Geh hin und häng dich auf

Roger Willemsen hat „Die wunderbaren Irrfahrten des William Lithgow“ auf Deutsch herausgegeben

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein kurioses, aber gleichwohl sehr unterhaltsames Buch ist endlich auch für den deutschen Leser greifbar. In England ist dieser Bericht des Schotten William Lithgow über seine Reisen längst ein Klassiker der Reiseliteratur. Nun hat ihn Roger Willemsen in der deutschen Übersetzung Georg Deggerichs herausgegeben.

Vor exakt 400 Jahren, am 07. März 1609, bricht der schottische „Schneider“ William Lithgow von Paris zur ersten seiner drei wundersamen Reisen auf. Die Erste führt ihn von Italien über die Adria, Griechenland, Kreta, die Türkei, Syrien und Palästina bis nach Kairo. Mit der Zweiten bereist er Europa, Malta, Sizilien und kommt bis Afrika und in die Sahara. Die letzte Reise geht schließlich nach Irland und Spanien, wo er fast durch die Folter der Inquisition umkommt.

Glaubt man der Fama, so begann eigentlich alles bereits 1603, als dem verliebten Lithgow, weil er unter dem Balkon seiner Angebeteten so schrecklich sang, von den Brüdern dieser Verehrten die Ohren abgeschnitten wurden. Der so Verschmähte und Verstümmelte verließ daraufhin seine Heimat und begab sich auf ausgedehnte Reisen durch Europa.

Viel Gesichertes ist nicht über diesen Schotten bekannt, nicht einmal sein genaues Todesdatum ist überliefert. Was ihn außer der Schande seiner verstümmelten Ohren zu den Reisen antrieb oder motivierte, ist nicht auszumachen. Jedenfalls war es nicht unbedingt Neugierde auf fremde Länder und die Sitten und Gebräuche der Menschen, und auch keine Reiselust. Denn wenn nichts stetig war auf seinen Fahrten, so auf jeden Fall seine missmutige Laune und kritische Beobachtung der besuchten Städte, Landschaften und Menschen.

Es wird in diesen Aufzeichnungen geschimpft, moralisiert, karikiert, und der Leser fragt sich, woher diese üble Laune rührt und warum der Autor trotzdem immer weiter und von neuem reist. Es beginnt mit dem klassischen Reiseland Italien, seine erste Station nach seinem Aufbruch ist Rom. Nichts mehr von der Pracht des alten antiken Rom, stattdessen „bloß ein Kadaver der ehemaligen Stadt, von der nur noch die Ruinen geblieben sind sowie die Ursache für ihren Niedergang, ihre Sündhaftigkeit.“

Entsprechend vernichtend fällt sein Urteil über Rom aus: „Gäbe es den Klerus nicht, der zwei Drittel der Bevölkerung ausmacht (neben den Juden und Kurtisanen, dem größten Teil des letzten Drittels), so wäre es eine der elendsten Städte Italiens.“ Auch weiß er anekdotenreich über die Stadt und ihre Besonderheiten zu erzählen. Sogar von einem richtigen Seegefecht kann er berichten.

Doch dann verlässt er Rom und schifft sich in Venedig nach Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, ein. Auf dieser Fahrt halten Winde und Piraten die Besatzung und Passagiere in Atem. Seine Erlebnisse in der Adria, in der Ägäis und im gesamten Mittelmeerraum lassen nichts aus, was zu damaliger Zeit an Schrecken und Grauen möglich war: Mord und Totschlag, Vergewaltigungen, Misshandlungen, Folter, Quälerei, Menschenraub.

Gerade an den Küstenregionen sind die Menschen weder vor den Häschern der Galeeren noch vor den Überfällen der Piraten sicher. Der Alltag der Menschen ist gefährlich, hart und für unsere heutige Auffassung und oft fremd. Lithgows Beobachtungen werden ohne Empathie mit den Leidenden wie selbstverständlich und schicksalhaft mitgeteilt und sind ihm nur einen ausführlicheren Bericht wert, wenn damit die Kritik an einer Religion, einer religiösen Gemeinschaft oder einer Nationalität verbunden ist. Dann dient ihm das Vorkommnis als Beleg für die Verderbtheit der Muslime, Juden oder Papisten. Letztere haben es ihm besonders angetan. Hier ist Lithgow, der protestantischen Glaubens ist, ganz den Vorurteilen und Ansichten seiner Zeit verhaftet. Wie glaubhaft sein Bericht im Detail ist, kann man schwer beurteilen. Sicher wird der Leser an einigen Stellen seine Zweifel haben. So scheinen seine Angaben etwa über die Freudenhäuser in den Städten, in Istanbul sollen es 40.000 sein, ferner über die Sitten, das Aussehen und sexuelle Verhalten von Frauen doch sehr zweifelhaft und übertrieben.

Aber diese Zweifel nehmen den Berichten nichts von der Authentizität und seiner Glaubwürdigkeit insgesamt. Man liest seine knappen, aber immer spannenden Berichte allein schon deshalb, weil man wissen will, wie es weitergeht und was er nun wieder Kurioses erlebt. Dabei gelingen ihm dann so fantastische Episoden wie die seines Einzugs in Jerusalem, als er von zwölf Franziskanern mit Kerzen und „Te Deum“ ins Kloster geleitet wird und ihm dort die Füße von den Mönchen gewaschen und geküsst werden. Als diese dann aber erfahren, dass er kein Katholik, sondern Protestant ist, „bereuen sie ihre fromme Tat“.

Ein anderer „Höhepunkt“ ist sicher die bis ins kleinste Detail geschilderte Folter durch die Inquisition in Spanien. Solch einen Bericht hat man noch nicht gelesen, trotzdem konvertiert sein Autor nicht und gesteht auch keine ihm vorgeworfenen Handlungen, sondern bleibt selbst unter Qualen seinem Glauben treu. Gemessen am heutigen Reisestandard war das Reisen in jenen Zeiten nicht nur unbequem, mühselig und gefährlich, sondern auch durch die dauernden Wegezölle, Ablösungen für „Ungläubige“, Kosten für die Begleitung und dauernde Überfälle auch viel kostspieliger.

Zwar wird Lithgow auch von britischen Konsularbeamten und anderen Würdenträger manchmal gratis verköstigt und bekommt auch Geldgeschenke, aber diese Gelder reichen keinesfalls aus, um alles zu finanzieren. Daher auch sein Bemühen, sich überall von seinen Reisen Dokumente, Urkunden, Zertifikate, Empfehlungsschreiben, Beweise seiner Besuche und Anwesenheiten ausstellen zu lassen. Manchmal werden sie ihm gestohlen und doch bringt er die meisten Papiere und Devotionalien mit nach Hause, um Einzelstücke dem König zum Geschenk zu machen, andere zu verkaufen.

Er scheut sich aber auch nicht, zwei tote Duellanten auszurauben, da sie ihr Geld ja nicht mehr benötigen. Einige wichtige Dinge bleiben trotz der Redseligkeit im Unklaren. Wie plante Lithgow seine Reisen, welche Sprachen sprach er? In Syrien und in den arabischen Ländern werden Dolmetscher engagiert, Italienisch und Französisch scheint er zumindest zur Verständigung beherrscht zu haben. Stets erregt die Tatsache, dass er allein reist, Verwunderung und Anerkennung, sowohl unter den Einheimischen als auch unter den anderen Reisenden, die er unterwegs trifft. Geht es über Land, schließt er sich Karawanen oder Pilgergruppen an, bleibt aber doch auch in Gruppen meist für sich. Eine unfreiwillige Komik haben die Schilderungen der alten Bibelstätten, an denen entweder Personen aus dem Alten und Neuen Testament gelebt oder gewirkt haben sollen. Seine Ansichten und sein Urteil über diese Heiligtümer in Palästina formuliert er drastisch. Sie sind für ihn „schlichtweg lächerlich, andere der reinste Schwindel, einige zweifelhaft und andere schließlich zumindest halbwegs glaubwürdig“.

Von allen Nationalitäten, die er auf den Reisen kennen lernte, scheint sich Lithgow mit den deutschen Reisegefährten am besten verstanden zu haben. Das Besondere ist der erste Blick, die scheinbare Unbefangenheit und seine Offenheit dem gegenüber, was ihn erwartete und was er sah. Ganz selten vergleicht er den Ort oder die Menschen mit seinem Vorwissen. Rom ist ein solches Beispiel, ansonsten beschreibt er immer der Eindruck den er dort und zu der Zeit gewinnt. Wobei er aber keineswegs psychologisierend mit seinen Eindrücken verfährt. Auch ist auffallend, dass er mehr von höhergestellten Personen als von seinesgleichen Achtung erfährt. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass er dadurch natürlich auch als Person hervorgehoben werden will und auch wird. Die Berichte werden hervorragend durch die einfühlsamen und lustigen Illustrationen von Papan ergänzt, die den oftmals komischen und orientalischen Charakter vieler Situationen noch unterstreichen. Eine schöne und interessante Reisbeschreibung sowohl für Reiselustige als auch für Sesshafte.

Titelbild

Roger Willemsen (Hg.): Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow. The Rare Adventures and Painful Peregrinations of William Lithgow.
Übersetzt aus dem Englischen von übersetzt von Georg Deggerich.
Mare Verlag, Hamburg 2009.
380 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481121

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