Antisemitismus aussitzen

Holger Knothe untersucht, wie sich der globalisierungskritische Akteur Attac zur Frage nach antisemitischen Narrativen in den eigenen Reihen positioniert

Von Anne KramerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Kramer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Attac-Herbstkongress im Jahr 2003 wunderte sich der Journalist Toralf Staud über ein dort gesehenes Plakat – ein fetter Mann mit dicker Zigarre und Melone sitzt auf einem Geldsack, ein magerer blonder Arbeiter wischt sich auf eine Schaufel gestützt den Schweiß von der Stirn – mit einem Slogan, der die Zinsknechtschaft der Lohnabhängigen anprangert. Ein Jahr zuvor wurde ein Attac-Flugblatt verteilt, das „Uncle Sam“ mit vergrößerter, gekrümmter Nase darstellte. Eine Attac-Arbeitsgemeinschaft rief zum Boykott israelischer Waren auf und der italienische Attac-Referent Alfonso de Vito verglich die Massaker in den Palästinenserlagern Sabra und Schatila mit der Vernichtung des Warschauer Ghettos 1943. Die in Deutschland mittlerweile rund 20.000 Mitglieder zählende Bewegung musste auf zunehmende Kritik reagieren. Handelt es sich um ein grundsätzliches Problem globalisierungskritischen Denkens?

In seiner Dissertation interessiert sich Holger Knothe insbesondere für die Art und Weise der Aufarbeitung der Kritik durch Attac selbst. Der Schwerpunkt liegt auf Stellungnahmen von Attac Deutschland und Österreich und möglichen Verschränkungen von Antisemitismus und Globalisierungskritik. Knothe knüpft in einen sozial-psychologischen Interpretationsrahmen, basierend auf den kritisch-theoretischen Modellen der Frankfurter Schule, neuere Ansätze zur Antisemitismusforschung (so etwa von Moishe Postone, Detlev Claussen und Lars Rensmann). Den ersten Teil seiner Studie widmet er begrifflichen Grundlagen wie der Differenz zwischen Antisemitismus und Rassismus. Er gibt einen historischen Überblick klassischer antisemitischer Topoi und diskutiert verschiedene theoretische Zugänge zur Erklärung des modernen Antisemitismus. Dieser erste Teil macht die Hälfte der Gesamtstudie aus. Die beiden folgenden zentralen Kapitel „Antisemitismus in der globalisierungskritischen Bewegung“ und „Antisemitismus: (K)ein Problem bei Attac?“ fallen demgegenüber ein wenig knapp aus.

Zum globalisierten Akteur Attac gehören allein in Deutschland etwa 170 Organisationen, vom BUND über Pax Christi bis hin zu Verdi. So verwundert es nicht, dass man sich auf den allgemeinsten gemeinsamen Nenner bezieht: Die Globalisierung als Ursache und Motor sozialer Ungleichheiten. Knothe beobachtet und problematisiert, dass Globalisierung überwiegend als ein von außen gesteuerter Prozess wahrgenommen wird. Bekämpft werde weniger die Globalisierung selbst, als deren (vermeintliche) Akteure und ihr Leitbild, der Neoliberalismus. Dabei werde das Motiv des „Wuchers“ zur Charakterisierung der Zirkulationssphäre signifikant oft bemüht und Herrschaftsverhältnissen gerne personifiziert. Häufig würden komplexe Zusammenhänge auf einfache Dichotomien zurückgeführt und moralisch aufgeladen.

Knothe untersucht, ob es innerhalb der Stellungnahmen zum Nahostkonflikt „Affinitäten zu antisemitischen Denkfiguren“ gibt. Dazu entfaltet er zunächst die verschiedenen Bedeutungen der Begriffe „Antisemitismus“, „Antizionismus“ und „Israelkritik“ und klärt, wo Überschneidungen zu beobachten sind. Es könne eine überproportionale Aufmerksamkeit gegenüber dem Nahostkonflikt konstatiert werden, der geradezu zum Brennpunkt des Weltgeschehens gemacht werde. Attac distanziere sich zwar gegenüber Akteuren aus dem offen rechtsradikalen Spektrum, nicht aber gegenüber islamistischen Organisationen und deren Formen des Antisemitismus.

Dass Knothe trotz recht eindeutiger Ikonografie – so etwa des Motivs des hakennasigen „Uncle Sam“ mit der Weltkugel als Jojo – „eben keine explizite Identifikation der Eliten oder Spekulanten mit Juden“ sieht, überrascht. Es ginge eher um ein Spiel, das die Grenzen des sag- und zeigbaren auslote. Liest man nun, wie Attac mit der Kritik umgeht, könnte das Spiel „blinde Kuh“ heißen. Attac fühlt sich gepiesackt von etwas, das immer nur die anderen sehen (wollen), das aber in Wirklichkeit gar nicht existiere. Frei nach der psychologischen Formel: Wer immer nur das Böse sieht, hat selbst den bösen Blick. Wie kann man dann aber erkennen, wann so ein um Aufmerksamkeit heischendes Spiel – ein zynisch-postmoderner Eventantisemitismus – in Ernst umschlägt? Attac wirft den Kritikern jedenfalls vor, inflationär vom Antisemitismusbegriff Gebrauch zu machen und ihn unzureichend zu definieren. Er sei nichts als ein Kampfbegriff, mit dem denunziert, stigmatisiert und mundtot gemacht werden solle. Das klingt nicht gerade nach Spieleabend.

Peter Wahl vom Attac-Koordinierungskreis behauptet in einem 2004 zum Thema veröffentlichten Reader „Globalisierungskritik und Antisemitismus“ gar eine Instrumentalisierung des Holocaust. Nicht die Inhalte der eigenen Argumentation seien das Problem, sondern der unverantwortliche Umgang derjenigen, die darauf aufmerksam machen, ist sich auch Elmar Altvater vom Wissenschaftlichen Beirat von Attac sicher. Attac beschreibt sich als Machtfaktor, und mit dem Zuwachs an Macht würde man beinahe automatisch des Antisemitismus bezichtigt.

Auch wenn es gar nicht um Israel geht – wie auf den beiden beschriebenen Plakaten – beobachtet Knothe, dass Attac zumeist ritualisiert und formelhaft ausruft: „Kritik am Staat Israel und dessen Politik ist etwas anderes als Antisemitismus!“ Nur ein Beitrag in dem erwähnten Reader gibt Kriterien zur Unterscheidung legitimer Kritik an der Regierung Israels und einem so genannten sekundären Antisemitismus an, das heißt einem der eigenen Schuldabwehr dienendem Antisemitismus.

Was die Akzeptanz der Kritik an Attac betrifft, existieren in toto zwei Positionen: eine, welche die Kritik grundsätzlich anerkennt, und eine, welche die Kritik als denunziatorisch einstuft. Vermittelnde Positionen kommen kaum vor, im deutschen Material überwiege eindeutig die Position der Ablehnung, während im österreichischen eher von einem strukturellen Problem innerhalb Attacs die Rede ist. Im Österreichischen Reader „Blinde Flecken der Globalisierungskritik“ wird ein mehrdimensionaler Antisemitismusbegriff zugrundegelegt, der die latente und strukturelle Dimension in den Vordergrund stellt. So bejaht dort Andreas Exner eine Kernthese der Kritik an Attac und versuchte damit auch nach innen (vergeblich) eine andere Akzentsetzung der Ökonomiekritik vorzubereiten. Innerhalb von zwei Jahren, fasst Knothe zusammen, wurde aus der Diskussion über die Existenz von Antisemitismus, die Feststellung, dass dies nicht der Fall sei, bis hin zur Wertung der Diskussion als Vorwürfe und der Selbstinszenierung von Attac als Opfer haltloser Anschuldigungen.

Einige wenige betrachten die Auseinandersetzungen um Antisemitismus als Chance, eine andere Globalisierungskritik zu formulieren. Knothe schließt seine Studie, indem er Faktoren benennt, die eine Reflexion des Problems innerhalb von Attac behindern. Für ihn neige Globalisierungskritik zu antisemitischen Bildern, wo sie ins Grundsätzliche ausweicht und somit konkrete Probleme und erreichbare Ziele aus dem Blick verliert. Die Arbeit von Attac macht aber doch genau das Formulieren von konkreten Problemen – Stichwort: Kommunen verkaufen immer häufiger Gemeinwohleigentum – und das Erkämpfen erreichbarer Ziele – etwa von Rekommunalisierungsforderungen – aus.

Wenn die Attac-Mehrheit die Globalisierung als etwas von Außen gesteuertes wahrnimmt, setzt das Problembewusstsein möglicherweise gerade nicht grundsätzlich genug an. Der Vorschlag, Attac solle auf den utopisch-universalistischen Ansatz verzichten und die „realistischen Veränderungspotenziale des aktuellen Weltgeschehens“ in den Blick bekommen, ist ebenfalls kurzschlüssig. Denn erstens setzt die Grundforderung von Attac, eine Finanztransaktionssteuer einzuführen, auf realisierbare Veränderung. Und zweitens, wenn der Kapitalismus selbst utopisch-universalistisch – utopisch vor allem weil er den Menschen gerade dort Wahlfreiheit suggeriert, wo sie tatsächlich keine haben – ist, wie kann man ihn anders, will man nicht ins Reaktionäre abgleiten, als von einer universalistischen Position aus kritisieren? Knothes Schluss, dass die Bewegung nach wie vor den blinden Fleck des Antisemitismus in sich trägt, lässt jedenfalls vermuten, dass das Problem Kapitalismuskritik und Antisemitismus auch nach Attacs 10-jährigem Bestehen durch Aussitzen nicht einfach verschwindet.

Titelbild

Holger Knothe: Eine andere Welt ist möglich - ohne Antisemitismus? Antisemitismus und Globalisierungskritik bei Attac.
Transcript Verlag, Bielefeld 2009.
214 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783837612417

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