Das umgekehrt proportionale Verhältnis von Umfang und Inhalt

Ina Kerner legt eine höchst anspruchsvolle und innovative, aber nicht immer überzeugende Untersuchung zu Rassismus und Sexismus vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rassismus und Sexismus sind zwei der übelsten und dauerhaftesten Diskriminierungsformen der Menschheitsgeschichte. Und sie sind nicht selten miteinander verwoben. Daher waren beide schon öfter gemeinsamer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Ina Kerner hat nun unter dem Titel „Differenzen und Macht“ eine weitere vorgelegt, in der sie die „Anatomie“ der beiden Phänomene offen legen will.

In ihrer systematisch angelegten Arbeit konzentriert sie sich zunächst auf die „Autonomie von Rassismus und Sexismus“, mithin also auf deren jeweilige „Funktionsmechanismen“, um sich anschließend der Frage nach dem „Verhältnis verschiedener Formen von Rassismus und Sexismus“ zueinander zuzuwenden. Dazu legt sie einige der wichtigsten theoretischen Ansätze und Positionen der Rassismus- und Sexismusforschung dar, ordnet sie und überprüft ihre Plausibilität und Erklärungskraft. Dabei geht es der Autorin weder darum, eine eigene definitorische Begriffsbestimmung oder eine „allgemeine Theorie“ der beiden Phänomene zu entwickeln. Vielmehr möchte sie deren verschiedene Formen kartografieren und so die „komplexe[n], empirisch vielfach miteinander verwobene[n] Machtverhältnisse, die ihre Wirkungen im Zusammenhang kategorialer Differenzierungen zwischen Gruppen von Menschen entfalten“, sichtbar machen. Theoretisch innovativ ist ihre Arbeit auch in anderer Hinsicht. Denn zugleich entwirft sie einen „auf Multidimensionalität und Multiperspektivität abzielenden“ Vorschlag, wie die der Inter- und Transdisziplinarität inzwischen den Rang ablaufende Intersektionalität zu konzeptualisieren sei.

Kerner fasst die Begriffe Rassismus und Sexismus „bewusst weit“, was, wie sich zeigen wird, insbesondere in Sachen Rassismus zu einigen Problemen führt. Erhellend und von nicht geringer Differenzierungs- und Erklärungsmacht ist jedoch Kerners Auffächerung von Rassismus und Sexismus in jeweils drei Dimensionen: eine epistemische, eine institutionelle und eine personale. In ihr spiegelt sich die Erkenntnis, dass Rassismen und Sexismen von Diskursen, gesellschaftlichen Strukturen und Personen „ausgehen und aufrechterhalten“ werden können sowie umgekehrt auf sie einwirken. Die Teile der Trias sind untereinander durch „Interdependenzen“ verbunden, die „partielle Ununterscheidbarkeitseffekte“ hervorrufen können. Die epistemische Dimension korrespondiert dabei mit der diskursiven Ebene, die institutionelle Dimension mit gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen und die personale Dimension mit „Akteure[n]/Akteurinnen“ und deren „unbewussten und bewussten Einstellungen“.

Wie Kerner weiter ausführt, sind die Institutionalisierungen der beiden Diskriminierungsformen oft an „epistemische Elemente“ gebunden, wobei sich nicht selten „Rückkopplungseffekte“ feststellen ließen. Als Beispiel führt sie an, dass sich „Heteronormativität und Normalisierung monogamer heterosexueller Beziehungen einerseits und die heterosexuellen Paaren vorbehaltene staatlich privilegierte Ehe andererseits wechselseitig“ stabilisieren. Dem ist zweifellos so. Nicht recht einsichtig will aber werden, inwiefern diese missliche Interdependenz als Beispiel für Rassismus und Sexismus dienen kann. Geht es hier doch vor allem um Heteronormativität. Und die ist per se weder rassistisch noch sexistisch, sondern heterosexistisch. Auch muss Heterosexismus keineswegs notwendig mit der Diskriminierung aufgrund der Zuschreibung einer ‚Rassen‘zugehörigkeit oder eines Geschlechts einhergehen. Auf der gleichen Seite des Buches wirft noch eine weitere Feststellung Fragen auf. „[R]assistisches und sexistisches Wissen“, legt Kerner dar, „kann […] dazu führen“, „dass sich Weiblichkeitsnormen, die sich in erster Linie auf inländische, christliche oder säkular sozialisierte Akademikerinnen beziehen, und Weiblichkeitszuschreibungen, deren Zielobjekte gläubige Muslima aus eingewanderten Familien sind, beträchtlich unterscheiden.“ (Hervorhebung R.L.) Nun zielen Weiblichkeitszuschreibungen und -normen eo ipso nicht auf bestimmte Gruppen von Frauen, sondern auf alle Frauen. Zudem vermischt Kerner unter der Hand Normen und Zuschreibungen. Erstere zielen präskriptiv auf ein Sollen, letztere deskriptiv auf ein Sein, wie falsch auch immer die Be- und Zuschreibungen letzterer sein mögen. Zudem ist Kerners These denkbar schwach. Und dies aus zwei Gründen: zum einen durch die – um mit Kant zu reden – der Modalität nach problematische Urteilsform und zum zweiten weil antirassistisches und antisexistisches Wissen ebenfalls zu unterschiedlichen ‚Weiblichkeitszuschreibungen‘ und -normen für Akademikerinnen einerseits und Muslimas andererseits führen können.

Derlei sprachliche Unschärfen, die ihre Ausführungen interpretationsbedürftig machen, unterlaufen Kerner öfter einmal. Zwei Seiten nach den eben zitierten Stellen, erklärt sie etwa die epistemische Dimension von Rassismus und Sexismus reiche „von vermeintlich wohlwollenden bis hin zu feindlichen Formen“. Unklar bleibt hier zunächst einmal, was der Topos „vermeintlich wohlwollend“ besagen soll. Meint hier jemand, er oder sie selbst wolle wohl, täuscht sich aber in seiner/ihrer Absicht und will es gar nicht wirklich, sondern ist vielmehr indifferent oder gar Übel wollend? Das scheint wenig plausibel. Denkbar wäre aber auch, dass gemeint ist, die Absichten seien zwar wohlwollend, aber übelwirkend. Nun spricht Kerner allerdings gar nicht von Personen und ihren Absichten, sondern von „vermeintlich wohlwollende[n] Formen rassistischen Wissens“. [Hervorhebungen R.L.] Damit spricht sie Wissen Subjektcharakter und Intentionalität zu. Denn es will etwas, wenn auch nur vermeintlich, nämlich wohl. Das legt nahe, dass Personen, die dieses Wissen nicht teilen, gemeinhin vermeinen, es sei wohlwollend, was es tatsächlich aber nicht ist, wie die Autorin – möglicherweise mit anderen – durchschaut. Das vermeintlich wohlwollende Wissen spiegelte dann andere Absichten vor, als es tatsächlich hat. Auch das ist wenig überzeugend. Tatsächlich gemeint ist wohl, dass ein bestimmtes Wissen zwar wohl will, entgegen seiner Intention allerdings übel wirkt.

Im ersten der beiden Hauptabschnitte des vorliegenden Buches befasst sich Kerner mit Begriff und Phänomen des Rassismus, im zweiten mit Sexismus, im letzten der drei Hauptteile beleuchtet sie das Verhältnis beider zueinander zu. Aus guten Gründen verzichtet Kerner darauf, den Aufbau der beiden Rassismus und Sexismus gewidmeten Kapitel bis ins Detail zu parallelisieren, sondern entwickelt sie entsprechend der jeweiligen Eigenheiten der Untersuchungsgegenstände. So machen Darstellungen von Rassismus- und Sexismustheorien zwar einen wesentlichen Teil der jeweiligen Kapitel aus, der Zugang zu ihnen wird jedoch über verschiedene Schritte gefunden. Steigt Kerner mit einer kritischen Würdigung der „Geschlechtertheorien des Vatikans“ und des ebenso berüchtigten wie verkaufstechnisch erfolgreichen „Populärbiologismus“ des Ehepaares Allan und Barbara Pease in das Sexismuskapitel ein, so lässt sie das Rassismuskapitel mit einer Erörterungen der „Grundlagen, Definitionen und Begriffe“ von Rassismus und ‚Rasse‘ beginnen.

Der Begriff Rassismus wurde Kerner zufolge „in Frankreich und Großbritannien während der 1930er Jahre“ geprägt, ohne dass sie dafür allerdings eine Quelle, einen Beleg oder wenigstens die älteste ihr bekannte Fundstelle nennen würde. Tatsächlich liegt die Vermutung nahe, dass er älter ist und schon in den 1920er-Jahren nicht unbekannt war. Immerhin benutzt Karl Kraus zumindest den Ausdruck „Rassisten“ bereits in seinem 1926 erschienenen Text „Kerr in Paris“. Genauer benennt Kerner da schon die Grundlagen ihrer Kenntnisse über die Ursprünge des Begriffs Sexismus, der laut dem „Oxford English Dictionary“ erstmals in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auftauche.

Wann auch immer der Begriff Rassismus geprägt worden sein mag, jedenfalls dient er Kerner zufolge derzeit „zur Bezeichnung eines diffusen Feldes unterschiedlichster und global verbreiteter Diskriminierungs- und Ausgrenzungsphänomene, denen Personen aufgrund einer selbst- oder fremdzugeschriebenen, als biologisch oder kulturell fundiert wahrgenommenen Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt sein können.“ Sofort kommt einem in den Sinn, dass es im menschlichen Dasein rein gar nichts gibt, dass weder biologisch noch kulturell ist. Damit wären gemäß obiger Bestimmung sämtliche Diskriminierungs- und Ausgrenzungsphänomene rassistisch und zwar ohne jede Ausnahme. Ein Überlegung die Kerner in dieser Schärfe zwar nicht anstellt. Doch weist sie darauf hin, dass sich aufgrund der begrifflichen Unschärfe dieser Definition, die Frage stellt, „wie Rassismus eingegrenzt werden kann und sollte, wie und auf welcher Grundlage er funktioniert und wer von ihm auf welche Weise betroffen ist“. Genau darum geht es, wenn sie mit den „viel diskutierten konzeptionellen Vorschläge“ von Albert Memmi, Robert Miles und Colette Guillaumin drei „exemplarisch[e]“ Rassismustheorien vorstellt und auf ihre Stichhaltigkeit hin befragt.

Alberti Memmi, dem „jede Bekundung von Stolz auf eine spezifische Identität suspekt“ ist (sei es nun „die Parole ‚Black is beautiful“ oder „der Stolz darauf, eine ‚Frau, Jude oder Bretone zu sein‘“), definiert Rassismus einem Zitat Kerners zufolge als „die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden des Opfers, mit der seine [des Anklägers] Privilegien oder seine Aggression gerechtfertigt werden sollen“. Indem Memmi den Begriff „Rasse“ als „letztlich verzichtbar“ von seiner „Rassismusanalyse“ abkoppelt, kann er den Terminus als „Oberbegriff für alle Varianten differenzgestützter Rechtfertigungen von Privilegien und Aggressionen“ einsetzen. Kerner interpretiert das dahingehend, dass es Memmis Auffassung zufolge für den Rassismus „nicht so wichtig“ sei, „auf welcher Grundlage er seine Differenzen postuliert. Sie können als biologisch oder als kulturell wahrgenommen werden.“

Nun würde man vielleicht erwarten, Kerner würde an dieser Ausweitung des Umfangs des Rassismus-Begriffs auf Kosten seines Inhalts vehemente Kritik üben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie vermeint in Memmis Rassismus-Konzeption vor allem „Vorzüge“ ausmachen zu können. Tatsächlich aber sind seine eklatanten Schwächen unübersehbar. Zunächst zu den wissenschaftlichen, um die es in einer einschlägigen Arbeit ja vor allem gehen sollte. Memmi verzichtet mit seiner Bestimmung auf einen Begriff zur spezifischen Bezeichnung von Diskriminierungen, die auf (pejorativen) rassisierenden Zuschreibungen beruhen. Damit verschwimmt der wissenschaftliche Blick auf eine der fatalsten gruppenspezifischen Diskriminierungen.

Hinzu tritt eine weitere eher politische Schwäche. Wenn jede dem eigenen Vorteil dienende Diskriminierung rassistisch ist, verliert der Rassismus-(Vorwurf) seinen Schrecken. Denn nicht jede Form der Diskriminierung führte bislang in der Menschheitsgeschichte zum millionenfachen Mord und Völkermord, wie es der (nun im herkömmlichen engeren Sinne verstandene) Rassismus mit seinen biologisch begründeten Zuschreibungen etwa als Antisemitismus bekanntlich bereits mehrfach tat. Mit diesem Einwand soll keineswegs bestritten werden, dass die Geschichte auch nicht-rassistisch begründete Massenverfolgungen und -morde kennt. Man denke nur an Stalins Kampagne gegen die Kulaken, der Millionen russischer Bauern zum Opfer fielen.

Robert Miles, der zweite von Kerner vorgestellte Rassimus-Theoretiker kritisiert zurecht Memmis „Überdehnung der Begriffe“. Für Miles’ rassismustheoretischen Ansatz ist der ‚Rasse‘-Begriff demgegenüber sogar zentral. „Rassekonstruktionen (racialisation)“ bezeichnet er als „ideologische Bedeutungsbildung“, bei der „eine soziale Gruppe als eine diskrete und besondere, sich selbst reproduzierende Bevölkerung konstruiert wird“. Dies geschehe „unter Bezugnahme auf bestimmte (reale oder vorgestellte) biologische Merkmale und durch eine Verknüpfung mit anderen, negativ bewerteten (biologischen und/oder kulturellen) Eigenschaften.“ Formen des – wie Kerner sagt – „Rassismus“, die nicht auf einen „expliziten ‚Rasse’-Diskurs“ rekurrieren, bezeichnet Miles als „Ethnozentrismus“. Kerner kritisiert an Miles’ Konzept nun ausgerechnet, dass es „die von Memmi thematisierten kulturellen Varianten des Rassismus nicht fassen“ könne.

Doch dieser Vorwurf geht ins Leere. Denn natürlich ist Miles’ Ansatz durchaus dazu in der Lage. Nur fasst er sie nicht unter den Begriff „Rassismus“ sondern unter den des „Ethnozentrismus“. Ebenso unsinnig ist Kerners Vorwurf, dass eine Rassismustheorie, „die sich auf biologische Formen des Rassismus beschränkt“, sich „selbst die Reichweite ihrer Aussagekraft [beschneidet]“. Jede Theorie, die überhaupt irgendetwas aussagen will, muss notwendigerweise ihre Gegenstände und somit die Reichweite ihrer Aussagekraft beschränken. Denn je weitreichender sie sein will, umso weniger aussagekräftig ist sie, wie sich etwa an Memmis Rassismus-Theorie zeigt. Und eine Theorie unbeschränkter Reichweite (die berühmte ‚Theorie für alles‘) würde schließlich überhaupt nichts mehr aussagen.

Colette Guillaumins Rassismusverständnis zielt der Darstellung Kerners zufolge schließlich auf „eine gesellschaftliche Praxis und eine institutionelle und/oder staatliche Form, die neben expliziten auch implizite und zum Teil unbewusste Zugangsweisen zur Welt umfasst“. Guillaumin betone zwar, „dass der ‚Rassismus‘ per definitionem auf dem Begriff der ‚Rasse‘ beruhe“, doch seien ihrer Auffassung gemäß Alltagsvorstellungen von ‚Rasse‘ und die mit ihnen einhergehende Ansicht, „die Existenz physischer Gemeinschaften sei evident“, wichtiger für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den „beobachtbare[n] Ausprägungen des Rassismus“ als „explizite Rassenkonzeptionen oder -theorien“. In diesen Alltagsvorstellungen von ‚Rasse’ macht Guillaumin nun vier „Differenzkennzeichen“ aus: „morphophysiologische“, „soziale“, „symbolische beziehungsweise geistige“ sowie schließlich „imaginäre“. Das Quartett bildet der Theoretikerin zufolge ein „synkretinistische[s] Ganze[s]“, wobei der „ganz schlichte Rassismus der Straße“ insbesondere die physischen und sozialen Differenzkennzeichen verschmelze. Hierzu sind einige kritische Überlegungen anzustellen. Denn wenn, wie unausgesprochen auch immer, die soziale Differenz nicht auf eine (vermeintlich) physische zurückgeführt wird, ließe sich statt von Rassismus ebenso gut von Kulturalismus sprechen. Unzutreffend wäre allerdings wohl beides, da sich kulturalistische Vorstellungen und Motive der Diskriminierenden mit rassistischen verbinden. Auf Rassismus zu reduzieren sind Haltungen und Diskriminierungen jedenfalls nur, wenn Guillaumins Differenzkennzeichen zwei bis vier (soziale, symbolische beziehungsweise geistige und imaginäre) ursächlich auf das Differenzkennzeichen eins (morphophysiologische) zurückgeführt werden. Guillaumin macht nun allerdings ganz im Gegenteil eine „zunehmende Verschiebung von somatischen oder als somatisch angenommenen Differenzkennzeichen hin zu kulturellen Kriterien“ aus. Angenommen, das trifft zu, so ließe sich in dieser Entwicklung allerdings ein Indiz dafür sehen, dass der Rassismus gegenüber dem Kulturalismus an Bedeutung verliert.

Kerner selbst glaubt in einer „weiten Konzeption“ des Rassismus-Begriffs einen Vorteil zu erkennen, da sie es ermögliche „den normativ stark aufgeladenen Begriff ‚Rassismus‘ auf ein vergleichsweise breites Spektrum von Phänomenen anzuwenden“. Das ist nun allerdings keine wissenschaftliche, sondern eine politisch-taktische Überlegung, die zudem übersieht, dass die normative Stärke der Rassismuskritik umso mehr abnimmt, je breiter das Spektrum der Diskriminierungen wird, auf die sie angewandt wird.

Wissenschaftliche Nachteile dieser weiten Rassismuskonzeption erkennt auch Kerner. „Rassismustheorien, die ihren Gegenstand nicht klar eingrenzen, sind schnell dem Einwand ausgesetzt, terminologisch diffus zu bleiben.“ Doch werde dieser Nachteil durch „empirische Vorteile“ aufgewogen. Ob es diese empirischen Vorteile tatsächlich gibt, ist allerdings fraglich. Es sei denn, man betrachtet es als Vorteil, möglichst viel unter einen Begriff subsumieren zu können, der dann zwar einen großen Umfang mit allerdings geringem Inhalt hat.

Wohin mangelndes begriffliches Unterscheidungsvermögen zudem führen kann, zeigt sich, wenn Kerner wie selbstverständlich den zur Pathologisierung von IslamkritikerInnen dienenden islamischen Kampfbegriff der Islamophobie in einem Atemzug mit dem Antisemitismus nennt, der als Shoah immerhin zum größten (rassistisch motivierten) Völkermord der Menschheitsgeschichte führte. Beide seien sie, meint Kerner, „vom Rassismus nicht kategorial zu unterscheiden, sondern als unterschiedliche Variationen desselben zu betrachten und zu analysieren“. Damit verabschiedet sie nicht nur wissenschaftliches Differenzierungsvermögen, sondern betreibt ganz nebenbei, wie unwillentlich auch immer, nicht nur das Geschäft von Islamisten, sondern verharmlost fatalerweise auch noch den Antisemitismus.

Den ebenso knapp wie gründlich dargestellten, von Kerner aber wenig überzeugend bewerteten drei wirkungsmächtigen rassismustheoretischen Ansätzen von Memmi, Miles und Guillaumin folgt ein konziser Abriss der Geschichte rassistischer Ideologien. Eine gewisse Schieflage entsteht allerdings dadurch, dass sich Kerner abgesehen von der Erwähnung des Pharaonen-Reiches weitgehend auf ‚westliche‘ Varianten beschränkt.

Gegen Ende nähert sich das Rassismus-Kapitel wieder aktuell diskutierten Rassismus-Theorien. Eher am Rande erwähnt Kerner die kruden Ideen des Rassismusforschers Siegfried Jäger. Er vertritt die Auffassung, „dass die Konstruktion einer Gruppe als minderwertig durch eine andere Gruppe lediglich dann als rassistisch bezeichneten werden sollte, wenn der Konstruktionsprozess von einer gesellschaftlich dominanten Gruppe ausgeht und sich gegen eine untergeordnete Gruppe richtet“. Vergewaltigten islamisch sozialisierte Migranten aus „Hartz IV“-Familien deutsche Frauen, die in Lohn und Brot stehen, und rechtfertigten das damit, dass deutsche Frauen doch ‚eh alles Nutten‘ seien, so müsste man darin Jägers Theorie zufolge wohl zwar eine womöglich sexistische, jedenfalls aber nicht rassistische Handlung und Begründung sehen.

Intensiver als Jäger widmet sich Kerner zuvor Etienne Balibar und Pierre André Taguieff. Balibar entwirft „unter Rekurs auf rein kulturelle Differenzpostulate“ eine Theorie des „Neo-Rassismus“ und verzichtet ganz auf „biologische Verweise“. „[S]tatt Hierarchien zwischen verschiedenen ‚Rassen‘“ postuliere der Neo-Rassismus „Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen“. Nun werden ja wohl auch Balibar und Kerner nicht bestreiten, dass es verschiedene Kulturen gibt, andernfalls wäre ja bereits die Pluralbildung sinnlos. Die verschiedenen Kulturen kann man zwar nicht auf einer Skala der Rückständigkeiten und Fortschrittlichkeiten ordnen oder sonst wie hierarchisieren. Doch lassen sie sich sehr wohl in dem Sinne beurteilen, dass es vorzuziehen ist, in einer bestimmten lieber leben zu wollen als in anderen. Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass diese Präferenz nach objektiven Kriterien erfolgt, die alle Menschen teilen müssen. Doch ganz unabhängig davon müssen kulturelle Praktiken und Traditionen prinzipiell kritisierbar sein. Andernfalls ließen sich beispielsweise weder die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit oder das hochherrschaftliche Recht der ersten Nacht noch das bei Skinheads und anderen Neonazis beliebte ‚Fitschi-Klatschen‘ oder auch nur Religion und Aberglaube kritisieren.

Balibar identifiziert Kerner zufolge zwei „Naturalisierungsmuster menschlicher Verhaltensweisen“, deren erstes besagt, „dass die Zugehörigkeit zu einer kulturell konstituierten Gruppe kategorisch mit der Ausprägung kulturspezifischer Eigenschaften – man könnte auch sagen: einer kollektiven und personalen zweiten Natur – assoziiert wird.“ Das zweite Muster basiere hingegen auf „soziobiologische[m] Gedankengut“ und sei durch den „Wille[n] zur Reinhaltung der eigenen Kultur“ gekennzeichnet, der „rassistisches Verhalten selbst zur natürlichen Regung“ erkläre. Diese Haltung bezeichnet Balibar als „Meta-Rassismus“ oder „Rassismus zweiter Linie“. Tatsächlich sind RassistInnen stets bestrebt, nicht nur ihre ‚Rasse‘ sondern auch ihre Kultur ‚rein‘ zu halten. Eine Kultur (oder Subkultur) ‚rein’ halten zu wollen, muss jedoch andererseits keineswegs notwendig mit Rassismus einhergehen, wie etwa schon ein Blick in die Fankultur(en) der verschiedenen Fußballvereine zeigt, die höchsten Wert darauf legen, ihre je eigenen Traditionen, Accessoires, Rituale oder Gesänge nicht mit denjenigen eines anderen Teams vermischt zu sehen. Doch abgesehen davon gibt es selbstverständlich keine ‚reinen Kulturen‘ und es kann sie auch gar nicht geben, weder nationale, völkische noch sonstige. Vielmehr befinden sie sich nicht nur in stetigem Wandel und Austausch mit anderen Kulturen, sondern setzen sich auch aus zahllosen einander überschneidenden Subkulturen zusammen. Wenn allerdings (wie von Balibar angeführt) argumentiert oder angenommen wird, es gebe „biologische (und biopsychische) Ursachen und Wirkungen der Kultur, sowie biologische Reaktionen auf die kulturelle Differenz (die gleichsam so etwas wie eine unauslöschliche Spur der Animalität des immer noch an seine erweiterte ‚Familie‘ und an sein ‚Territorium‘ gebundenen Menschen bilden)“, so öffnet das dem Rassismus wahrhaftig Tür und Tor.

Wie Kerner darlegt, gibt es Balibar zufolge jedoch auch eine Form des Neo-Rassismus, der auf „rein kultureller Grundlage“ basiert. Dieser habe sich „den Vorrang des individualistischen Modells“ auf die Fahne geschrieben. Doch damit nicht genug, Balibar wirft dem Universalismus „rassistische Tendenzen“ vor. Die Annahme, den Rassismus im Namen des allgemeinen Universalismus bekämpfen zu können, zitiert Kerner Balibar, sei „lächerlich“, denn „der Rassismus ist schon in ihm enthalten“. „Allerdings“, so Balibar weiter, bedeute dies nicht „jeglichen Universalismus aufzugeben“. Vielmehr gelte es einen „nichtrassistischer Universalismus“ zu entwickeln.

Taguieff, den Kerner im Anschluss an Balibar behandelt, argumentiert, dass der „Neo-Rassismus“ auch den Kulturrelativismus „vereinnahmt“ habe. Denn in dieser Variante werde das Hohe Lied auf das „Lob der Differenz“ gesungen und Unterschiede um ihrer selbst willen verherrlicht. Dieser „heterophile Neo-Rassismus“ sei ebenso „eindeutig mixophob“ und „gegen Vermischung gerichtet“ wie schon der herkömmliche Rassismus. Taguieff wendet sich wörtlich sowohl „gegen den anthropophagen Rassismus, die Maschine, die die Unterschiede zwischen den Menschen verschlingt“ wie auch „gegen einen mixophoben Rassismus, diesen falschen Respekt für das Andere/den Anderen“ und plädiert – nun in den Worten Kerners – „für einen vorsichtigen Universalismus, insbesondere für die Bezugnahme auf Menschenrechte“. Leider führt die Autorin diese durchaus interessante Position nicht weiter aus.

Der „differentialistische Neo-Rassismus“ ließe sich als „eine Form des Ethno- oder zumindest Soziozentrismus“ beschreiben, überlegt Kerner im Anschluss an die Darstellung der Positionen Balibars und Taguieffs. Doch werde „die Angelegenheit“ spätestens jetzt „kompliziert“. Denn ob Ethnozentrismus tatsächlich rassistisch oder auch nur „problematisch“ ist, sei in der Community der RassismusforscherInnen „heftig umstritten“. Und die GegnerInnen dieser Auffassung fänden sich keineswegs nur „im neurechten Lager“. Doch je komplizierter es wird, umso differenzierter argumentiert Kerner. Dies sei ohne weiteres anerkannt und sogar hervorgehoben, ohne darum stets mit ihr konform zu gehen.

Ihr Lösungsvorschlag dieses komplizierten Sachverhaltes besteht nun in der bereits eingangs erwähnten Auffächerung des Rassismus (und des Sexismus) in eine epistemische, eine institutionelle und eine personale Dimension. Dies bietet ihr zufolge die Möglichkeit einer differenzierteren Analyse seiner Formen, die sich so zudem besser miteinander vergleichen ließen. Denn mit Hilfe der Trias sei es nun möglich, „nach rassistischen Kriterien strukturierte institutionelle Arrangements, die ihrerseits weitgehend klare Identifikationen der durch sie privilegierten und der durch sie benachteiligten Personen erlauben, von rassistischen Denk- und Handlungsweisen [zu] unterscheiden, denen sowohl Privilegierte als auch Benachteiligte rassistisch strukturierter Kontexte verfallen können.“ Das ist nicht nur der Kern und der Clou des vorliegenden Buchs, sondern im Unterschied zu manch anderer ihrer Ausführungen ebenso innovativ wie erhellend und überzeugend.

Im folgenden argumentiert sie dann jedoch wieder weniger nachvollziehbar. So plädiert sie dafür, dass „die Art der Bezüge der Unterscheidungen, die zur Abgrenzung zwischen und gegebenenfalls Hierarchisierung von Menschen und Menschgruppen herangezogen werden“, nicht dafür ausschlaggebend sein soll, ob diese als rassistisch bezeichnet werden sollen, sondern die „Kategorialität der Unterscheidung selbst“ und deren „politische Implikationen“. Dann sei es unerheblich, ob einer „Tat“ nun „biologische Differenzen“ zugrunde liegen oder „kulturelle“, denn der Begriff des „Rassismus“ sei in beiden Fällen „gerechtfertigt“. Das missachtet nicht nur alle oben angeführten Argumente gegen den weiten Rassismusbegriff, sondern lässt zudem außer Betracht, dass Menschen ihre Biologie (zumindest bislang) zwar hinsichtlich ihres Geschlechts (und auch da nur höchst eingeschränkt und oft unter Inkaufnahme größerer Operationen) wählen können, nicht aber ihre von RassistInnen als biologisch vorgegeben unterstellte ‚Rassen‘zugehörigkeit. Die Zugehörigkeit zu einer (Sub-)Kultur steht hingegen weit einfacher zur individuellen Disposition. Auch den möglichen Einwand, „dass kulturalistischer, differentialistischer oder auch ‚neuer‘ Rassismus und Ethnozentrismus nicht mehr klar unterscheidbar sind“, wischt sie mit der Bemerkung vom Tisch, dass dies „nicht als definitorische Schwäche gewertet werden“ müsse. Denn „[d]ass sich verschiedene Varianten von Rassismus unterscheiden lassen und dass eine solche Unterscheidung analytisch hilfreich ist, ficht eine derartige weite Rassismusdefinition ja keinesfalls an. Im Gegenteil.“ Gerade wenn die Rassismustheorie an der Analyse der „Funktionsmechanismen“ verschiedener Formen von Rassismus interessiert sei, sei sie auf eine weite Definition angewiesen. Entsprechend dieser ‚Logik‘ ließe sich auch argumentieren, alles Obst müsse zu Birnen umdefiniert werden, denn erst dann könne man kleine runde Birnen von roter Farbe und einem Kern in der Mitte von länglichen gebogenen Birnen, deren gelbe Schale ungenießbar ist, unterscheiden.

Weit konsensfähiger als Kerners Ausführungen zum Rassismus ist ihr Sexismus-Kapitel, das mit einer Brockhaus-Definition aus dem Jahre 1996 einsetzt. Diese definiert Sexismus als Bezeichnung „für jede Art der Diskriminierung, Unterdrückung, Verachtung und Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts sowie für die Ideologie die dem zugrunde liegt“. Wie Kerner anmerkt, erlaubt diese Definition, die drei von ihr entwickelten Dimension des „Gesamtphänomen[s]“ zu unterscheiden. Damit sei sie „analytisch attraktiv“. Der Rezensent teilt Kerners Zustimmung zu der Definition; mit einem Abstrich allerdings. Er würde statt der Wendung „aufgrund ihres Geschlechts“ die Formulierung „aufgrund des ihr zugeschriebenen Geschlechts“ vorziehen. An anderer Stelle macht Kerner deutlich, dass auch sie „eindeutig definierte Geschlechtsgruppen“ als „theoretische Grundlage“ ablehnt. Vielmehr müssten diese selbst als Teil des Problems verstanden und analysiert werden. So fallen denn ihre Ausführungen und Wertungen im Sexismus-Teil weithin überzeugend aus. Mag man ihr auch hier nicht in jedem Detail zustimmen, so doch im Grundsätzlichen.

Zu den Sexismustheoretikerinnen und Feministinnen, denen sie ihre besondere Aufmerksamkeit gönnt, zählen natürlich Simone de Beauvoir und Judith Butler sowie Catharine MacKinnon, Frigga Haug und die französische Philosophin Sylviane Agacinski, deren These einer „natürliche[n] Sex-Dichotomie“ sie aus guten Gründen kritisch beleuchtet, besagt sie doch etwa, „kulturellen Gender-Interpretationen“ sei ein „Geschlechtsbewusstsein“ „vorgelagert“, das „durch die Erfahrung der Fortpflanzung und damit der Elternschaft geprägt“ sei.

Natürlich kann man in der Riege der vorgestellten Sexismustheoretikerinnen und Feministinnen einige wichtige Autorinnen wie etwa Donna Haraway vermissen. Zu knapp behandelt Kerner auch den Postfeminismus, der ihr kaum mehr als eine Fußnote wert ist, in der einige populäre, von ihr als postfeministisch identifizierte Schriften genannt werden, als gäbe es keinen ernstzunehmenden wissenschaftlichen Postfeminismus. Über die Inhalte postfeministischer Bestrebungen erfährt man nur, dass er eine „diffamierende Kritik“ an der zweiten Welle der Frauenbewegung übe. Eine Behauptung, bei der es sich bestenfalls um eine Halbwahrheit handelt.

Im letzten der drei großen Abschnitte erörtert Kerner das Verhältnis der beiden Diskriminierungsformen zueinander. Setze die bisherige Forschung meist entweder auf Analogiebildungen zwischen Rassismus und Sexismus oder verstehe die beiden Phänomene als mit einander verflochten, so versucht sie selbst plausibel zu machen, dass beide konkurrierenden Ansätze für das Verständnis des Verhältnisses von Rassismus und Sexismus nützlich sind. Zudem gebe es weitere „hilfreiche Relationsbestimmungen“. Dies führt sie anhand der von ihr entwickelten „vier Modi des Rassismus-Sexismus-Verhältnisses“ überzeugend aus. Es handelt sich um „Ähnlichkeiten“, „Unterschiede“, Kopplungen“ und „Verfechtungen beziehungsweise Intersektionen“. Kerner plädiert nun dafür, „auf spezifische Problemkontexte mit [diesen] vier unterschiedlichen Fokussierungen zu blicken und danach zu überlegen, welches gegebenenfalls komplexe und mehrdimensionale Bild dabei entsteht.“

Zuletzt wendet sie sich noch einem „fünften Verhältnistyp“ zu, den sie in die „Verknüpfung zwischen Feminismus und Rassismus“ und die „Verknüpfung zwischen Antirassismus und Sexismus“ aufteilt. Eigentlich aber interessiert sie sich ganz offensichtlich nur für die erste der beiden Verknüpfungen, mit der sie sich luzide und nachvollziehbar über zehn Seiten hinweg befasst, während ihr für die zweite eine knappe halbe Seite genügt. Dieses Missverhältnis verwundert doch sehr angesichts all jener, die sich weltweit jegliche Kritik an sexistischen Geschlechterverhältnissen, gesellschaftlichen Strukturen sowie alltäglichen Praktiken und Ideologien einschließlich der Religionen mit der beliebten Immunisierungsstrategie verbitten, diese Kritik als rassistisch zu denunzieren. Auf diese Weise wird versucht, Kritik an den übelsten Verbrechen wie Säureattentate auf heiratsunwillige und andere Frauen, Vergewaltigungen, Zwangsheirat, ‚Ehren‘mord, Witwenverbrennung und weibliche Genitalverstümmelung abzuwehren. Dass Kritik an vergleichbaren rassistischen Verbrechen mit der Begründung, sie sei sexistisch, zurückgewiesen wird, ist hingegen nicht bekannt.

Abschließend sei noch einmal positiv hervorgehoben, dass sich Kerner gründlich in die verschiedenen Rassismus- und Sexismus-Theorien eingearbeitet hat, und dass sie es versteht, sie und ihre Streitpunkte konzis darzulegen. Nicht zu vergessen, ihre erhellende Auffächerung der drei Dimensionen von Rassismus und Sexismus und der vier Modi des Rassismus/Sexismus-Verhälnisses.

Titelbild

Ina Kerner: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
413 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783593385952

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