Momente im permanenten Zeitfluss

„24 h Berlin“ dokumentiert einen Tag im Leben der deutschen Hauptstadt

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An einem Septembermorgen des Jahres 2008 machen sich 36 Fotografen der Agentur ‚Ostkreuz‘ sowie Schriftsteller, Reporter und Journalisten auf die Entdeckungsreise durch Berlin. Sie fahren Bahn in Endlosschleifen, amüsieren sich in Berliner Nachtbars oder quälen sich durch prominente Kaufhäuser. Andere schauen den Krankenschwestern, Getränkehändlern und Bodenvermessern bei der Arbeit zu. Sie alle haben sie vor, diesen einen Septembertag dem permanenten Zeitfluss zu entreißen. Sie versuchen die Berliner Landschaft, die Stadtbewohner, ihr Leben, Arbeiten, Sterben und Hoffen in Momentaufnahmen aus Bildern und Geschichten einzufangen. Das Ergebnis der Tagesreise liegt nun in gedruckter Form als ein 91-seitiger Text- und ein 540-seitiger Bildband vor. Herausgegeben hat beide der Göttinger Steidl Verlag.

Entstanden ist diese Foto- und Textdokumentation auf Initiative des gleichnamigen multimedialen TV-Projektes, das in Zusammenarbeit mit ARTE und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg realisiert wurde. Das Ergebnis der am 5. September 2008 von mehreren Kamerateams gleichzeitig aufgenommenen, 24-stündigen Videodokumentation ist exakt ein Jahr später, am 5. September 2009, auf ARTE und im rbb-Fernsehen 24 Stunden lang ausgestrahlt worden. Genauso wie der Film bilden auch Text- und Fotodokumentation jeweils eigenständige Projekte. Sie verfolgen eine gemeinsame Grundidee, bedienen sich dabei jedoch unterschiedlicher medialer Zugangsweisen und geben folglich unterschiedliche Episoden und Motive aus dem 24-stündigen Alltag in Berlin wieder.

Zwischen atmosphärische Fotos von Berliner Parks, Seen, U-Bahnstationen und Badeanstalten reihen sich längere Bildserien mit Szenen aus dem Alltag ein. Familien, Alleinstehende, Berufstätige und Rentner. Festgehalten werden Augenblicke, die zwischen den großen Ereignissen stattfinden. Eine beiläufige Geste, eine Grimasse, ein Moment der Ekstase. Obwohl meistens die Menschen im Vordergrund der Aufnahmen stehen, werden mit ihnen Geschichten der historischen Schauplätze erzählt. Die Erzählweise ist unaufdringlich, kaum stilisiert, selten künstlerisch verfremdet.

Viertel vor neun. Auf einem schwarz-weißen Foto von Michael Trippel deckt eine Frau im kleinen Kabinettsaal im Kanzleramt einen großen runden Tisch. Annette Hauschild begleitet mit ihrer Kamera ein älteres Ehepaar aus der Hektorstraße in Wilmersdorf: beim Frühstück, auf dem Weg in die Konditorei, zu einer Ausstellungseröffnung.

Die gesamte Bilderfolge entspricht dem Ablauf der vereinbarten Zeitspanne. Ein gewisses Maß an Intimität zwischen den Fotografen und ihren Modellen sowie vertraute Umgebung vermitteln dem Bildbetrachter den Eindruck von Echtheit und Nähe.

Anders als auf den Bildern, wo Fotografen unsichtbar hinter der Kamera bleiben und ihre Vorgehensweise dem Betrachter verborgen bleibt, offenbaren die Textautoren dem Leser ihre Eindrücke, weihen ihn in seine Arbeitsweise ein. Die Texte sind gründlich recherchiert, die alltäglichen Motive, wie der Berliner Zoo oder die Lenotre-Theke im KaDeWe, gewinnen durch die geschichtliche Dimension an Tiefe.

Den Sinn und Zweck der Reportage – „die Zeit anhalten und sie zugleich bewahren“, wie es im Vorwort des Bildbandes geschrieben steht – erfüllen bereits jetzt, ein Jahr später einige der insgesamt fünfzehn Beiträge.

Isabelle Azoulay wartet auf dem Flughafen auf ihren amerikanischen Freund. Doch das Warten ist mehr, es ist ein Abschiednehmen von dem, einen Monat später geschlossenen ‚Zentralflughafen Tempelhof‘, von wo der Rosinenbomber seine Routen flog. Azoulays Erzählung ist mittlerweile Geschichte geworden.

Kolja Mensing knüpft in ‚Spätkauf‘ Bekanntschaft mit der Verkäuferin Gela. Ihr Schicksal gibt in Ansätzen die Geschichte Berlins wieder. Missglückte Erziehung in den 1960er-Jahren, Alkoholprobleme in den 1980ern, ein zunächst erfolgreicher Getränkewarenhandel in der Zeit nach der Wende. Berlin wird weltoffener, freier, internationaler als zuvor. Mit der Stadt ändert sich Gelas Klientel. Inzwischen ist ihr Laden unrentabel geworden.

Neben der geglückten Verwirklichung der dem Projekt vorangehenden, fast möchte man sagen, unmöglichen Grundidee – „einen ganzen Tag im Leben einer Stadt einzufangen“ – gelingt es den Autoren der Reportagen und Bilder auch, den Betrachter und Leser gegenüber den unsichtbaren, vergänglichen Momenten des Alltags zu sensibilisieren. Der Tag „besteht aus Momenten. Sie entstehen immer dort, wo sich für einen Augenblick lang zeigt, was war, was ist, was sein könnte. Wenn es gelingt, diese Augenblicke in Fotografie festzuhalten, dann lässt sich die Zeit darin aufheben.“

Wer sich auf das Ergebnis dieses medialen Experimentes einlassen möchte, kann Berlin als eine Stadt erfahren, in der „alles […] gleichzeitig [geschieht], aber jedes zu seiner Zeit.“

Titelbild

24h Berlin. Ein Tag im Leben.
Steidl Verlag, Göttingen 2009.
120 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783865219756

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