Verstrickungen im Netz

Die Geschichte des Robert Koch-Instituts in einem Sammelband von Marion Hulverscheidt und Anja Laukötter

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Pionierstudien“ nennen Christian Bonah und Christoph Gradmann, die Autoren des abschließenden Kommentars zu dem im Wallstein Verlag erschienenen Sammelband „Infektion und Institution“, die darin abgedruckten elf Aufsätze zur Geschichte des Robert Koch-Instituts (RKI) im Nationalsozialismus. Entstanden ist das Buch im Auftrag des RKI im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts, das neben einer Monografie (Annette Hinz-Wessels: Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus. Kulturverlag Kadmos Berlin 2008) zwei wissenschaftliche Tagungen in den Jahren 2007 und 2008 hervorgebracht hat. Insgesamt hat sich das Projekt durch einen vorbildlichen Ablauf ausgezeichnet, wovon auch die Berichte über diese Tagungen im Internetportal H-Soz-u-Kult zeugen. Die Inhalte und Ergebnisse dieser Tagungen sind nun im vorliegenden Band zusammengefasst und dargelegt.

Die Publikation erfreut den Leser durch die sehr sorgfältige Hinführung an das Thema und an die einzelnen Aufsätze. Ein Vorwort von Volker Hess erklärt das Forschungsvorhaben, skizziert zentrale Themen und Topoi und gliedert das Werk in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Hess räumt dem Sammelband zwar den Rang einer „zentralen Publikation“ dieses Forschungsprojekts ein (ob es auch marginale Veröffentlichungen gab, wird nicht deutlich), erklärt ihn gleichzeitig aber zu einer „komplementären“ Ergänzung der Monografie von Hinz-Wessels, eine Ergänzung, die „offene Fragen und Forschungsdesiderate“ anvisiere. Insgesamt aber lässt sich trotz dieser Abstufung das Bestreben nach Vollständigkeit und Abrundung feststellen, welches der ganze Band dokumentiert und sich auch im abschließenden Kommentar niederschlägt.

Seltsamerweise fokussiert die diesem kurzen Vorwort folgende, eigentliche Einleitung durch die Herausgeber Marion Hulverscheidt und Anja Laukötter unter der Überschrift „Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus – Eine Einleitung“ mehr auf die Geschichte des Forschungsprojekts als auf die Geschichte des RKI. Dies ist ein erstes Beispiel für mehrere unmerkliche Akzentverschiebungen in diesem Sammelband. Es stellt sich die Frage nach den Gründen dieser Verschiebungen. Im konkreten, hier zitierten Fall könnte von einem Legitimierungs- und Selbstlegitimierungsdruck der Projektteilnehmer vor dem Auftraggeber RKI ausgegangen werden. Die Darstellung der Geschichte der Forschung hat in diesem Fall die Forschung in den Hintergrund verdrängt. Wünschenswert und für die interessierte scientific community wertvoller wäre eine Umkehrung gewesen – eine längere Einleitung im Stile des von Volker Hess gebotenen Vorworts und eine um einiges verkürzte Skizze und Rechenschaft über den Ablauf des Forschungsprojekts. (Von dieser Kritik betroffen ist nicht die Danksagung an das RKI für die Finanzierung des Projekts.)

Der den Band abrundende Kommentar am Ende des Buches wiederum hebt erneut den Wert der durchgeführten Untersuchungen hervor, welche als „bemerkenswert“ bezeichnet werden, unterlässt es aber wie alle im Band versammelten Aufsätze eine wichtige Frage zu stellen: Wie ist es zu erklären, dass die Geschichte des RKI im Nationalsozialismus erst so spät beleuchtet wird, eine Tatsache, die Bonah und Gradmann nur in einer Anspielung und en passant als „bedrückend“ charakterisieren, ohne sie weiter zu ergründen. Dass die Nazi-Vergangenheit sehr lange und nicht nur in der Medizingeschichte ein tabuisiertes Thema gewesen ist, ist allseits bekannt. Interessanter ist aber angesichts der Feststellung Bonahs und Gradmanns, dass eine „intensive“ Forschung über den Zusammenhang zwischen Medizingeschichte und Nationalsozialismus erst seit den 1980er-Jahren einsetzt, warum die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus, dieser für Deutschland so zentralen und repräsentativen Institution, erst fast 30 Jahre nach diesem Zeitpunkt beginnt. Und wenn Bonah und Gradmann dann auf die vorangehende „Großforschung“ über die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft verweisen, schwindet die Bedeutung der vorliegenden Studien als „Pioniertat“ immer mehr. Es liegt also der Versuch vor, eine überfällige Tat, die eine langjährige Verschleierung und Verzögerung beendet, als bahnbrechend zu etikettieren, während die Gründe für diese Versäumnisse weiterhin im Dunkeln schlummern.

Vage bleiben die Erkenntnisse ebenfalls in vielen anderen Punkten, auch innerhalb der einzelnen Aufsätze. So ist die viel beredete „Brüchigkeit“ der Institution RKI ein rekurrentes Motiv, das im Vorwort von Hess nur kurz begründet wird und auch von Bonah und Gradmann als „eine gewisse institutionelle Fragilität des RKI“ angesprochen wird. Eine Rechtfertigung der Praktiken des RKI während des Nationalsozialismus ist sicherlich nicht das Ziel der Autoren und des Forschungsvorhabens, wie aber ist dieses Pochen auf der Fragilität dieser Institution zu verstehen, wenn Gradmann und Bonah hinzufügen, dass diese Fragilität (wohlgemerkt, vor 1933) „die Entwicklungen nach 1933 einerseits ermöglichte und andererseits mitbestimmte und einschränkte“? Dem Hinweis auf die Fragilität des RKI, sei es vor 1933 oder ab 1933, folgt bei Hess, quasi als Kompensation, die Betonung der Vielfalt der Forschungsprogramme, Taktiken und Strategien des Instituts, womit dieses bei all seiner Fragilität rehabilitiert und wieder aufgewertet wird. Das den meisten Aufsätzen zugrunde liegende theoretische Modell des Netzwerkes, das auf Dezentrierung beruht, nährt zusätzlich den Eindruck von der Fragilität des Robert Koch-Instituts.

Ein weiterer Punkt, bei dem die Ausführungen weitgehend unbestimmt bleiben, ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen Institutionen und dem RKI. Die hier verwendete Formel „Kooperation und Konkurrenz“ wird sehr einseitig ausgeschöpft, was eine weitere Akzentverschiebung darstellt. Während die Kooperation des Instituts mit anderen Institutionen relativ gut profiliert wird (etwa im Aufsatz „Biopolitische Netzwerke“ von Axel C. Hüntelmann, in dem drei Arten der Kooperation herausgearbeitet und demonstriert werden), erhält der Leser kaum einen Einblick in die konkreten Formen, Mittel und Mechanismen der Konkurrenzbeziehungen, in die das RKI tritt. Diese Beziehungen werden jedoch immer wieder beredet.

Abgesehen von diesen Schwächen wartet das Buch mit einem ausreichend weiten Themenspektrum auf, das zunächst chronologisch gegliedert wird: I. Von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus und II. Forschungsfelder im Nationalsozialismus. Ein dritter Teil nimmt die „Interinstitutionelle Perspektive“ in den Blick und erhält durch die Beiträge ausländischer Autoren wie Henrik Tjørnelund und Paul J. Weindling auch eine internationale Dimension. Dieser dritte Teil okkupiert aber die Stelle der hier fehlenden Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Instituts nach 1945 ein, wo die Auswirkungen und Konsequenzen der Ereignisse bis 1945 wenigstens ansatzweise hätten verfolgt werden müssen, damit die von Bonah und Gradmann behauptete „Kontinuität“ tatsächlich hergestellt und erhellt werden kann. In der Monografie von Hinz-Wessels findet sich hingegen über diese Etappe das recht kurz geratene Kapitel „Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg“, das der vorliegende Sammelband hätte wiederaufnehmen und fortsetzen können. Auffallend ist hier außerdem die Diskrepanz zwischen dem im Sammelband vermittelten Bild der „Brüchigkeit“ und dem in der Monografie für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg festgehaltenen Bild des RKI: „Nach dem Krieg nahm das Institut rasch wieder eine zentrale Position in der Gesundheitsversorgung und infektionsbiologischen Forschung der Bundesrepublik ein.“

Dass Wissenschaft, Institutionen und Ideologie verschränkt sind und das nicht nur national, sondern auch transnational, ist keineswegs eine neue Erkenntnis, auch wenn das vom modischen Begriff „entangled history“ suggeriert wird. Auch das Netzwerk-Konzept, an das sich der Band stark anlehnt, fokussiert auf die Vielfalt und die Verschränkung, besitzt aber – außer dass es allgemein zu Präzisionsverlust führt – eine eingeschränkte Deutungs- und Erklärungspotenz etwa bei der Frage der Diachronie und nach den Schranken und Barrieren, die gerade bei der hier besprochenen Thematik (etwa der Entlassung jüdischer Mitarbeiter aus dem RKI mit anschließender Emigration) eine große Rolle gespielt haben. Dieser Aspekt der Ausschaltung, Eliminierung und des Ausschlusses wird durch die ständige Wiederholung der Wörter „interinstitutionell“ und „Netz“ deutlich vernachlässigt und verschleiert. Der Blick auf die Opfer fällt äußerst kurz aus; die Perspektive der Opfer bleibt eine terra incognita, es bleibt etwa bei der Standardangabe und Aufzählung der Namen der aus dem Institutsdienst entlassenen jüdischen Wissenschaftler und beim metaphorischen Hinweis auf die „Entlassungswelle“. (Die Monografie von Hinz-Wessels leistet sich wenigstens einen „Exkurs“ über das Schicksal der emigrierten jüdischen Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts, der gerade mal eine Seite umfasst und klein gedruckt erscheint). Mehrere im Sammelband heraufbeschworene Porträts von leitenden Mitarbeitern des Instituts, die mit den Nazis kollaborierten und an Menschenversuchen beteiligt waren, sind zwar ein wertvoller Beitrag, zu dem vom Präsidenten des RKI Jörg Hacker in seiner Rede von 2008 aufgezeigten Befund aber, dass es „nicht nur Einzelne“ waren, die „mitgemacht“ haben, bietet der sonst sehr dokument- und faktenreiche Sammelband nicht genügend Material.

Auch die so emphatisch besprochenen Netzwerke werden nicht namentlich und bis ins letzte Detail konkretisiert, um den genauen Hergang der Verwicklung des Instituts mit den Nazis auszuloten. Wenigstens und spätestens bei diesem Thema hätte ein scharfer kritischer Wind den szientistischen Gleichmut der meist jungen Autoren vertreiben sollen, die bei der Durchdringung der Wissenschaft mit der Nazi-Ideologie lieber von „Entgrenzung“ der Wissenschaft als von verbrecherischer Beteiligung an den Gräueln des Nazi-Regimes sprechen und lieber „Denkfiguren“ analysieren und den „Transfer von Wissen“ verfolgen. Neben dem Hang zu einer distanzierten Ausdrucksweise, der sich etwa in der Vorliebe für das Stilmittel der Litotes manifestiert (vgl. etwa Anne Cottebrune: „nicht unbeteiligt“), schleicht sich stellenweise, so im Aufsatz von Axel C. Hüntelmann, eine allzu spielerische Diktion ein, wenn von „Personalkarussell“, „Personalrochade“ und „interinstitutionellem Zusammenspiel“ im RKI die Rede ist. Diese Orientierung der Autoren ist aber nicht verwunderlich angesichts des für das Forschungsprojekt und die Publikation festgelegten Programms: „Ziel war es, die Institution in ihren multiplen Ausformungen darzustellen, um die Funktionsweise und das „Denken“ dieser Einrichtung im nationalsozialistischen System besser zu verstehen.“

Dieses Ziel einer „multiplen“, kaleidoskopischen Perspektivierung wurde von den Autoren tatsächlich erreicht, weshalb das Buch in Anlehnung an Volker Hess das Prädikat „facettenreich“ verdient. Die Einstufung als ein „profundes“ Werk jedoch, die Hess vorschlägt, muss diesem Buch versagt werden.

Titelbild

Anja Laukötter / Marion Hulverscheidt (Hg.): Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
270 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305076

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