Zählen in Seoul

Über die Erzählungen von Kim Sung-Ok

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Schriftsteller, die liefern ein frühes Meisterwerk ab und haben damit auch gleich Erfolg. Sind sie auf diese Weise in den Literaturbetrieb geraten und haben sie auch keinen anderen Beruf gelernt, so schreiben sie weiter – Roman um Roman, Hunderte öder Seiten, im schlimmsten Fall jahrzehntelang. Das kann man dem 1941 geborenen Kim Sung-Ok nicht vorwerfen: Fast alle seiner wenigen Erzählungen entstanden zwischen 1962 und 1966, und in den folgenden gut vierzig Jahren sind nur wenige Nachträge zu einem Werk entstanden, das wohl – wenn auch der Autor noch lebt – als weitgehend abgeschlossen gelten kann.

Damals, vor gut vier Jahrzehnten, brachte Kim einen neuen Ton in die vielfach didaktische Prosa Südkoreas. Anders als engagierte Autoren, die gegen die Militärdiktatur Partei ergriffen, verzichtete er auf Sinnkonstruktionen. Anders als traditionsbewusste Dichter, die gegen die Hässlichkeit von Industrialisierung und Verstädterung ein Lob der alten Dorfgemeinschaft in Stellung brachten, fand Kim seine Themen in der rasch wachsenden Großstadt Seoul.

„Seoul, Winter 1964“ ist eine seiner bekanntesten Erzählungen, und wohl auch die beste. Der Ich-Erzähler trifft einen verwandten Charakter in einer Kneipe; beide streifen durch die Großstadt, sinnlos beobachtend und zählend: „An der Bushaltestelle am Westtor standen 49 Leute, 17 davon waren Frauen, 5 Kinder, 21 junge Männer und 6 Alte.“ Die beiden repräsentieren eine Schwundstufe des Flaneurs, den der Romanistik-Student Kim sicher kannte, und können auch nur über ihre Fetischisierung von Zahlen miteinander kommunizieren. Nähe entsteht erst, als ein dritter Mann zu ihnen stößt, den sie nicht loswerden können. Gerade starb dessen geliebte Frau, deren Leichnam er aus Not an die Universitätsmedizin verkauft hat. Nun aber will er das schmutzige Geld ausgeben, und die beiden anderen sollen dabei helfen. Man isst, man kauft ein, Geldnoten verbrennen in einem Feuer, an dem man vorbeikommt; der Weg endet in einer Herberge, mit dem Witwer in einem Einzelzimmer, in dem er sich umbringt. Die beiden Überlebenden versuchen kurz eine Verständigung über das Geschehene und trennen sich dann: Sie gehen gealtert in eine großstädtische Umgebung, die sich für das Einzelne nicht interessiert, die radikal quantifiziert, wobei doch die, die starrköpfig das Sinnlose zählen, am Rande stehen – Oppositionelle durch absurde Übersteigerung des allgemeinen Prinzips.

Die Stadt ist anonym, die Menschen in ihr verhalten sich, wenn auch zuweilen mit schlechtem Gewissen, letztlich gleichgültig: Sie sind befreit von der Enge der dörflichen Heimat. Die Protagonisten der Erzählungen sind zumeist Außenseiter, verarmte Studenten etwa, die sich irgendwie durchmogeln. Sie kennen Tricks, sie spielen mit ihrer Umgebung; doch schreibt Kim keine simplen Schelmengeschichten. Zwar ist das Element der Groteske stets präsent, doch verhindern erzähltechnische Kniffe eine allzu einfache Auflösung.

Auch haben die Figuren eine Ahnung davon, welchen Preis sie für ihre Ungebundenheit bezahlen. Die „Fünfzehn festen Überzeugungen“ eines Schwadroneurs dienen vielleicht nur dazu, zu reden und nichts zu tun; der „Kraftmensch“, den der zuerst hilflose und zuletzt ziellos revoltierende Student in der gleichnamigen Erzählung trifft, repräsentiert nur noch eine Schwundform früherer Stärke. In „Zum Verständnis meiner Schwester“ wird ein Schriftsteller zuerst in Außensicht vorgestellt: als zynischer Schmarotzer, der alle Werte mit Füßen tritt. Als zweite Dimension tritt seine Familiengeschichte hinzu – eine Herkunft vom Land, die Rückkehr der in der Großstadt gescheiterten Schwester aufs Dorf, die Zuneigung zu dieser Schwester. Die dritte Schicht bilden Notizen des Schriftstellers, die sich zwar auf das zuvor Beschriebene beziehen, doch kaum etwas erklären. Eine Beziehung zwischen diesen drei Schichten lässt sich kaum herstellen, das Ich wirkt völlig ortlos. Doch die traditionell-moralische Sichtweise, wie sie im ersten Teil der Erzählung versucht wird, erscheint bei Kim als zu einfache und untaugliche Lösung.

Das Äußere ist nicht das Innere, und das Schreiben hat mit beiden wenig zu schaffen: In Kims besten Erzählungen fallen die Ebenen auseinander. „Leben üben“ etwa eröffnet als das früheste – und damals sogleich preisgekrönte – Werk den Band. Ein Professor und ein Student kommen ins Gespräch, und es stellt sich heraus, dass beide ein Verbrechen auf dem Gewissen haben, das einem geliebten Menschen galt. Doch beichten sie einander überhaupt ihre Taten? Bereuen sie? Akzeptieren sie ihre Geschichte, und die des anderen, der meist fremd erscheint? Auch erzähltechnisch ist der Status vieler Sätze verschleiert. So bleibt offen, worauf sich der Titel bezieht: Üben die Personen das Leben, oder übt es nicht vielmehr der Leser, indem er zu durchschauen und zu werten versucht?

Besonders in dieser Erzählung überzeugt die Lakonik, mit der Kim unerhörte Wendungen zu schildern weiß, ohne je ins Melodramatische abzugleiten. Nirgends macht Kim in seinen frühen Texten zu viele Worte, sogar dort nicht, wo er Wendungen ritualartig wiederholt. „Stark ist der Ziegenbock“ bringt wenig an Handlung, doch weit mehr an Kraft. Besagtes Tier wird gleich anfangs totgeschlagen, von einem Nachbarn. Der Kadaver dient dann als scheinbar unerschöpfliches Ingrediens zu einer Ziegensuppe, deren Verkauf eine Familie in die Öffentlichkeit rückt und den Männern der Nachbarschaft immer wieder Stärke verleiht, auch zu einer Vergewaltigung der Tochter, die seltsam folgenlos bleibt. Die Verkäufer sind schwach, die Kunden haben Geld und also Macht, die sie selbst in der Reue beweisen – wenn der Vergewaltiger die Tochter zuletzt zur Busfahrerin macht und also zur Starken.

Refrainartig und suggestiv durchziehen Sätze über Stärke und Schwäche den kurzen Text und weisen auf die außerordentliche strukturelle Dichte des Werks hin. „Mujin im Nebel“ von 1965 wirkt verglichen damit konventionell. Hier gibt es eine lineare Handlung: Ein Sozialaufsteiger kommt aus Seoul in sein Heimatstädtchen, die Freunde sind provinziell und zurückgeblieben. Schnell entwickelt sich eine Liebesgeschichte mit einer Musiklehrerin, die den Fremden aber vielleicht nur dazu benutzen will, mit ihm in die Großstadt zu fliehen. Ein Telegramm seiner Frau führt zur vorzeitigen Abreise des Gasts, der die Geliebte ohne Nachricht zurücklässt. Das ist präzise erzählt, psychologisch stimmig, dem Titel entgegen ohne jede Sentimentalität – doch viel einfacher als in den anderen Texten.

Auch die weitaus späteste Erzählung des Bandes, „Mondschein über Seoul, Kapitel Null“ von 1977, fällt gegenüber den anderen Werken ab. Thema ist eine katastrophale Ehe – ein etwas weltfremder und von seiner autoritären Familie gepeinigter Universitätsdozent heiratet eine Schauspielerin, mit deren lockerer Moral er nicht zurechtkommt. Schnelle Scheidung, sozialer Verfall und eine fehlgeschlagene Aussöhnung sind die Folge. Die moralischen Tiraden des Ehemannes sind grotesk übertrieben, doch die Verkommenheit seiner Kurzzeit-Gattin ist es auch. Die Großstadt wird nun zum Sündenbabel abgewertet, und die Ambivalenz von Bedrückung und Befreiung, die die ersten Erzählungen auszeichnete, ist verloren.

Der Band macht – nach einer Vorab-Veröffentlichung dreier Erzählungen in einer kleinen Zeitschrift – die wichtigen Erzählungen Kims nun einem größeren Publikum zugänglich. Manche Übersetzungen aus dem Koreanischen quälen durch ihr steifes Deutsch – das ist hier gar nicht der Fall. Nicht nur sind alle Texte gut lesbar, auch werden Witz und Leichtigkeit, mit denen jedenfalls die früheren unter Kims Erzählungen geschrieben sind, unmittelbar nachvollziehbar. Zumindest „Seoul, Winter 1964“ und „Leben üben“ sind Weltliteratur, in der die Errungenschaften von Moderne und Verstädterung auf ganz individuelle Weise gefeiert werden.

Titelbild

Sung-Ok Kim: Mujin im Nebel. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Kyunghee Park und Matthias Augustin.
Edition Peperkorn, Thunum 2009.
223 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783929181814

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