Was vom Menschen übrig bleibt

Auch Warlam Schalamows Erzählungen beweisen nicht das Ende des Humanums

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warlam Schalamow wurde 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren. 1924 ging er nach Moskau, um dort „sowjetisches Recht“ zu studieren. 1929 wurde er wegen „konterrevolutionärer Agitation“ nach dem berüchtigten Artikel 58 zu Lagerhaft im Ural verurteilt. 1931 kehrte er nach Moskau zurück, wo er sechs Jahre später zum zweiten Mal verhaftet wurde. Es folgte die Deportierung in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens. 1956 erst durfte er nach Moskau zurückkehren, wo er 1982 starb.

Der Matthes & Seitz Verlag bringt seit 2007 Schalamows Werkausgabe heraus. Die ersten beiden Bände mit „Erzählungen aus Kolyma“ liegen mit „Durch den Schnee“ und „Linkes Ufer“bereits vor. Des Weiteren gibt es einen schmalen Band theoretischer Reflexionen unter dem Titel „Über Prosa“.

Die Rezeption im Feuilleton lobt Schalamows „Lakonie“, die „Reduktion“ literarischer Mittel, ja die „Enthaltsamkeit“, die auch gerne noch „rigoros“ sein darf. Nicht nur auf der formalen Seite genießt man eine nachgerade nordisch oder zen-buddhistisch zu nennende Kargheit, die jeder „ästhetischen Verfremdung“ ermangele, wie Wolfgang Sofsky auf „Deutschland Radio Kultur“ („Das politische Buch“, 05.10.2007) meint. Sondern auch inhaltlich lobt man, wie der „Bayerische Rundfunk“ („LeseZeichen“, 18.10.2007), dass Schalamow weder moralisiere noch anklage, sondern nur untersuche. All diese Charakterisierungen stimmen. Aber ebenso fraglich ist, ob dies die viel gerühmte „adäquate Form“ ist für das, was Schalamow in den Gulags erleben musste, wie die ebenso viel verwendete Formulierung, dies sei dann „Nicht-“ oder sogar „Anti-Literatur“, Unfug ist.

Letzteres verheddert sich in der Dialektik, dass Schalamows Werk sich konventionellen ästhetischen Standards zwar entgegenstellen mag, sich aber trotzdem als ästhetisches Werk positioniert. Angesichts der Tatsache, dass diese so genannte Anti-Ästhetik bereits zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von Schalamows Erzählungen nichts Neues mehr war (was sie nicht schlecht macht), verwundert die frenetische Rezeption in der Gegenwart, wo sie dies noch viel weniger ist. Als litte man unter einer Übermacht von Romanen voll naiver Menschheitsgläubigkeit, atmet beispielsweise Wolfgang Sofsky auf, dass Schalamow „keine Flucht in die tröstenden Arme des Humanismus“ antrete. Gelobt wird, dass es seinem Werk an dem mangele, was man andernorts der Shoah-Literatur vorwirft, von der man sich gerne moralistisch geschurigelt sieht. Dabei ist Schalamows Literatur keineswegs nur ein beneidet regungsloses, dekorativ arrangiertes, silbern ausgeblichenes Stück totes Holz in einem japanisch geharkten Garten, sondern kennt Leid und Verzweiflung. Leiden beredt werden zu lassen, das wird gerne mit moralischer Anklage verwechselt, gehört aber eben auch zu einer adäquaten Darstellung des Gulags, und nicht nur Tableaus von dunkelgrünen Nadelwäldern, schartig gebrochenem blau-grauem Granit und weißem Schnee, die so schön mitleidlos jenseits von Gut und Böse zu sein scheinen.

Das Lob der adäquaten Darstellung hängt einer naiven Form von Abbild-Realismus nach: hartes Leben brauche harte, schroffe Kunst. Wieso eigentlich? Und: Kann das überhaupt funktionieren? Dass Konkrektismus und Realismus nicht passen, wo die Realität surreal oder irreal war, das gab bereits Aharon Appelfeld in Bezug auf den Holocaust zu bedenken, und Schalamow legt dieses Problem auch nahe, wenn er darauf hinweist, dass es schwer sei, „sich im voraus eine richtige Vorstellung davon zu machen, denn alles ist dort zu ungewöhnlich und unwahrscheinlich, und das arme menschliche Hirn ist einfach nicht imstande, sich konkrete Bilder zu machen von diesem Leben.“

Seine ‚Schonungslosigkeit‘ ist nicht gerade originell, wo er das Leben der Menschen und ihre Lebensbedingungen mit der Natur metaphorisiert und parallelisiert. Und sie wird bedenklich dort, wo die Beschreibung der Entmenschlichung in eine Feier der Eucharistie des so genannten ‚wahren Menschen‘ kippt. „Fallen Zivilisation und Kultur vom Menschen ab“, dann, so der beliebte Schnell- und Fehlschluss, wie man ihn beispielsweise von Terrence des Pres kennt, bleibe das ‚Eigentliche‘ übrig. Dass im Extremen und Verfemten ‚der Mensch zu sich komme‘ und dass eine Wahrheit sich zeige, dies ist eine ebenso merkwürdige wie makabre und geläufige Grundannahme. Nicht wenige ihrer Protagonisten findet man im Programm von Matthes & Seitz.

Von dieser Vorstellung ist es dahin nicht mehr weit, dass man der Lagererfahrung einen positiven Nutzen zuerkennt. Manchmal philosophiert Schalamow im Gulag wie der über Jahrzehnte viel gelesene Psychologe Viktor Frankl im nationalsozialistischen Konzentrationslager: „Eben hier begriff er, daß er keine Angst hat und am Leben nicht hängt. Er begriff auch, daß er durch eine große Prüfung gegangen und am Leben geblieben ist. Daß es ihm bestimmt ist, die schreckliche Grubenerfahrung zum eigenen Nutzen zu verwenden. Er begriff, daß, wie erbärmlich die Möglichkeiten der Wahl, des freien Willens des Häftlings auch sein mögen, sie doch vorhanden sind; diese Möglichkeiten sind Realität, sie können einem unter Umständen das Leben retten.“ Vielleicht war der Gulag doch zu etwas gut? Aber Schalamow ist hier nicht eindeutig und weiß auch das exakte Gegenteil: „Niemandem hat das Lager jemals etwas Positives gegeben und geben können.“

Nicht nur diese Widersprüchlichkeit kennt man aus der Literatur der Holocaust-Überlebenden, auch sonst kann man viele Parallelen erkennen: Schalamow spricht von manchen Mitinternierten als lebenden Toten. Der Geist als Teil der Physis war materiell verhindert. Einerseits waren die Internierten so sehr aufs Körperliche reduziert worden, dass sie nur noch ihre Eigeninteressen verfolgten – andererseits gab es aber auch Solidarität. Zunächst erinnerte Schalamow sich nur ungerne, tat es dann aber doch und bemühte sich um eine angemessene ästhetische Form.

Damit hört die Vergleichbarkeit aber auf. Und eine Frage steht natürlich im Raum: Kann man den Gulag mit einem deutschen KZ oder gar mit Auschwitz gleichsetzen? Schalamow selber tat dies nicht, seine Herausgeberin Franziska von Thun-Hohenstein, die dem ersten Band der Werkausgabe ein kluges Nachwort beigegeben hat, auch nicht. Aber wenn man Schalamow als „die große Gegenfigur“ („Der Tagesspiegel“, 05.07.2007) zu den bekannten Schriftstellern der Shoah positioniert, dann scheint man seine Erzählungen nicht als komplementär zu denen von der Shoah zu sehen, sondern als probates Antidot: Endlich hat man etwas, mit dem man sie übertönen kann.

Dabei eignen sich Schalamows Erzählungen sehr gut, um die Differenz von Gulag und Auschwitz zu illustrieren: Dort gab es ein Mal pro Stunde ein Rauchpäuschen; man durfte Fotografien als persönlichen Besitz haben und konnte Post empfangen. Die Inhaftierten erhielten einen Lohn für ihre Arbeit und konnten regulär Dinge dafür erwerben. Während der Arbeit konnte man Wasser nicht nur trinken, sondern sogar dafür nutzen, um sich mit ihm beliebig lange zu kühlen. Am Ende eines Arbeitstages sind alle „fröhlich und laut, und eine Zeitlang scheint es weder Hunger noch tödliche Müdigkeit zu geben. Eilig angetreten, laufen alle fröhlich ‚nach Hause‘.“ Denn sie haben eine Freizeit und die Möglichkeit, privaten Vorlieben nachzugehen. Das „ersehnte Krankenhaus“ war tatsächlich eines, mit richtigen Ärzten, statt bloß abkommanierten Mitgefangenen, die auch helfen konnten. Essen konnte man mitunter unbewacht stehen lassen. Waren sie auch ausgezehrt, so doch von immerhin noch so guter Verfassung, dass sie in der Lage waren, Frauen zu vergewaltigen.

Wachen brauchten einen Grund und nicht nur einen Vorwand, um Internierte zu erschießen, und mussten darüber hinaus Rücksicht auf deren Kooperationswillen nehmen. Sie redeten die Gefangenen mit „Du“ und „Bürger“ an und schauten sich zusammen Filmvorführungen an. Erstere konnten zweitere sogar im Zorn angreifen und wurden dafür nicht belangt. Wenn Wächter Verbrechen begingen, dann konnten sie sie festnehmen. Es gab also Regeln. Sie konnten die Logik der Hierarchie für sich nutzen, um Erschießungen zu verhindern.

Schließlich konnte man aus einem Gulag entlassen werden, und wenn man vorher verstarb, dann konnte der Tote mit einem eigenen Grab und mit einem beschrifteten Kreuz darauf re-individualisiert werden.

In der Tat wurde in Gulags „bis zur Vernichtung“ gequält, wie es auf „Deutschland Radio Kultur“ (17.09.2007) hieß, aber weder um des Quälens noch um der Vernichtung willen. Dies bleibt bislang eine Spezialität deutscher Konzentrations- und Vernichtungslager. In den Gulags wurde das realisiert, was in den Phantasien von Kulturkritikern angeblich in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern geschah: dass man dort gleichgültig verrecken ließ, dass der Internierte auf ein Werkzeug, ein Arbeitstier, einen Gegenstand reduziert worden sei. Im Gulag war die Entmenschlichung ein Effekt der ruinösen und rücksichtslosen Vernutzung von Menschen – in Auschwitz hingegen war die Entmenschlichung der Zweck. Im Nationalsozialismus trat nicht der ‚nackte Mensch‘ hervor, nachdem man ihm die ‚Hülle der Zivilisation‘ abgezogen hätte, sondern dort ging es um die permanente demonstrative Negierung des Humanen. Das Menschliche ist keine Schale, die man abmachen könnte wie bei einer Kastanie, die man vom Baum geschüttelt hat: Es muss immer wieder durchgestrichen werden. Denn entgegen aller Schlüsse, die Kulturkritiker aus Überlebenden-Berichten ziehen, ist die angebliche ‚Schale‘ gut befestigt und kehrt wieder zurück. Immer wieder musste in Auschwitz der Beweis durchgeführt werden, dass die Deutschen die Juden aus der menschlichen Gattung verstoßen können (nicht, dass Juden nicht-menschlich wären). Der Internierte des Gulags und sein Wächter waren „ontisch Gleiche“ (Steven T. Katz), der Jude und der Deutsche hingegen nicht.

Schalamows Erzählungen bieten ebensowenig wie die Berichte der Shoah-Überlebenden irgendwelche allgemeinen Lehrsätze, die über Plattitüden wie die hinausgehen, dass man da doch sehen könne, was ein Mensch dem anderen anzutun vermöge, oder dass ein Mensch entmenscht werden könne. Das wusste man vorher schon, auch ohne Nationalsozialismus und Stalinismus, aber das lassen Kulturkritiker sich gerne immer wieder sagen. Auf die schlichte Funktion, diese noch schlichtere Erkenntnis auszusprechen, darauf reduzieren sie Nationalsozialismus und Stalinismus gerne.

„Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt.“ Dies mag sein, so kosmologisch ausgekühlt und ontologisch gesprochen, unterschlägt aber, dass der Mensch im Gegensatz zu Baum, Stein und Hund anders leben kann. Und diese Haltung ist eben keine objektive ‚ohne philosophische oder theologische Verfremdung‘, sondern auch nur eine unter anderen. Zum zweiten ist diese Haltung kein Ansich, keine existenzielle epoché, sondern eine Perspektive, die vergessen hat oder vergessen machen will, dass sie auch nur eine Perspektive ist; eine, die sich als Ansich nur aufspielt. Es ist schließlich und nicht zuletzt die Perspektive, die den Menschen so sieht, wie die Lager und deren Führer ‚den Menschen‘ sehen, weil es ihnen beiden, um Theodor W. Adorno zu paraphrasieren, eben nicht um die Menschen geht. Auch Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, meinte, in seinem Lager den „wirklichen ‚Adam‘ zum Vorschein“ kommen zu sehen. „Alles Anerzogene, alles Angenommene, alles nicht zu ihm Gehörige fällt von ihm ab.“ Die bittere Aufklärung, die die Kulturkritik in der Nachfolge von Höß in mal ketzerischer, mal leidend-heroischer Pose verkündet, identifiziert sich mit dem Aggressor und will den Menschen auch noch kognitiv beibringen, was die Lager ihnen ad hominem demonstrierten.

Titelbild

Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein.
Übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2007.
342 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783882216004

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