Jillian oder wie ich die Welt sah

Einige Anmerkungen zu Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Welt aus Glas“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch Ernst-Wilhelm Händlers neuen Roman ziehen sich zwei Handlungsstränge, die sich jeweils an einem der beiden miteinander verheirateten Protagonisten Jacob und Jillian orientieren. Jillian, vormals Hilfskraft in Jacobs Galerie für künstlerisch gestaltetes Glas, leitet die Geschäfte der Galerie und bereist zu Beginn der erzählten Zeit Italien, um mehrere Glassammlungen für die Galerie anzukaufen. Jacob hat sich verspekuliert und muss den Verlust ausgleichen, ansonsten verlieren beide die Galerie: „Jillian war nach Europa gekommen, um das Geld zu verdienen, das Jacob vernichtet hatte, und um sich von ihm zu trennen. Sie würde, jedenfalls vorerst, die Galerie mit ihm weiterbetreiben. Aber außerhalb der Galerie wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.“

Zeitgleich lässt der Erzähler Jacob einen Ausflug nach Mexiko unternehmen, den er mit einer wohlhabenden Kundin und Liebhaberin unternimmt. Diese wird von ihrer mexikanischen Assistentin begleitet, die die Reise aufgrund ihrer Kontakte nach Mexiko organisiert hat. Jacob wird von dem mexikanischen Freund der Assistentin entführt, Lösegeld wird gefordert. In der Gefangenschaft resümiert Jacob seinen Gefangenenalltag, den Händler zum Spiegel der Lebensläufe der Protagonisten werden lässt: „Ein deutscher Philosoph hatte aus der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine Theorie gemacht, die er auf das ganze Universum anwendete. Jacob fragte sich, wie der Philosoph wohl seine einschlägigen Erfahrungen gemacht hatte. Wer kidnappte schon deutsche Philosophen.“

Jillians und Jacobs Erlebnisse werden in sich abwechselnden Kapiteln vorgetragen. Die Auflösung der „praktischen“ Handlungsstränge tritt in den Hintergrund und sowohl zum Ende der Entführung Jacobs als auch zum Ende der Transaktionen der Glassammlungen von Jillian werden beide Fabeln nahezu poetisch aufgelöst. Händler stellt eine Frage an den Leser. Beiden Protagonisten haftet in ihren Erlebnissen und Handlungen eine gewisse „Schuld“ an. Jacob, indem er seine Reisepartnerin und Geliebte mit deren Sekretärin betrügt, Jillian, indem sie vereinbarte Kaufsummen nur zum Teil bezahlt und die Verkäufer der Glassammlungen letztendlich betrügt. Bei beiden Protagonisten enden ihre Handlungen in persönlichen Katastrophen.

Händler bietet ein Paradigma für seine Protagonisten, wie sie sich in der Welt zurechtfinden könnten. Als Stellvertreter fungiert der Künstler, der eine Möglichkeit von Existenz in der Welt versucht: „Der Glaskünstler, so schien es Jillian, war von allen Künstlern der einzige, dem es gar nicht in den Sinn kam, seine Kunst zu erschaffen, die Welt zu vernichten und seine Kunst an die Stelle der Welt zu setzen. Der Glaskünstler stand einer Welt gegenüber, um die kein Weg herum- und an der keiner vorbeiführte. Wenn er irgendetwas erreichen wollte, dann mußte er in diese Welt eintauchen, in die Seele dieser Welt, in den Künstler, der diese Welt war, in die Welt aus Glas.“

Händlers Metaphorik des Glases und seiner Spielarten wechselt immer zwischen den Zuständen der Transparenz und Undurchsichtigkeit. Jillian lebt in dieser Welt aus Glas, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne. Das Glas steht sowohl für die Transparenz als auch die Undurchsichtigkeit, die Begrenzung und die Mauer, die Entfaltung und Veränderung hindert.

Händlers Frage ist die nach Veränderung des Individuums. Wie schwierig dies allerdings ist, erfahren die Protagonisten selbst, nachdem die offensichtlichen Widrigkeiten überwunden sind. Nur manches wird wirklich deutlicher, obwohl man aus schwierigen Situationen hätte lernen können. Die Geschichte der Glaskunst bietet eine treffende Analogie: „In früheren Zeiten war Durchsichtigkeit etwas besonderes gewesen. Jetzt stand das Glas in einem gnadenlosen Wettkampf gegen eine Gegenwart, in der alles vorgab, durchsichtig zu sein.“

Händler poetisiert die Wirklichkeit und transferiert sie in eine „Welt aus Glas“. Der Leser bleibt wie die Figuren des Romans in einem merkwürdig poetisierten Zwischenreich, das Wirklichkeit und Traum miteinander zu vermitteln versucht. Man hat bei der Lektüre das Gefühl, der „Welt aus Glas“ auf der Spur zu sein, die Figuren kennen zu lernen – und trotzdem passiert dem Leser das, was Bova, dem Liebhaber Jillians am Ende des Buches auch passiert: „Jillian gab keine Antwort.“ Händler entfaltet ein so eindrucksvolles Panorama, dass den Leser auch nach Beendigung der Lektüre nicht loslässt. Ein seltsames, merkwürdiges Buch, interessant und gleichzeitig geheimnisvoll, auf eine sehr poetische Art.

Titelbild

Ernst-Wilhelm Händler: Welt aus Glas.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2009.
608 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783627000271

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