Eigenwilligkeit doch stark durch die Anschauungen des 19. Jahrhunderts geprägt worden war. Zwar können seine humanitären Leistungen in Afrika kaum in Frage gestellt werden, doch im Kern fühlte er sich gegenüber den dort lebenden Menschen stets nur als schützender Patriarch. Gern nannte er sich den älteren Bruder und verdeckte damit nur euphemistisch seine moderaten kolonialistischen Anschauungen, die ihn später auch eine Unabhängigkeit der Völker Afrikas mit kritischen Augen betrachten ließen.

Von medizinischen Fachleuten wurde das kleine Tropenhospital am Ufer des Ogoweflusses im heutigen Gabun oft als unzulänglich beschrieben. In technischer und vor allem hygienischer Hinsicht erfüllte es nach ihrer Ansicht kaum moderne Standards. Doch Schweitzer, der erst im Alter von 37 Jahren die medizinische Approbation erhalten hatte, betonte immer wieder, dass er damit genau die Bedürfnisse seiner Patienten erfülle. Seine Haltung zu den Afrikanern schwankte zwischen einfühlendem Verständnis für ihre traditionellen Lebensformen und oft herablassenden Bemerkungen über ihre Arbeitsmoral.

Bezeugt sind auch leichte Schläge oder Fußtritte, die Schweitzer jedoch als notwendige Aufmunterung betrachtete, und die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch niemanden ernsthaft zur moralischen Entrüstung veranlassten. Immerhin lag Lambarene nur wenige Dutzend Kilometer vom belgischen Kongo entfernt, dem „Herz der Finsternis“.

Eigenartig aber wirkt schließlich Schweitzers unkritische Bereitwilligkeit, in den letzten Jahren seines Lebens, noch auf der Höhe seines internationalen Ruhmes, sich ausgerechnet von der Führung der DDR für deren propagandistische Ziele einspannen zu lassen. Tatsächlich gab es nicht nur einen befremdlich freundlichen Briefwechsel mit Walter Ulbricht, sondern im Frühjahr 1960 traf zu Schweitzers 85. Geburtstag sogar eine hochrangige ostdeutsche Gratulationsdelegation mit 15 Kisten stets willkommener Medikamente in Lambarene ein. Der bestürzte Biograf kann diese eher peinliche Episode im Leben seines Protagonisten, die noch bis in die Zeit nach dem Mauerbau reichte, nur referieren. Eine plausible Erklärung für das Tete à Tete jenes Mannes, dessen Philosophie die Ehrfurcht vor dem Leben zum Kern hatte, mit der Führung eines Unrechtsstaates, der auf seine eigenen Bürger schießen ließ, ist auch ihm nicht möglich.

Abgesehen von einigen allzu ausführlich referierten Passagen aus dem frühen theologischen Werk Schweitzers ist dem habilitierten Theologen Oermann ein stimmiges Porträt eines großen Europäers gelungen, für den Afrika trotz aller humanistischen Passion immer nur ein fremdes Land geblieben. Eine Dattelpalme sollte seinem Grab in Lambarene beigefügt werden, denn sie sei, so Schweitzer, eine Fremde in diesem Land wie er auch.

Titelbild

Nils Ole Oermann: Albert Schweitzer. Eine Biographie 1875-1965.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
367 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406591273

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