Erzählungen ohne Erzähler

Der Band „Erzählen im Film“ von Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier und Timo Skrandies kann das Besondere der audivisuellen Narration nur ansatzweise beleuchten

Von Jens KieferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Kiefer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt nur sehr wenige Menschen, die die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera als eine Erzählung wahrnehmen und als solche genießen dürften. Das Medium Film hingegen gilt heute sowohl landläufig wie auch wissenschaftlich als eine Erzählung. Über die Frage, was eine Erzählung ausmacht beziehungsweise wann wir einem Text oder Film das Attribut der Narrativität zuschreiben, herrscht innerhalb der narratologischen Forschung kein eindeutiger Konsens. Reicht das pure Aufeinanderfolgen von Ereignissen oder benötigt das dargestellte Geschehen eine kausalen Zusammenhang oder ein Ereignis im Sinne einer besonderen Begebenheit? Lässt sich die Erzählung durch bestimmte Minimalanforderungen definieren oder handelt es sich bei Narrativität um ein graduelles Phänomen, das am besten prototypisch oder mit Begriffen der Schematheorie beschreiben lässt?

Als ob diese Fragen für eine literaturwissenschaftliche Erzählforschung nicht schon genug Gegenstand für Dissens bieten, stellt sich für eine medienübergreifende Narratologie, die sich etwa auch Film und Computerspielen widmet, noch eine viel tiefergreifende Frage. Nämlich, wer überhaupt in einem meist erzählerlosen Medium erzählt. Die literaturwissenschaftliche Unterscheidung zwischen Autor und Erzählung betrifft jedoch nicht nur die Grundlagen des narratologischen Kommunikationsmodell, sondern stellt wiederum die Basis einiger Fiktionstheorien dar, die in besagter Trennung die Basis der Fiktionalitätserfahrung der Leser und Leserinnen vermutet. Die Unterschiede zwischen Film und literarischer Erzählung beschränken sich jedoch doch offensichtlich nicht nur auf die Vermittlungsebene, da sich der Film im Gegensatz zum literarischen Werk mit weitreichenden Folgen durch eine audiovisuelle Ebene auszeichnet.

Den Besonderheiten des Filmes, die zwar in vielen Büchern postuliert aber nicht immer beschrieben werden, zu Leibe zu rücken, verspricht also ein spannendes Unterfangen zu sein. Leider widmet sich jedoch nur ein einziger Beitrag – bezeichnenderweise der eines renommierten Literaturwissenschaftlers – dem Problem des filmischen Erzählens auf einer allgemein theoretischen Ebene. Alle weiteren Beiträge setzen sich mit spezifischen Filmen, Werksgruppen oder den im Untertitel des Buches genannten Problemfeldern Unzuverlässigkeit, Audiovisualität und Musik auseinander. In seinem Beitrag „Was heißt (Film) Erzählen?“ beschäftigt sich Michael Scheffel, der gemeinsam mit Matias Martinez eine der erfolgreichsten und hilfreichsten Einführungen in die Erzähltheorie verfasst hat, mit den bereits oben angesprochen Problemen. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Film und Literatur sieht Scheffel dabei im Verhältnis von dargestelltem Geschehen und dem Zeitpunkt der Darstellung. Während für das verbale Erzählen im Allgemeinen gilt, dass sie „Nichtaktuelles“ betrifft, dass also das Erzählen auf das Geschehen folgt, fehlt dem Film – auch durch das Fehlen eines personaliserbaren Erzählers – diese Distanz. Er suggeriert in den meisten Fällen ein im Jetzt ablaufendes Geschehen.

Mit sechs von fünfzehn Beiträgen stellt das Thema Unzuverlässigkeit einen Hauptschwerpunkt des Bandes dar. Auch in diesen Beiträgen wird der Bezug der Filmnarratolgie zur literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie mehr als deutlich. Denn das von Wayne Booth entwickelte Konzept der Unzuverlässigkeit ist zunächst am Roman entwickelt worden und an die Existenz eines personalisierbaren Erzählers gebunden. Für den Film, der nicht unbedingt einen identifizierbaren Erzähler aufweist – es sei denn man geht von einem cinematic narrator als Hervorbringer des Filmes aus, stellt sich somit die Frage, wie Unzuverlässigkeit entsteht und wer sie zu verantworten hat. Robert Vogt verschiebt daher in seinem interessanten Beitrag „Kann ein zuverlässiger Erzähler unzuverlässig erzählen“ den Fokus von der Frage der personalisierbaren Erzählinstanz auf die Fokalisierunginstanz und zeigt anhand von David Finchers „Fight Club“ wie durch die Nicht-Markierung einer internen Fokalisierung als solche, Unzuverlässigkeit entsteht. Ist sein Aufsatz auch insgesamt gelungen, so ist die These, unzuverlässiges Erzählen sei eine Sonderform der Ironie jedoch nicht überzeugend. Auch wenn Martinez und Scheffel bereits auf die Nähe der beiden Phänomene hingewiesen haben und beide Formen, das Nebeneinander einer impliziten und expliziten Botschaft teilen, ist doch die Wirkung von unzuverlässigem Erzählen und Ironie grundverschieden. Denn die ironische Botschaft, sofern sie als solche verstanden wird, stellt keineswegs den Sprecher oder seine Fähigkeit, die Welt adäquat darzustellen in Frage. Ironie und unzuverlässiges Erzählen müssten daher eher als zwei Fälle des uneigentlichen Sprechens verstanden werden.

Die beiden weiteren Themenkomplexe widmen sich Audiovisualität und Musik. Während die beiden Aufsätze zur Kohärenzbildung und narrativen Strategien im Musikclip eher weniger Spannendes zu Tage fördern, kann Lars Oberhaus anhand von Filmbeispielen den spezifisch historischen Einsatz von Jazzmusik im Film der 1950er-Jahre und dessen Funktion erläutern. Der Themenblock Audiovisualität ist mit Aufsätzen zu Peter Greenaway, Sitcoms, der Stimme im Film und zum Zusammenhang von Audiovisualität und Emotion weit gefächert. Hier wäre ein einführender Aufsatz in die Problemstellung durchaus hilfreich gewesen, wenn auch einzelne Beiträge wie der von Roy Sommer durchaus aufschlussreich sind.

In seiner Gesamtheit ist die Qualität dieses Sammelbandes leider nur als durchwachsen zu beschreiben. Eine deutlichere Fokussieren auf ungelöste Probleme der Anwendung narratologischer Konzepte auf die die Filmtheorie hätte einem Band mit dem Titel „Erzählen im Film“ besser gestanden als etwa eine Einzelanalyse zur Berliner Schule, die anscheinend versucht, deren elliptischen und ereignisarmen Stil wissenschaftlich nachzuahmen.

Titelbild

Susanne Kaul / Jean-Pierre Palmier / Timo Skrandies (Hg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit - Audiovisualität - Musik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2009.
276 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-13: 9783837611342

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