Familie Jansen im Orkan

Über Peter Hennings Roman „Die Ängstlichen“

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Ein Sturm tobt über Südhessen, ein gefährliches Unwetter mit Orkanböen braust über Rhön und Taunus hinweg und sucht die Stadt Hanau mit sintflutartigen Regenfällen heim. Dort lebt die Greisin Johanna Jansen, die kurz vor der Übersiedlung in ein Seniorenheim steht. Dem über Hanau kreisenden Unwetter entspricht die Atmosphäre in ihrer Familie.

Autor Peter Henning, selbst in Hanau geboren und seit rund 25 Jahren als Journalist, Kritiker, Herausgeber und Erzähler in der Kulturszene tätig, seziert in seinem opulenten Roman den Verfall der Familie Jansen aus wechselnden Erzählperspektiven. Drei Jahre hat der 50-jährige an diesem Buch gearbeitet und für sich selbst nach eigenem Bekunden hohe qualitative Maßstäbe gesetzt. Das beschriebene Unwetter fungiert als Allegorie für die Stürme und Turbulenzen in der Familie Jansen. Während diese Konstruktion einigermaßen plausibel funktioniert, löst Hennings manirierte Sprache bisweilen Unbehagen aus: „Spiralförmig wanden und drehten sich die Luftmassen über der Sechzigtausendseelenstadt und warfen die mitgeführten riesigen Wassermengen mit unerbittlicher Wucht über die in ein flackerndes Licht getauchten Häuser, Straßen und Plätze.“

Die autoritäre Johanna hatte kurz vor dem anstehenden Umzug ihre nächsten Verwandten eingeladen: Ihre Kinder Helmut und Ulrike und den Enkel Benjamin – alle auf seltsame Weise der Normalität abhanden gekommen. Helmut, ein mäßig erfolgreicher Tennislehrer, der gern den Weltmann mimt, hat gerade eine Tumoroperation überstanden und liefert sich heftige verbale Scharmützel mit seiner Mutter. Seine Schwester Ulrike versucht aus ihrer zerstörten Ehe finanziellen Profit zu schlagen, erpresst und schikaniert ihren untreuen, einst beruflich höchst erfolgreichen Ehemann Rainer. Und dann ist da noch Enkel Ben aus der dritten Generation – ein Sportjournalist, der von seinem Freund Kaplan den Rat erhält, endlich damit aufzuhören, „der Retter der Welt zu sein.“

„Und so gingen sie schon nach wenigen Minuten wie zwei einander zufällig über den Weg gelaufene Straßenköter auseinander, die sich kurz und mehr oder weniger desinteressiert beschnüffelt hatten“, heißt es (wenig geschmackvoll) über eine Begegnung zwischen Johanna und ihrem Sohn Helmut.

Nicht nur das familiäre Gefüge der Jansens ist zerbröselt, auch die einzelnen Personen befinden sich in handfesten psychischen Turbulenzen. Die betagte Johanna, ihr Sohn Helmut und dessen Schwager Rainer schlucken abwechselnd Aufputsch- und Beruhigungsmittel und bewegen sich dadurch in einem gefährlichen Kreislauf von Angst, Wahn, Überschwang und wenigen ungetrübten Momenten.

En passant erfahren wir, dass Johanna noch ein drittes Kind hat. Jener Konrad sitzt seit dem Teenager-Alter in der Psychiatrie, setzt irgendwann heimlich seine Medikamente ab und glaubt, von einem Baum aus Barcelona sehen zu können.

Henning liebt die Extreme, ein „normales“ Schicksal scheint ihm nicht auszureichen. So ist auch der Lebensweg von Janek ziemlich spektakulär. Johannas langjähriger Lebensgefährte stammt aus Polen, ist ein leidenschaftlicher Zocker und überdies morphiumsüchtig. Er fühlt sich verfolgt, weil er hohe Spielschulden hat. Richtig abenteuerlich wird es, als Janek von Johannas Enkel Ben und seiner Freundin, der Bankangestellten Iris, 90.000 Euro erhält, um seine Schulden zu begleichen.

Woher das Geld kam und ob Janek, der dann spurlos verschwindet, wirklich seine Gläubiger aufsucht, soll hier nicht verraten werden, um ein wenig Spannung für die Lektüre dieses ausschweifenden Erzählmonstrums aufrechtzuerhalten. Nur soviel sei noch preisgegeben: Die 78-jährige Johanna wird nicht ins Seniorenheim umziehen.

Aber das kann am Ende weder die Jansens noch Hennings Roman retten, denn all den schrägen, völlig aus der Bahn geratenen Mitgliedern dieser überzeichneten Familie fehlt der exemplarischer Charakter. Um die Symbolik des Romans und dessen reiche Bildersprache aufzunehmen: Der Orkan hat nicht nur die Figuren durcheinander gewirbelt, sondern auch die formale Konstruktion dieses Erzählwerks zum Einsturz gebracht. Der schleichende Verfall einer Kleinbürgerfamilie in einer ausladend häßlich beschriebenen Provinzstadt erhält bei Henning am Ende auf unfreiwillige Weise komische Züge, die an kitschige TV-Endlosserien erinnern.

Titelbild

Peter Henning: Die Ängstlichen. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2009.
496 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783351032678

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