„Machthabermenschen“

Dirk Kurbjuweits politischer Detektivroman „Nicht die ganze Wahrheit“ erzählt eine Liebesgeschichte ohne Happy End

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es vorweg zu sagen, der „Spiegel“-Journalist Dirk Kurbjuweit (Jahrgang 1962), dessen Texte „Die Einsamkeit der Krokodile“, „Schussangst“ und „Nachbeben“ verfilmt wurden, hat mit „Nicht die ganze Wahrheit“ einen ebenso spannend-unterhaltenden Detektivroman wie eine eindringlich-glaubwürdige Polit- und Liebesgeschichte vorgelegt. Sie beginnt mit einem Einbruch des Ich-erzählers: „Es geht nicht anders. Ich kann nicht zu Ute Schilf gehen und sagen: ,Ihr Mann hat eine Affäre mit Anna Tauert, aber ich habe keine Beweise. Ich habe nur eine kleine Studie über das Küssen gemacht, und das Ergebnis dieser Studie legt nahe, dass…‘“

Von diesem Punkt aus entwickelt Kurbjuweit eine faszinierende Dreiecksgeschichte, nämlich die des ungleichen Politikerpärchens Leo Schilf und Anna Tauert sowie die des verliebten Detektivs, der den E-Mail-Verkehr von Leo Schilf und Anna Tauert liest und – da emotional involviert – mehr und mehr kommentiert. Obwohl Kurbjuweits Erzähler, der Privatdetektiv Arthur Koenen, bereits auf den ersten Seiten sowohl das Ergebnis seiner Recherche als auch seine emotionale Nähe zur überwachten Anna Tauert ,verrät‘, liest sich „Nicht die ganze Wahrheit“ nicht nur als eine eindringliche Liebesgeschichte ohne Happy End im herkömmlichen Sinne, sondern auch als ein Roman über die Wirkung und Verführung durch politische Macht, wie auch – wenngleich weniger deutlich – über die Rolle der Medien: „Das wollte ich doch immer“, gesteht der Parteichef seiner jungen Geliebten und Fraktionskollegin Anna Tauert, die zu den Rebellen in der Fraktion zählt und den Umbau des Sozialstaates nicht mittragen möchte: „Natürlich geht es mir manchmal auch auf die Nerven, aber in Wahrheit liebe ich die Beobachtung. […] Wie alle Totalitäten ist auch totale Aufmerksamkeit gefährlich. Aber ist es nicht faszinierend, sich in diese Gefahr zu begeben? Jeder Satz kann das Ende unserer Karriere sein, jede Recherche in unserer Biographie könnte Dinge zutage bringen, die uns unsere Ämter kosten. […] Wer kann das haben? Doch nur wir. Wir herrschen über Wörter, wir herrschen über Wahrheiten. Unsere Wahrheit muss nicht von der Vergangenheit gedeckt sein und bindet uns nicht für die Zukunft. Wir sagen Wahrheiten für den Moment. Sobald wir etwas gesagt haben, verändert sich die Welt. […] Wir haben längst neue Wahrheiten geschaffen. Gegen die Wahrheiten der Gegenwart wirken Erinnerungen kleinlich. Man kann das genießen. Es ist großartig. Du wirst das lernen, und es wird dich glücklich machen, glaub mir. Werde Machthabermensch.“

Es sind weniger die vermeintlichen Dechiffrierungsmöglichkeiten fiktiver Berliner Politiker (wie die eines Zigarren rauchenden Autokanzlers) zu Zeiten einer an die Agenda 2010 erinnernden „Umbauphase“ des Sozialstaats als die Perspektive des skeptischen und verliebten Detektivs, die den Leser zunehmend in den Bann und in emotionale Parteinahme zieht, zumal Kurbjuweit mit einem überraschenden Ende aufwartet, was an dieser Stelle nicht verraten sei.

Entstanden ist so ein überzeugender Text eines literarischen Journalisten und journalistisch-detektivisch arbeitenden Literaten, der keinen Schlüsselroman vorlegt, sondern immer wieder augenzwinkernd die Bedingung seiner Entstehung mitreflektiert. Somit spricht in der Tat „alles dafür, Annas Akte offenzulassen“.

Titelbild

Dirk Kurbjuweit: Nicht die ganze Wahrheit. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004102

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