Gemeinschaftliche Sonderbarkeiten

Dominic Eggel und Brunhilde Wehinger haben einen Band zu „Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts“ herausgegeben

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich in zweihundert Jahren die Nachfolgedisziplinen der heutigen Geisteswissenschaften mit der europäischen Wissenschaftslandschaft um das Jahr 2000 beschäftigen werden, um Forschungskonjunkturen in der Zeit nach den Verträgen von Maastricht und Schengen zu bestimmen, werden sie auf eine schier unüberschaubare Menge von Monografien, wissenschaftlichen Tagungen und daraus resultierenden Publikationen stoßen, in denen sich die Autoren Gedanken über die historischen und kulturellen Voraussetzungen des europäischen Einigungsprozesses von der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhunderts machen. Die Flut von Arbeiten zu diesem Thema nimmt der Fragestellung zwar nichts von ihrer Relevanz, macht es aber zunehmend schwerer, sehr viel Neues zu sagen. Da sich jedoch seit Heinz Gollwitzers für den deutschsprachigen Raum grundlegendem Buch von 1951, „Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“, der Blick auf die Konstruktion von staatlichen Gebilden und ihre jeweils mehr oder weniger ‚erfundenen‘ Traditionen gewandelt, durch die postkoloniale Wende globalisiert und insgesamt auch geschärft hat, besteht immerhin die Möglichkeit, bereits Bekanntes neu zu deuten oder sich Phänomenen zuzuwenden, die bislang durch das Raster gefallen sind.

Der vorliegende Band, der aus einem Workshop des Potsdamer Forschungszentrums Europäische Aufklärung vom September 2007 hervorgegangen ist, bietet beides: Relektüren von Klassikern wie Voltaires „Essai sur les mœurs“ (Christiane Coester) oder Novalis’ „Die Christenheit oder Europa„(Christoph Schneider), aber auch Analysen von abgelegeneren Gegenständen wie dem Verhältnis von Festung und Krieg im europäischen Barockgarten (Volker Mende) oder einer Rede zum 45. Geburtstag Friedrich Wilhelms II., die im September 1789 am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin gehalten wurde (Cem Sengül). Neun Beiträger und zwei Beiträgerinnen berichten zum überwiegenden Teil aus laufenden Promotions- beziehungsweise Postdoktoratsprojekten, allerdings erfährt man in der von Dominic Eggel und Brunhilde Wehinger gezeichneten Einleitung nicht für alle Texte, aus welchem Projekt sie hervorgegangen sind, und einen Anhang mit näheren Hinweisen zu den Autoren gibt es so wenig wie ein Namenregister. So kann man nur vermuten, dass nicht bei all diesen Projekten die Frage nach Europakonzepten im Vordergrund steht, und dass für einige Beiträge ein eigentlich anders fokussiertes Textkorpus nun für die Zwecke des Workshops auf daraus eventuell abzulesende Europavorstellungen hin untersucht wurde. Das ändert zwar nichts daran, dass alle Beiträge für sich genommen lesenswert und interessant sind, doch wirkt die zentrale Frage des Workshops bei dem einen oder anderen etwas bemüht.

Nach der Einleitung von Eggel und Wehinger bietet Günter Lottes, der Direktor des Potsdamer Forschungszentrums, einen weit ausgreifenden Überblick über „Grenzen in und um Europa“, in dem er verschiedene Typen von Grenzziehungen skizziert, die unterschiedlichen Versuchen, Europa zu definieren, zugrundegelegt werden können. Die schwindenden Binnengrenzen in Europa führen gegenwärtig zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Außengrenzen und die Abgrenzungen von anderen Kulturbereichen. Die Arbeiten von Larry Wolff zur Erfindung der europäischen Ostgrenzen ab dem 18. Jahrhundert („Inventing Eastern Europe“, Stanford 1994) haben in diesem Bereich einen Forschungstrend ausgelöst, die aktuell vor allem politisch diskutierte Frage nach den kulturellen Grundlagen einer EU-Mitgliedschaft der Türkei wäre ein weiterer Beleg für die Relevanz des Themas. Gerade am Beispiel der Abgrenzungen zwischen Europa und dem Osmanischen Reich kann Lottes die Fluktuation zwischen geografischen und politischen Grenzen illustrieren, die sich in Gestalt der entlang von Flüssen gezogenen Grenzen bis vor kurzem auch als binneneuropäisches Problem darstellte. Mit dem Hinweis auf sprachliche und konfessionelle Grenzen sind weitere mögliche Trennlinien genannt, entlang derer sich Exklusion und Inklusion im Reden über Europa bewerkstelligen ließ und lässt. Die anschließenden Beiträge folgen grob einer chronologischen Ordnung, in der Friedrich Beiderbeck mit seiner Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und dem Abbé de Saint-Pierre um das 1712 bis 1717 entstandene „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ („Entwurf für einen ewigen Frieden in Europa“) des Franzosen den Anfang macht. Dabei wird deutlich, dass, ungeachtet all seiner Schwächen, mit dem Heiligen Römischen Reich das Modell einer europäischen Ordnung vorlag, zu dem sich jeder Friedensplan verhalten musste. Saint-Pierres erstaunlich weitsichtiges Projekt, das einen europäischen Senat vorsah, zu dem ursprünglich auch Vertreter des Osmanischen Reichs gehören sollten, lief auf eine Auflösung des Heiligen Römischen Reichs hinaus und war für Leibniz daher inakzeptabel.

Theodore Christov zeichnet Ansätze für ein föderal organisiertes Europa im 18. Jahrhundert nach, mit denen die Rivalität zwischen den großen Mächten beendet werden sollte. Neben Immanuel Kants „Ewigem Frieden“, der auf der Grundlage eines kosmopolitischen Rechtsverständnisses Kritik am ‚Imperialismus‘ mit einem europäischen föderalen Projekt verband, werden vor allem die Vorschläge John Lockes, David Humes und Samuel von Pufendorfs skizziert. Im Gegensatz zu Locke, der den englischen Kolonialismus rechtfertigte, sprach sich Pufendorf für die Eigentumsrechte der Ureinwohner der kolonisierten Gegenden und gegen ein europäisches Recht auf Eroberung und Landnahme in Südamerika aus, um ähnliche Rechtsgrundsätze dann auch einer föderalen europäischen Ordnung zugrunde zu legen. Am Ende seines Beitrags stellt Christov dann einen Bezug her zwischen den föderalen Modellen des 18. Jahrhunderts, mit denen die traditionelle Rivalität zwischen den großen Mächten überwunden werden sollte, und den Fragen der Osterweiterung der EU. In Volker Mendes Text zum Zusammenhang von Festungsbau und barocker Gartenarchitektur besteht der europäische Aspekt fast ausschließlich darin, dass die betrachteten Anlagen in europäischen Gegenden liegen. Darüber hinaus eine Europavorstellung im Sinne der in den bisher genannten Beiträgen diskutierten Konzepte in diesen Bauten zu finden, scheint kaum möglich zu sein.

Christiane Coester betont in ihrer Analyse von Voltaires „Essai sur les mœurs“, dass Europa im 18. Jahrhundert kaum als präzise geografisch definiert, sondern eher „als ein System von politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, als Kommunikationsraum, […] nur selten aber als fester Ort“ wahrgenommen worden sei. So lassen sich die Oppositionen, die Voltaires Zivilisationsmodell strukturieren, innerhalb Europas ebenso wahrnehmen wie außerhalb: „Wilde“ gibt es auch unter der aus Voltaires Sicht abergläubischen und ungebildeten Landbevölkerung Frankreichs, und im Gegensatz zu den „Wilden“ Amerikas und Afrikas seien die einheimischen „sauvages“ nicht einmal frei. Roland Alexander Ißler stellt in seinem Beitrag einen Teilaspekt seiner Untersuchung des Mythos vom Raub der Europa in der französischen Lyrik vom 14. bis 19. Jahrhundert vor und widmet sich anhand einer Ode Ponce Denis Écouchard Lebruns der Idee der „translatio imperii et studii“, also der historischen Übertragung der Machtfülle und der Wissenschaften von einem Herrschaftsbereich auf einen anderen, vom antiken Griechenland auf das antike Rom, oder von Rom auf das Heilige Römische Reich. Anhand der Variationen des Mythos bei Lebrun, speziell gegenüber der horazischen Fassung im carmen III,27, kann Ißler zwar zeigen, wie in der Ode des französischen Dichters nun Frankreich zum privilegierten Zielort der „translatio“ wird, dass sich daraus aber ein besonderes Europakonzept ableiten lasse, will nicht ganz einleuchten, es sei denn in der Negativformel, dass außer Frankreich nichts in Europa oder sonst irgendwo auf der Welt kulturell und politisch von Belang ist. Vermutlich ist die herrschaftslegitimierende Denkfigur der „translatio imperii“ für den Ausdruck von Europavorstellungen auch nicht geeignet, da sie ja per definitionem eine diachrone Reihe voraussetzt, in der es bei den einzelnen Stationen nie um Europa als Ganzes in einem irgendwie umrissenen Zusammenhang geht, sondern immer nur um eine jeweils als besonders herausragend behauptete, lokal beschränkte Blüte. Daraus ergibt sich eine historische Abfolge, aber kein Gesamtbild eines gegenwärtigen oder gar zukünftigen Europa, wenn nicht in der schemenhaften Weise, dass im strahlenden Licht Frankreichs alle anderen Regionen Europas in einer unbestimmten Zweitrangigkeit versinken.

Einschlägiger sind Friedrich Schillers Stellungnahmen zu Europa, wie Dominic Eggels textnaher Durchgang durch das Gesamtwerk zeigt. Ähnlich wie Voltaire sieht Schiller Europa als den mittleren politischen Zustand zwischen den Extremen Asien („Knechtschaft bey der Kultur“) und Amerika („Wildheit bey der Freyheit“): „Nur Europa hat Staaten, die zugleich erleuchtet, gesittet und ununterworfen sind“, heißt es in der „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. Schillers zeittypischer Eurozentrismus, oder, wie Eggel formuliert, sein relatives Desinteresse für „extra-European alterity“ lasse ihn den beginnenden Prozess der Globalisierung als eine Europäisierung der Welt auffassen. Auch Schillers Europa habe keine genauen geografischen Umrisse gehabt, doch sah er die „europäische Staatengesellschaft“ spätestens durch den Westfälischen Frieden „in eine große Familie verwandelt“, wie er ebenfalls in der „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ sagt. Mit der 1789 in einer Geburtstagsrede für Friedrich Wilhelm II. vorgetragenen Behauptung eines Berliner Gymnasiallehrers, dass in dieser großen Familie nur Preußen ein Hort des Glücks sei, geht Cem Sengül in seinem Beitrag überaus streng um. Die Rede, die der knapp dreißigjährige Lehrer Friedrich Leopold Brunn am Joachimsthalschen Gymnasium hielt, ist eine Festtagsrede zur Feier des Monarchen, der noch nicht einmal persönlich erschienen war. Es überrascht nicht, dass außer Preußen die meisten namentlich genannten europäischen Staaten schlechte Noten bekommen und mit Nationalstereotypen belegt werden. Sengül aber hätte dem Redner mehr Zivilcourage gewünscht und bemängelt, dass er seine Rede am Ende „ohne jeden Anschein von kritischer Haltung […] in Heilsrufe münden“ lasse: „Es lebe Friedrich Wilhelm, der Vielgeliebte, der Gerechte, der Vater seines Volks!“ – aber was, möchte man fragen, hätte der vom „Vielgeliebten“ direkt abhängige Angestellte Brunn anlässlich einer öffentlichen Feierstunde denn sonst tun sollen? Die anschließende Konfrontation der Jubelrede mit einem ausgearbeiteten Polenreisebericht des Herausgebers der „Berlinischen Monatsschrift“, Johann Erich Biester, dessen Grundhaltung Sengül „im Vergleich zu Brunn als tolerant und offenherzig“ bezeichnet, nähert sich bei derart grundverschiedenen Textgattungen dem Vergleich der sprichwörtlichen Obstsorten. Einen dankbareren Gegenstand hat sich Sonja Koroliov gewählt und fragt nach Europabildern in Nikolaj Karamzins „Briefen eines russischen Reisenden“. Karamzins Reisender zeige sich „weder als typischer Russe noch als der westlichen Lebensweise völlig angepasster Europäer“, sondern als Kosmopolit und „bindungsloser Vermittler zwischen den Kulturen“. Wieland attestiert ihm daher auch, er sei nicht wie die Russen, die er bisher kennengelernt habe und die in allem die Franzosen imitierten, sondern er sei „aufrichtig und ganz er selbst“. Europa werde Karamzin zu einem „Text“, den Russland nicht imitieren, sondern zur Grundlage einer eigenen, den Idealen der Aufklärung verpflichteten Originalität machen solle.

In erfreulicher Nüchternheit zeigt Christoph Schneider, warum einer der für die Suche nach Europakonzepten beliebtesten Texte der deutschen Literatur, Novalis’ „Die Christenheit oder Europa“, für genau diese Frage sehr unergiebig ist. Schneider ruft dazu in Erinnerung, dass Titel und Untertitel („Ein Fragment“) nicht von Novalis selbst stammen, sondern von den späteren Herausgebern Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel erst 1826 erfunden worden seien, dass Novalis selbst nur von einer „Rede“ gesprochen habe und dass man nach einer auch nur halbwegs klaren Europavorstellung in dem Text vergeblich suche: „Für einen detaillierten Vergleich seiner Vision mit anderen Europakonzepten, etwa jenen von Kant oder von Saint-Simon und Thierry, bleiben Novalis’ Ausführungen eindeutig zu vage.“ Mehr als „eine Vorstellung von Europa als einheitlich-christlich geprägtem Kulturraum“ lasse sich in der „Rede“ nicht erkennen, welche Länder oder ‚Nationen‘ zu Europa gehören sollen, werde auch an keiner Stelle deutlich. Ähnlich vage sei auch der Gebrauch des Wortes in den historiographischen Entwürfen der Schlegels, wie Leonhard Herrmann im abschließenden Beitrag zeigt. Europa sei kein klar umrissener Begriff, sondern ein „historiographisches Deutungsmuster, das die Konstruktion und Interpretation von ‚Geschichte’ steuere“. ‚Europa‘ stelle eine „übergreifende Norm dar, nach der Elemente der Vergangenheit beobachtet, selektiert, rekombiniert und zu übergreifenden Narrativen verbunden werden“. In „Über das Studium der griechischen Poesie“ von 1797 geht Friedrich Schlegel von „gemeinschaftlichen Sonderbarkeiten“ aus, durch die die zu Europa rechnenden Völker miteinander verbunden seien, doch je länger Schlegel über Europa nachdachte, desto mehr liefen seine Reflexionen auf die Überlegenheit Deutschlands hinaus oder dienten auf philologischem Gebiet der Rekonstruktion vorschriftlicher Epochen der deutschen Kultur, wenn Schlegel etwa hinter der mittelalterlichen romanischen Dichtung die Spuren gotischer Gesänge wittert: „In der französischen Nationalbibliothek in provenzalischer und portugiesischer Literatur Zeugen der verschollenen Ursprünge der deutschen Dichtung zu finden“ – das stehe exemplarisch für die kulturhistoriographische Dimension des Europabegriffs bei Friedrich Schlegel. Auch Ernst Behler hatte bereits 1963 für die letzten Nummern von Schlegels Zeitschrift „Europa“, deren Titel oft fälschlich als in einem europafreundlichen Sinne programmatisch aufgefasst wird, bemerkt, dass sie besser den Titel „Deutschland“ getragen hätten.

Die Beiträge zeigen insgesamt, dass das 18. Jahrhundert auf die eingangs erwähnte Frage nach den geografischen Dimensionen Europas, die aus heutiger Sicht besonders dringend erscheinen mag, nur selten präzise Antworten zu bieten hat und dass selbst die Autoren, deren politische Projekte die heutigen Organisationsformen der EU am weitesten zu antizipieren scheinen, sich damit nur beiläufig beschäftigen. Aber die Erkenntnis, dass man sich beim Nachdenken über die möglichen Schwierigkeiten mit der Osterweiterung und dem Beitritt der Türkei des eigenen Verstandes bedienen muss, wäre ja durchaus im Sinne einiger der hier behandelten Autoren.

Titelbild

Dominic Eggel / Brunhilde Wehinger: Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts. Imagining Europe in the 18th Century.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2008.
204 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783865252173

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