Vom Menschen und seinen Interpreten

Joachim Fischer liefert eine grundlegende Geschichte der Philosophischen Anthropologie

Von Steffen KluckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Kluck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

„Was für eine Erscheinung!“ So bringt Hans-Georg Gadamer seinen Eindruck von Max Scheler auf den Punkt. Dieser war zu seiner Zeit ein Phänomen und ein Skandalon zugleich und darin wohl nur Martin Heidegger vergleichbar. Radikale, produktive Einsichten paarten sich bei ihm mit einer ebenso faszinierenden wie schillernden Persönlichkeit. Jedoch blieb seiner Vorstellung von einer Anthropologie auf dem Boden der Philosophie ein unstetes und nur bedingt erfolgreiches Schicksal beschieden.

Was 1928 durch Schelers Buch und das zeitgleich publizierte Werk von Helmuth Plessner mit einem Paukenschlag begann, erlebte eine gleichermaßen wechselvolle wie tragische Entwicklung, an deren Ende die Ausgangsfrage nach dem Menschen in ihrer Relevanz und Eindringlichkeit umso virulenter geworden ist. Zugleich mit dem Bedeutungsgewinn des Problems wurde jedoch der Theorieansatz von Scheler, den in einer schwierigen, brüchigen Erbfolge Plessner und Arnold Gehlen weiterführten, immer mehr in den Hintergrund gerückt. Man kann daher Gadamers Empörung förmlich spüren, wenn er retrospektiv das weitgehende Vergessen von Schelers Werk beklagen muss.

In diesem Kontext hat sich Joachim Fischer die monumentale Aufgabe einer Gesamtschau der Philosophischen Anthropologie gestellt, die die historischen Verwerfungen auf persönlicher wie theoretischer Ebene erstmals im Zusammenhang darlegen und erläutern soll. Er unterscheidet dabei die philosophische Anthropologie als (Sub-)Disziplin von der Denkrichtung „Philosophische Anthropologie“. Letztere bilde ein in Teilen kohärentes Theoriegebäude mit gemeinsamer Kategorienbildung. Das diesem zugehörige Forscherkollektiv setze sich im Kern aus Scheler, Plessner, Gehlen sowie Adolf Portmann und Erich Rothacker zusammen. Erfasst wird der Zeitraum von 1919 bis 1975, also von Schelers und Plessners erstmaliger Zusammenarbeit in Köln bis zum Ende der Publikationstätigkeit von Gehlen und Plessner.

Fischer thematisiert die Realgeschichte der Philosophischen Anthropologie, das heißt die historischen Umstände, wozu neben Berufungen, Freundschaften und Plagiatsdiskussionen auch Verstrickungen in den Nationalsozialismus gehören. Zum anderen widmet er sich einer systematisch orientierten, abstrakter gehaltenen Philosophiegeschichte des Denkansatzes. Diese Großstruktur ist eine Stärke des Buches, denn sie gestattet sowohl die Entfaltung eines lebendigen Panoramas der akademischen Welt jener Tage als auch die Erfassung der Ideengeschichte. Fischer verzichtet auf eine Feingliederung seiner umfangreichen Kapitel, was die fragenorientierte Rezeption etwas erschwert. Trotzdem kann die zugrunde gelegte Konzeption überzeugen.

Die Auseinandersetzung mit den Ansätzen der fünf Kernautoren wird von Fischer gewissenhaft und erschöpfend geführt. So detailliert und akribisch hat sich die Forschung diesem Denkgebäude bisher nicht genähert. Es bereitet selbst dem thematisch nicht vorgebildeten Leser kaum Schwierigkeiten, in die Materie der Philosophischen Anthropologie einzusteigen. Aber auch der routinierte Rezipient wird aus den zahlreichen neuen, nuancenreichen Erkenntnissen Gewinn ziehen. Einer der wesentlichen Verdienste Fischers ist es dabei, im Zuge seiner Arbeit den Blick nicht nur auf die fünf genannten Protagonisten beschränkt zu haben. So stößt er beispielsweise auf die wichtigen Leistungen Frederik J.J. Buytendijks und Nicolai Hartmanns. Insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem Beitrag des Letzteren zur Philosophischen Anthropologie sollte als bedeutsamer Beitrag betont werden. Hartmann wird als ein im Verborgenen wirkender Katalysator erkennbar, zum Beispiel mit seiner Schichten- und Kategorienlehre, die erst eine Verbindung von physischen und psychischen Kategorien jenseits eines unvermittelten Dualismus möglich gemacht haben. Überhaupt liefert Fischers Werk ein wichtiges und gelungenes Kapitel deutscher Intellektuellengeschichte, wie man beim Blick auf den Zusammenhang der Philosophischen Anthropologie mit der sich entwickelnden bundesdeutschen Soziologie (Helmut Schelsky, Jürgen Habermas) sehen kann. Im realgeschichtlichen Abschnitt des Buches werden auf diese Weise viele unbekannte, zum Teil erstaunliche Fakten präsentiert. Fischer konzentriert sich dabei in der Hauptsache auf eine synchrone Kontextualisierung; Bezüge zu den Ahnherren der Disziplin „philosophische Anthropologie“ (zum Beispiel Aristoteles, Platon, Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau) werden nur am Rande thematisiert. Diese Beschränkung ergibt sich aus Fischers Vorhaben und ist methodisch zweifellos gerechtfertigt, es bleiben so aber Lücken, wenn es um die geistigen Anfänge der Denkrichtung geht.

Der systematisch orientierte zweite Teil will die gemeinsamen „tiefenstrukturellen“ Grundlagen der Vertreter der Philosophischen Anthropologie herausschälen. Dieser Versuch liefert das sehr hilfreiche theoretische Rüstzeug für eine intensive Beschäftigung (und womöglich Fortsetzung) des Ansatzes. Insofern kann man die Leistung, die Fischer hier vollbringt, nicht hoch genug schätzen. Allerdings gerät er dabei in eine aufsteigende Abstraktionsbewegung, die die Kehrseite hat, dass die extrahierten gemeinsamen Merkmale nur bedingt spezifisch erscheinen. Kann der „Identitätskern“ – in seiner Allgemeinheit – allein hinreichen, das Projekt einer Philosophischen Anthropologie dauerhaft als einen Denkort in der Topografie der Philosophie sichtbar zu machen und gegen Nivellierungen zu verteidigen? Dessen ungeachtet liefert Fischers Versuch der analytischen Fixierung des Denkansatzes eine Vielzahl wesentlicher Einsichten. Und gerade für die Rezeption kann das Merkmalsraster als ein ausgezeichneter hermeneutischer Schlüssel dienen.

Die eminente Bedeutung des Buches liegt in der bisher ungekannten Gesamtschau der persönlichen wie theoretischen Zusammenhänge der Philosophischen Anthropologie sowie in dem Angebot eines theoretischen Merkmalskatalogs zur Bestimmung des Denkansatzes. Es kann daher kaum Zweifel geben, dass das Werk alle bisherige Literatur zur Philosophischen Anthropologie als Standardwerk ablösen wird. Im Interesse des Anliegens von Fischer wäre es, die offerierten Einblicke nutzbar zu machen. Das Buch verzichtet bewusst auf Anschlüsse an aktuelle Diskurse, jedoch liegt die Basis dafür bereit. Man könnte das Fehlen dieser Anwendungsaspekte kritisieren, das Werk für „bloß historisch“ halten – man täte ihm entschieden unrecht. Stattdessen kommt es darauf an, den unterlassenen Schritt in die produktive Auseinandersetzung als Aufforderung zu eigenen Stellungnahmen zu verstehen. Fischers Studie sollte als Mahnung aufgefasst werden, sich wieder verstärkt für die Beschäftigung mit dem Wesen des Menschen zu entscheiden. Die reichhaltigen Versuche der Philosophischen Anthropologie jedenfalls liegen als geistiges Reservoir bereit.

Titelbild

Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2008.
684 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783495479094

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