Das Rätsel Heidegger

Ein Psychogramm Heideggers von Anton M. Fischer, eine Studie zu Heideggers Nationalsozialismus von Emmanuel Faye und Essays von Benno Hübner über den Sinn der Seinsfrage

Von Stefan DegenkolbeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Degenkolbe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Anton M. Fischer beginnt sein Heidegger-Psychogramm mit folgendem Satz: „Martin Heidegger hat der Welt immer Rätsel aufgegeben, paradoxerweise denen am meisten, die ihn besonders gut kannten.“ Der Autor hat Heidegger nie kennen gelernt, folglich hat ihm Heidegger auch keine allzu schweren Rätsel aufgegeben. Fischer legt Heidegger auf die Couch, analysiert ihn, würde ihn wohl gern auch therapieren, und meint, auf diese Weise erklären zu können, was vielen, die Heidegger kannten, ein Rätsel geblieben ist: Wie ein großer Denker ein niedriger Mensch sein kann (Hans Jonas).

Wer dem Rätsel auf die Spur kommen wolle, so Fischer, dem bleibe nichts anderes übrig, als sich mit dem Zusammenhang zwischen Person und Werk zu beschäftigen – was auch schon Johann Gottlieb Fichte gewusst habe. Und des Rätsels Lösung sei ganz einfach: Heidegger habe an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten, die ihn zum Erfolg gezwungen habe. Sich seines Erfolges zu freuen – oder schlimmer –, mit persönlichem Scheitern fertig zu werden, sei er aber außerstande gewesen.

Heideggers Weg als Denker beginne mit einem solchen Scheitern. Um die Erwartungen seiner frommen Mutter zu erfüllen, habe Heidegger zuerst versucht, Jesuit zu werden, nachdem ihn der Orden zurückgewiesen hat, habe er in der Hoffnung auf eine Priesterlaufbahn Theologie studiert, um so den Wunsch der Mutter zu erfüllen. Bis heute weiß niemand außer Anton M. Fischer, warum Heidegger von den Jesuiten in Tisis nicht angenommen wurde: „Der wahre Entscheidungsgrund ist offensichtlich zu verletzend und zu ehrenrührig, als daß ihn Heidegger erwähnen dürfte. Der Novizenmeister hat ihm wahrscheinlich unter vier Augen eröffnet: Der hochbegabte Kandidat genügt menschlich nicht. Sein brennender Ehrgeiz verträgt sich weder mit der geforderten Selbstlosigkeit des Priesterwunsches, noch mit der Reinheit des Herzens oder gar der christlichen Demut. Eine derartige Begründung stellt für Heidegger eine gewaltige Kränkung dar und, wenn sie öffentlich würde, eine ungeheure Schmach: er wäre vor allen bloßgestellt und beschämt. Diese Peinlichkeit hält er nicht aus, verdrängt sie und macht sie ungeschehen, nach innen wie nach außen.“

Das Theologiestudium, dass der „gescheiterte Jesuit“ aufgenommen habe, um „wenigstens einfacher Priester“ zu werden, bricht Heidegger, wie allgemein bekannt ist, wegen „nervöser Herzbeschwerden“ ab. Es wird bisweilen bezweifelt, ob dies der tatsächliche Grund war; Fischer jedoch kennt ihn genau: „Die Weltkirche hat ihn als Priester ebenso für ungeeignet befunden wie zuvor schon die Gesellschaft Jesu. Der junge Theologiestudent ist zwar als wortmächtiger Apologet der Kirche aufgetreten, aber er lässt die primären christlichen Tugenden vermissen. Die Schande von Tisis wiederholt sich, die Begründung ist neu: Um dem Kandidaten die Bloßstellung zu ersparen, nimmt sie die funktionalen Herzbeschwerden als Vorwand.“

Es wird kaum verwundern, dass Fischer in beiden Fällen keine Quellen angibt. Fischer benutzt für seine Arbeit ausschließlich schon veröffentlichte Quellen, und nach dem aktuellen Stand der Heidegger-Forschung kann man nur sagen, dass über beide Situationen außer den Herzbeschwerden nichts bekannt ist. In dem psychologischen Fazit des Kapitels – jedes der zwanzig Kapitel wird solcherart abgeschlossen – resümiert Fischer: „Der Katholik hat sich zwar den Katholizismus von der Seele geschrieben, aber aus dem aufrechten Gang wird immer noch nichts. Heideggers Aufbegehren kommt spät, zu spät, sein Selbstwertgefühl ist irreparabel beschädigt.“ Hierin liegt für Fischer der Schlüssel zum Verständnis von Heideggers Leben und Werk: Heidegger entwickle sich zu einem vom Ressentiment zerfressenen „gottlosen Priester“.

In diesem Stil nimmt sich Fischer Heideggers gesamtes Leben vor, bisweilen wagt er sich sogar an die Philosophie heran, und weiß immer ganz genau, wann Heidegger rachsüchtig, verzweifelt, hochmütig oder unterwürfig oder sonst wie gestimmt war. Der Psychologe Fischer versteht natürlich auch zwischen dem wahren und dem inszenierten Heidegger zu unterscheiden, ja sogar hinter die Inszenierung zu schauen. Gegen Ende seiner Arbeit, nach schon mehr als 700 Seiten, fasst er zusammen: „Wenn man Heideggers eigene Selbstbilder zur Seite legt, kommt dahinter kein eigentliches oder gar wahres Selbst zum Vorschein. Hinter all seinen Inszenierungen ist der wirkliche Mensch verloren gegangen, ohne daß er oder seine Umwelt es bemerkt hätten. Er ist die Unperson geblieben, zu der man ihn gemacht hat, Arendt hatte Recht: Er hat keinen Charakter, auch keinen schlechten. Selbst wenn er sich tatsächlich oft ,niedrig‘ verhielt, log, betrog, verriet, verleumdete, intrigierte, denunzierte, ausnützte, mißbrauchte, ist Heidegger kein niedriger Mensch, er ist ein armseliger Mensch.“

Man muss Heidegger nicht einmal mögen, um die Meinung zu vertreten, dass er eine so armselige Biografie nicht verdient hat, dass seine Rätselhaftigkeit immer noch mehr Würde hat als solch fragwürdige Enthüllungen. Der vom Autor selbstgesetzte Anspruch „hinter das Phänomen Heidegger zu blicken und seinem Erfolgsgeheimnis auf die Spur zu kommen“, bleibt unerfüllt; aber immerhin für Anton M. Fischer birgt Heidegger keine Rätsel mehr – weil er ihn nicht kennt.

Emmanuel Faye hat sich intensiv mit dem Rätsel Heidegger, sowohl mit der Biografie, aber insbesondere mit der Philosophie befasst. Liest man die ersten Sätze seiner Studie „Heidegger – Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“, könnte man meinen, der rätselhafte Philosoph habe ihn das Fürchten gelehrt: „Wir haben noch nicht in vollem Ausmaß erfasst, was die Ausbreitung des Nationalsozialismus im ,Denken‘ bedeutet. Unmerklich ergreift er den menschlichen Geist, nimmt ihn wie ein Malstrom in Besitz und löscht so im Menschen jeden Begriff von Widerstand aus. Der Sieg der Waffen, den die Menschheit mit einem Weltkrieg bezahlen musste, war nur ein erster, wenn auch lebensnotwendiger Sieg. Heute findet eine andere Schlacht statt, langwieriger und unterschwelliger, in allen Bereichen des menschlichen Denkens, von der Philosophie bis hin zum Recht und zur Geschichte, eine Schlacht, bei der die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht. Es ist erforderlich, sich dessen bewusst zu werden.“ Man mag diesen Einstieg für pathetisch halten, dennoch legt Faye umfangreich und detailliert Gründe für seine Sorge dar.

Er beginnt mit der Untersuchung einiger Schriften aus den 1920er-Jahren, also aus einer Zeit, in der Jürgen Habermas, wie er in seinem Vorwort zu Victor Farías „Heidegger und der Nationalsozismus“ geschrieben hat, den Philosophen noch für einen unpolitischen, zurückgezogenen Denker hielt, der gewissermaßen im stillen Kämmerlein sein Meisterwerk, „Sein und Zeit“, verfasst hat. Faye beleuchtet auch Heideggers Beziehungen zu Personen wie Erich Rothacker, Ludwig Ferdinand Clauß und Alfred Rosenberg, die aufgrund ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, ganz im Gegensatz zum erstgenannten, heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Es ist ärgerlich, dass Faye in diesem Bereich und immer wieder in seinem Buch Randständiges bis Abseitiges derart betont – wie man es schon vor zwanzig Jahren bei Farías erleben durfte –, dass man bisweilen meinen möchte, er vermute eine bis heute wirkende nationalsozialistische Verschwörung und sehe Heidegger als ihren heimlichen Führer.

Vielleicht ist diese vermeintliche Schwäche seiner Studie aber gar keine, sondern eine nachvollziehbare Reaktion auf den seit Jahrzehnten andauernden Umgang mit Heidegger: Man könnte sagen, dass Fayes Buch überflüssig ist. Alles was er darin ansammelt, aufdeckt und analysiert, ist seit spätestens 1945 bekannt – die Alliierten werden einen Grund gehabt haben, dem prominenten Professor Lehrverbot zu erteilen. Das Material, das inzwischen zu Heideggers Verwicklung in und zu seinem Engagement für den Nationalsozialismus veröffentlicht ist, ist erdrückend. Heidegger selbst hat 1953 die berühmt-berüchtigte Vorlesung von 1935 „Einführung in die Metaphysik“ veröffentlicht; vor einigen Jahren sind in der Gesamtausgabe Vorlesungen von 1936 erschienen. Wer wissen will, was Faye dokumentiert, kann es seit langem selbst nachlesen. Und dennoch stehen Heideggers Werke, wie Faye entsetzt feststellt, in den Bibliotheken in den Fachbereichen für Philosophie und nicht in den Sammlungen zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus.

Was Faye beschäftigt, ist nicht der Skandal, dass Heidegger ein Nazi war, er gesteht sogar zu, dass dies erst mit dem 1976 veröffentlichten „Spiegel“-Gespräch jedem hätte deutlich werden müssen: „Erst im Spiegel-Gespräch, das nach seinem Tod im Jahr 1976 erscheint und mit den heute durch die Gesamtausgabe zugänglichen Schriften, können die Leser deutlich sehen, dass Heidegger nichts von seinem tief verwurzelten Nationalsozialismus widerrufen hat. Deshalb ist diese Gesamtausgabe auch so gefährlich. Denn durch ihren Inhalt verbreitet sie in der Philosophie die ausdrückliche Rechtfertigung der leitenden Prinzipien der nationalsozialistischen Bewegung, und das jenseits der leisesten Spur von Reue.“ Für Faye liegt der eigentliche Skandal darin, dass, selbst wenn bisweilen erhitzte Debatten geführt werden – die allgemein bekannte Sachlage niemanden zu interessieren scheint –: Heidegger ist und bleibt der bedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts, mit dem sich vielleicht gerade noch Wittgenstein messen kann.

Vor diesem Hintergrund scheint es angemessen, Fayes Polemik, seine Einseitigkeit in vielen Punkten und auch manche Übertreibung zu vergessen, und die Genauigkeit seiner dokumentarischen Arbeit zu würdigen. Dabei ist seine Untersuchung eines bislang unveröffentlichten Seminars, das Heidegger während seiner Rektoratszeit gehalten hat, von besonderer Bedeutung. Hier macht Heidegger, auf dem Höhepunkt seines expliziten Engagements für den Nationalsozialismus, seine Verbindung von philosophischem und politischem Denken unmissverständlich deutlich. So doziert er über „Volksgesundheit“: „Nahe damit verwandt aber ist ein Wort wie ,Volksgesundheit‘, worin hinzukommend mitempfunden werden wird nur noch das Band der Bluts und Stammeseinheit, der Rasse.“

An anderer Stelle spricht Heidegger davon, dass der Einzelne das Wesen des Staates recht wissen und verstehen müsse, und dass das rechte Verständnis des Staates Aufgabe der Erziehung sei, dass aber aus diesem Verständnis längst nicht die Fähigkeit zur politischen Führung erwachse. Diese Aufgabe bleibt nur wenigen übertragen: „es heißt aber nicht, daß nun jeder, der sich dieses Wissen aneignet, politisch handeln kann und darf als Staatsmann oder Führer. Denn der Ursprung alles staatlichen Handelns liegt nicht im Wissen, sondern im Sein. Jeder Führer ist Führer, muß der geprägten Form seines Seins nach Führer sein, und versteht und bedenkt u. erwirkt in der lebendigen Entfaltung seines eigenen Wesens zugleich was Volk und Staat ist.“

Man darf wohl davon ausgehen, dass jeder auch nur leidliche Heidegger-Kenner in der Lage ist, die Verbindung zwischen diesen Zeilen und dem vermeintlich unpolitischen Hauptwerk „Sein und Zeit“ selbst herzustellen, wo Heidegger schreibt: „Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt. […] und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrer Subjekte begriffen werden kann. Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschicks erst frei… Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen kann, das heißt nur Seiendes, das als zukünftiges ursprünglich gewesend ist, kann, sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für seine Zeit.

Fayes Buch ist zwar gewissermaßen überflüssig, weil es dem, was jeder wissen kann, nichts Substantielles hinzufügt, nicht hinzufügen kann; und wie man schon in der Diskussion, die der französischen Ausgabe folgte, sehen konnte, war es ihm auch nicht möglich, die, die nichts sehen wollen, zum Sehen zu zwingen. Es trotzdem gewagt zu haben, ist das große Verdienst Fayes, und sei es nur, um es den Heideggerapologeten wieder ein wenig schwerer zu machen. Das eigentliche Rätsel im „Fall Heidegger“ ist gar nicht Heidegger selbst, sondern die verstörende Tatsache, das es unmöglich scheint, an seinem Thron in der Philosophiegeschichte auch nur zu wackeln.

Von den drei hier besprochenen Autoren ist Benno Hübner der einzige, der Gelegenheit hatte, Heidegger persönlich kennen zu lernen. Für den Philosophiestudenten aus katholischen Hause, der schon als Abiturient Vorlesungen Heideggers besucht hatte, war es ein einschneidendes Ereignis. Hübner berichtet, dass er gegen den Willen seiner Familie Philosophie studierte und sein Studium mit einer Dissertation bei Max Müller beenden wollte, die sich mit Fragen der Ontologie beschäftigte. Müller habe ihn gebeten, seine Arbeit auch mit Heidegger zu besprechen, dem unbestrittenen Fachmann für Seinsfragen. Tatsächlich wurde Hübner von Heidegger empfangen und führte ein dreiviertelstündiges Gespräch mit ihm. Dabei ging es um die Frage, ob man das Sein nicht als einen Begriff begreifen könne oder müsse: „,Begriff‘, erwiderte Heidegger entrüstet, ,was wollen Sie damit begreifen. Ich denke schon seit 40 Jahren darüber nach. Sie kommen an einen Punkt, wo Sie nur noch schwarz sehen,“. Hübners Reaktion war, das Sein und die Frage nach dem Sein sein zu lassen, seine Doktorarbeit zurückzuziehen und sein Leben von Grund auf neu zu sortieren. Das war 1956.

Fast 50 Jahre nach diesem Ereignis hat sich Benno Hübner entschlossen, die vorliegenden Essays zu Heidegger zu schreiben. Sein Anliegen dabei ist es, „aus der Sicht meines eigenen Scheiterns oder Fehlgangs darüber aufzuklären, wie Heidegger dem Sein verfallen und damit nicht nur sich selbst, sondern auch die vielen Seinshungrigen und -hörigen betrügen konnte, und gleichzeitig zu verhindern, dass weiterhin Menschen, vor allem Studenten, kostbare Zeit ihres Lebens auf dem Irr- und Holzweg zum Sein verschwenden.“

Das Rätsel, das Hübner in seinen Essays beschäftigt, ist die Frage, was Heidegger eigentlich vom Sein wollte. Schließlich habe es Heidegger in Jahrzehnten des Denkens nicht geschafft, irgend etwas Substantielles über das Sein zu sagen. Die Frage nach Sinn und Sein des Seins selbst sei bis heute unbeantwortet geblieben, die Wahrheit des Seins wurde nicht entborgen. Hübner gelangt zu dem ironischen Fazit: „Die ,Wahrheit des Seins‘ ist: Das Sein ist nicht.“ Dass Heidegger trotzdem nicht von seiner Frage lassen konnte, sieht Hübner darin begründet, dass er letztlich nie von seiner christlichen, katholischen Herkunft losgekommen sei und sich sein Denken zeitlebens darum bemüht habe, die durch den Verlust des Glaubens aufgerissenen Leerstellen zu füllen. Heidegger habe dem Ereignis des Seins nachgedacht, weil ihm das größte Ereignis – dass die Welt ist –, nicht genügen konnte. „Die Welt ist, auch ohne das Sein“; dieser Gedanke ist für Heidegger schlicht undenkbar. Heideggers Sicherheit in seinem Denken des Seins, sei, so Hübner, in seinem unerschütterlichen Vertrauen in die griechisch-deutsche Sprache – dem „Haus des Seins“ – verankert: „Suggeriert die Großschreibung eines substantivierten Verbs, wie es nur im Deutschen möglich ist, dass dieses, in unserem Fall das Sein, ist? Erklärt diese Eigenart des Deutschen vielleicht, warum es für Heidegger keinen Grund gab, daran zu zweifeln, dass das Sein ist, nur lediglich die Frage danach, was dieses Sein ist? Und darüber hinaus, dass es das Ereignis gibt, welches das Sein ereignet?“

Der erste Band mit Hübners Heidegger-Essays hat kaum Reaktionen hervorgerufen; Redaktionen hatten schon Teilveröffentlichungen abgelehnt, sein Vorschlag, seine Ideen an der Universität Freiburg zu diskutieren blieb, unbeantwortet. Ein ecuatorianischer Heidegger-Experte hat ihm vorgeworfen, dass er überhaupt nicht über Heidegger reden könne, wenn er die „Beiträge“ von 1938/39 nicht gelesen habe. Diese Situation hat Benno Hübner dazu bewogen, die „Beiträge“ zu lesen und einen zweiten Band mit Essays zu veröffentlichen. Als er zu schreiben anfing, sei ihm klar gewesen, dass er nur wenige Leser würde erreichen können, jedenfalls nicht die Heidegger-Apologeten: „Bleiben folglich die, denen das Heideggersche Sein etwas sagt, egal was. Und darunter gibt es manche, denen Heidegger viel, alles sagt, und die sich nichts anderes von keinem anderen sagen lassen wollen: eben die Seins-Verrückten, die Seins-Verbohrten. Und es gibt die, die von dem Sein gehört haben und auf der Suche nach der ,Wahrheit des Seins‘ sind, und wieder andere, die so etwas wie Sein wollen, aber das Heidegger’sche Sein nicht verstehen.“ Auch von diesem Publikum dürfte Hübner nur wenige erreicht haben: Wer will sich schon als Seins-Verrückter bekennen?

In der Tonart wird Hübner deutlich aggressiver, er hat inzwischen die „Beiträge“ ausgiebig studiert und bei dieser nicht unbeträchtlichen Mühe nicht Neues gefunden. Er steht erneut vor der Frage, die ihn von Anfang an beschäftigt hat: „Frage ist, ob Heidegger sich nach seinen Gründen gefragt hat und Zweifel in ihm aufgekommen sind, ob die ,Erbauung‘ und ,Stiftung‘ des Seyns lediglich ein Konstrukt seines ,wesentlichen‘, springenden Denkens war, so dass das Seyn nur ist, weil ihn die eigene metaphysische Not der ,Seinsverlassenheit‘ […] nötigte, in dem Seyn Zuflucht zu nehmen als Etwas, das ist (west, ereignet), oder ob das Sein/Seyn ist unabhängig von einer von den Menschen erfahrenen ›Seinsverlassenheit‹ oder genauer ,Seinsvergessenheit‘.“ Damit greift Hübner eine Frage auf, die Ernst Tugendhat schon 1991 in seinem Aufsatz „Heideggers Seinsfrage“ gestellt hat, und die sich die Heidegger-Forschung bislang standhaft zu beantworten weigert. Nirgendwo in seinem Werk erklärt Heidegger, warum die Seinsfrage notwendigerweise zu stellen ist, noch viel weniger sagt er, wofür eine Antwort auf diese Frage gut sein könne.

Hübner bleibt auch nach seiner Lektüre der „Beiträge“ bei der Auffassung, das Heidegger Seynsverrücktheit seine persönliche Antwort auf den Verlust des Glaubens sei. Die Frage nach dem Sein habe Heidegger pathetisch zur einzigen Frage stilisiert, ohne dabei jemals nach einer Antwort gesucht zu haben. Die Frage nach dem Seyn sei das reine Fragen um des Fragens willen, und damit das entschlossene Ausweichen vor jeder Entscheidung. Heidegger sei vor der Enge des Glaubens in die Weite des Seins geflohen, habe sich dem Sein ganz und gar unterworfen. Der Ausdruck dieser Unterwürfigkeit ist die Frage nach dem Seyn selbst: Wer diese Frage stellt, ordnet alles Seiende und damit auch sich selbst dem Sein unter und erhält dafür die Gelassenheit bewirkende Gewissheit, das alles seinen Grund im Seyn hat, und dass er von diesem Grund niemals etwas erfahren wird. Dafür, so Hübner, braucht Heidegger das Sein, und dafür braucht er, dass das Sein ihn braucht: „Heidegger braucht das Seyn als Sinn seines Ek-sistierens, und so konnte das Seyn, das Höchste, wofür ein Mensch – in den Augen Heideggers – sein kann, nur seinen eigenen Wert bestätigen, wenn das Seyn auch ihn brauchte. […] Das ,nötigende Seyn‘ hob die ,tiefe Langeweile‘ Heideggers, ,die Leere im Ganzen‘ auf, in der sich die ,Geworfenheit‘ als Stimmung manifestiert hat.“

Man kann Hübner Essayismus vorwerfen, man kann den mangelnden akademischen Charakter seiner Arbeit kritisieren und seine augenscheinliche Unkenntnis oder willentliche Ignoranz der Ergebnisse der Heidegger-Forschung beklagen, und natürlich auch die persönliche Färbung und die Polemik seiner Texte. Dennoch lohnte es sich, einige seiner Gedanken zu Heidegger zu verfolgen und zu vertiefen. Denn der Erfolg Heideggers und sein außergewöhnlicher Einfluss bleiben weiterhin ein Rätsel, wie auch die enorme Schwierigkeit seiner Anhänger, sich mit der Kritik an ihrem Meister auseinander zu setzen.

Was macht Heidegger – trotz allem – so unverzichtbar, so unersetzlich? Das scheint das Rätsel zu sein, das Heidegger der Nachwelt aufgegeben hat.

Titelbild

Anton M. Fischer: Martin Heidegger - Der gottlose Priester. Psychogramm eines Denkers.
Verlag rüffer & rub, Zürich 2007.
848 Seiten, 35,50 EUR.
ISBN-13: 9783907625170

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Benno Hübner: Die Nacht des Seins. Vierzig Jahre Denken, um nur noch schwarz zu sehen. Martin Heidegger.
Passagen Verlag, Wien 2008.
128 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783851657890

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Benno Hübner: Martin Heidegger - Ein Seyns-Verrückter.
Passagen Verlag, Wien 2008.
152 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783851658347

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Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie.
Übersetzt aus dem Französischen von Tim Trzaskalik.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
560 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210255

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