Ein Weihnachtsgeschenk für erwachsene „Atlas-Kinder“

Judith Schalanskys „Atlas der abgelegenen Inseln“ lädt ein zur imaginären Reise in weit entfernte Paradiese und Höllen

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer in seiner Jugend außerhalb des Erdkundeunterrichts gerne den Schulatlas benutzt hat, um mit dem Finger auf der Karte in abgelegene Weltregionen und auf weit entfernte Inseln zu reisen, kann sich, mit einem Wort der 1980 in der DDR geborenen Schriftstellerin und preisgekrönten (Text-)Designerin Judith Schalansky, als ehemaliges „Atlas-Kind“ bezeichnen. Für ein solches gehört es zu den Schattenseiten des Erwachsenwerdens, dass viele der einst im Atlas entdeckten Weltgegenden, die im Schulalter zu den schönsten Phantasien Anlass gaben, ihren Zauber verlieren, sobald sie tatsächlich bereist oder über die Medien näher erkundet werden.

Mit dem ‚Schicksal‘, nicht mehr unbekümmert und voller Neugier im Atlas auf die Reise gehen zu können, weil man die Welt mit ihren Krisenherden, ökologischen und sozialen Brennpunkten allzu genau vor Augen hat, muss man sich indes nicht abfinden. Mit Schalanskys „Atlas der abgelegenen Inseln“ bietet sich jedem, der sich gerne an die ersten Erfahrungen mit Kartenwerken zurückerinnert, die Chance, sich noch einmal zum Atlas-Kind zu verjüngen. Die von Schalansky berücksichtigten Inseln sind meistenteils so weit von den zugehörigen Ländern entfernt und zudem so klein, dass sie in den handelsüblichen Atlanten kaum zu finden und in den Medien vergleichsweise selten präsent sind. Sie stellen damit ein Neuland dar, das der Leser unbekümmert wie ein Kind mit dem Finger betreten kann. Dabei befriedigt die Autorin, die auch für Illustration, Gestaltung und Satz verantwortlich zeichnet, beim Leser zudem ein Bedürfnis, das bei den Reisen im Schulatlas immer unerfüllte Sehnsucht bleiben musste: Sie liefert Informationen, die weit über jene eines gewöhnlichen Atlasses hinaus gehen. Schließlich ergänzt das typografisch brillant gestaltete Werk die kartografische Darstellung der einzelnen abgelegenen Erdflecken um kurze Prosaskizzen, die das Phantasieren der erwachsenen Atlas-Kinder nicht stören, sondern durch ihre bewusste Fragmentarizität sogar noch anregen.

Bevor der Leser seine schnelle und bequeme Rundreise durch die Weltmeere antritt, ist er in einem einleitenden Essay eingeladen, mit der Autorin unter anderem über den immer schon deutenden Charakter jedes Kartenwerks und über den Reiz und die Qualen eines Aufenthalts auf abgelegenen Inseln nachzudenken, dabei wird er in knappen Worten bereits auf die Besonderheiten etlicher der nachfolgend vorgestellten Inseln hingewiesen.

Die besondere Art und Weise, in der uns Schalansky im folgenden Abschnitt ihres Werks die einzelnen Inseln vor Augen führt, sei an einem Beispiel, dem Porträt der Howlandinsel auf den Seiten 76 und 77 betrachtet. Schlagen wir das Buch an dieser Stelle auf, so erblicken wir auf der rechten Seite eine mehrfarbige kartografische Darstellung der äußeren, recht schlichten Gestalt der Howlandinsel – sie gleicht einem Komma oder einer Kidneybohne. Aus dem beigefügten Maßstab der Karte können wir ersehen, dass sie nicht einmal einen Kilometer breit und nur zwei bis drei Kilometer lang ist. Rund umher erblicken wir, wie bei nahezu allen von Schalansky vorgestellten Inseln, nur eine riesige, angenehm blau gefärbte Meeresfläche. In den oberen Zeilen der gegenüberliegenden linken Seite sind interessante geografische Zusatzinformationen zusammengestellt: Wir erfahren ihre Lage auf den Längen- und Breitengraden, wir lernen über sie, dass sie im Pazifischen Ozean liegt und der Inselgruppe der Phoenixinseln sowie politisch den Vereinigten Staaten zugerechnet wird, dass ihr englischer Name Howland Island lautet (bei anderen Inseln finden sich hier oft auch die Namen, die indigene Bewohner ihnen gegeben haben), dass sie 1,84 km² Fläche umfasst und unbewohnt ist (bei bewohnten Inseln werden an dieser Stelle die Einwohnerzahlen angegeben).

Grafisch als Zahlenstrahlen dargestellt folgen dann die Entfernungen zu Samoa (1640 km), zu Hawaii (3030 km) und zu der ebenfalls im Atlas vorgestellten Insel Pukapuka (1750 km). Abgelegenheit wird hier nicht zweidimensional, sondern linear, gewissermaßen im Stil mittelalterlicher Itinerarien, anschaulich gemacht. Wer sich die Lage der Inseln in der Zweidimensionalität vor Augen führen möchte, kann dazu die Weltkarten am Beginn und Ende des Buches sowie die Karten zum Indischen, Atlantischen und Pazifischen, Arktischen und Antarktischen Ozean konsultieren, die das Buch binnenstrukturieren, oder sich auf der winzigen Weltkugel am rechten oberen Rand der Seite informieren. Unterhalb der Entfernungsstrahlen folgt ein Zeitstrahl, unterteilt in Vierteljahrhunderte von 1500 bis 2000, auf dem in diesem Fall das Datum der Inselentdeckung markiert ist (1. 12. 1828), bei bewohnten Inseln sind hier beispielsweise auch ausgewählte Schlüsseldaten der Inselgeschichte eingetragen.

Der Text, der diesen geografischen Informationen nachgestellt ist, verrät keine weiteren Details zur Insel selbst, etwa zu ihrer Bebauung, ihrem Relief (bei anderen Inseln mit großen Höhenunterschieden wird dieses allerdings in der Karte angedeutet, so dass auf der Howlandinsel wohl keine nennenswerten Erhebungen feststellbar sind) oder ihrer Vegetation, ja nicht einmal zu den näheren Umständen ihrer Entdeckung. Dafür aber erklärt sich aus ihm, warum ein einziger Punkt auf der Insel, ein Leuchtturm, als Earhart Light auf der Karte markiert ist: Skizziert wird der letzte Flug der Flugzeugpionierin Amelia Earhart, die nach einer Atlantiküberquerung zu einer Flugreise über den Äquator aufbricht. Auf dem letzten Wegviertel misslingt ihr dabei der letzte Tankstopp auf der Howlandinsel – die winzige Insel ist ihr durch eine Wolke verborgen –, sie fliegt weiter und ist seitdem verschollen.

Geschichten wie diese, einprägsam und phantasieanregend zugleich, weiß Schalansky von allen 50 Inseln zu erzählen, oder besser: anzudeuten. Von der zum Vereinigten Königreich gehörenden Insel Diego Garcia im Indischen Ozean erfahren wir, dass sie als amerikanische Militärbasis (Camp Justice) dient, während ihre umgesiedelten Einwohner vor Gericht für ihre Rückkehr kämpfen. Das ebenfalls zu Großbritannien gehörige Eiland St. Kilda, anders als die anderen Inseln des Atlasses ,nur’ 160 km von größeren Landmassen, nämlich von der Schottischen Küste, entfernt, wird als Ort eines mysteriösen Neugeborensterbens im 19. Jahrhundert beschrieben (nur der Zeitstrahl benennt es konkreter als „Neugeborenentetanus“). Auf der russische Insel Einsamkeit (Ostrow Ujedinenija, Ensomheden) blättern wir mit der Erzählerin im Logbuch einer verlassenen sowjetischen Wetterstation, auch erfahren wir von einem dort gefundenen „Halswirbel eines urzeitlichen Drachen“, also eines Sauriers. Die französische Sankt-Paul-Insel im Indischen Ozean lernen wir als Wohnort zweier kauziger Franzosen kennen, die sich gegenüber der Besatzung eines 1871 dort strandenden englischen Postschiffs als Gouverneur und Untertan bezeichnen. Von den Einwohnern der Insel Pingelap lesen wir, dass sie farbenblind, von den Insulanern auf Pukapuka dagegen, dass sie sexuell bewundernswert freizügig seien. Bei anderen Inseln wird uns ihre schwere Zugänglichkeit vor Augen geführt (etwa im Fall der Peter-I.-Insel) oder wir werden Zeuge von auf ihnen stattfindenden Überlebenskämpfen Schiffbrüchiger (so auf Tromelin). Schließlich können wir mit und in diesem Atlas auch landschaftlich bizarre und/oder forscherlich interessante Inseln wie Süd-Thule und die Südlichen Keelinginseln und solche Inseln bereisen, auf denen Auswanderer ihre Utopien oder Träume zu verwirklichen suchten (etwa die Insel Tristan da Cunha).

Dem Leser bleibt es überlassen, die Informationen aus den Texten zu bestaunen oder zu bezweifeln, sie mit der Karte zusammenzubringen, sie weiterzuspinnen, sich die Insel in ihrer genauen landschaftlichen Gestalt vor sein inneres Auge zu führen oder genauer: zu träumen – in all dem darf er, obwohl er mehr über die Inseln erfährt als aus einer bloß kartografischen Darstellung, phantasievolles Atlas-Kind bleiben. Neben der aufwändig-vielfarbigen typografischen Gestaltung macht dies den besonderen Charme des Bandes aus, der gerade in Zeiten eines erwachenden Klimabewusstseins dazu einladen mag, die winterliche Düsternis nicht mit dem Flugzeug, sondern auf den Flügeln des Geistes in Richtung ferner Ozeane zu verlassen.

Titelbild

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde.
Mare Verlag, Hamburg 2009.
145 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481176

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