Proto-Punks von der Waterkant

Die Geburt der Studentenbewegung aus dem Geiste des Expressionismus

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gemeinhin verzeichnen die Literaturgeschichten der Nachkriegszeit das Jahr 1947 als die Geburtsstunde der Neueren deutschen Literatur. Mit der hier vorliegenden Edition rückt jedoch eine kleine Gruppe von Neuerern ins Blickfeld, die bislang in ihrem Wirken nur wenig Beachtung gefunden haben. Das hat Gründe. Zum einen verstarb der spiritus rector, Werner Riegel, bereits 1956. Zum anderen lag ihr Aktionsradius in Hamburg und damit nicht unbedingt im kulturpolitischen Zentrum der jungen Republik, was sich allerdings ändern sollte. Und nicht zuletzt war das Qualitäts- und Selbstverständnis der Gruppe derart radikal, dass sie die Werke der Gruppe 47 als „Spießerliteratur“ ablehnten und die Autoren als „geltungssüchtig“ und „kommerziell“, so Schütt in seiner überaus lesenswerten und informativen Einleitung, verhöhnten. Tatsächlich verbreiteten die Proto-Punks von der Waterkant, der bereits erwähnte Werner Riegel und die viel bekannteren Peter Rühmkorf und Klaus Rainer Röhl, ihre Ansichten in einer hektografierten Zeitschrift, die sie „Zwischen den Kriegen – Blätter gegen die Zeit“, kurz ZdK, nannten und in einer Auflage von zirka 150 Stück unters meist studentische Volk brachten. Allerdings hatte auch das Handwerkliche durchaus Methode. Denn mit ihren maschinengeschriebenen Blättern, welche stets ein Holzschnitt als Titelgrafik schmückte, knüpften sie an die großen Zeitschriften des Expressionismus an, wie „Sturm“ und „Aktion“, in denen zu Beginn des Jahrhunderts die Moderne eingeläutet worden war. Konsequenterweise veröffentlichten sie in ZdK Texte von Jakob van Hoddis, Richard Huelsenbeck, Carl Einstein und wandten sich schließlich mit der Bitte um Mitarbeit an den ehemaligen Weltbühne-Autor Kurt Hiller, der die Jahre der Verfolgung einigermaßen wohlbehalten in England überstanden hatte. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten, fehlte ihm doch bislang im Nachkriegsdeutschland eine Plattform, um seine Polemiken gegen den restaurativen Adenauerstaat zu veröffentlichen. Außerdem hatte es ihm der Titel der Zeitschrift und die darin zum Ausdruck kommende Weltanschauung angetan. Tatsächlich sahen die jungen Literaten einen neuen Krieg und damit das Ende der Menschheit nahen, weshalb sie ihre Bewegung „Finismus“ nannten. Dies kann allerdings auch „Ziel“ bedeuten und die damit verbundene Anstrengung, das Ende zu verhindern. Jedenfalls vermutete Hiller eine gewisse Parallele zum „Aktionismus“ seiner Jugend und unterstützte daher das Blatt auch durch die Werbung neuer Abonnenten. Die Mitarbeit des wortgewaltigen Altvorderen, der indes als „Stänkerer und Unruhestifter“ (Schütt) galt, machte allerdings auch recht bald die Gräben innerhalb der kleinen Gruppe deutlich. In Hillers Augen waren die Texte der Zeitschrift zu wenig politisch und zu stark „lyrologisch“. Außerdem nutzte Hiller das Forum, um Privatfehden gegen Autoren wie Gottfried Benn, Alfred Döblin oder Hans Henny Jahnn zu führen, die die Jüngeren verehrten. Anstatt nun, wie von Hiller gefordert, das Lyrische einzufrieren, planten Riegel und Rühmkorf eine Umbenennung der Zeitschrift in „Anarche – Dichtung und Kritik“ und die Neugründung einer mehr politischen Zeitung unter dem Titel „Studenten-Kurier“ unter der Leitung von Klaus Rainer Röhl. Während das Anarche-Projekt schon bald aufgegeben wurde, benannte Röhl den „Studentenkurier“ 1957 um in „Konkret“ und schuf unter diesem Namen das zentrale Organ der späteren 68er-Bewegung. Konflikte unter den Beiträgern gab es viele. Hiller, der sich in allem seine Unabhängigkeit bewahren wollte, fühlte sich für die Sache des Ostens instrumentalisiert. Vor allem aber konnte er das rechthaberische Auftreten von Röhls Frau, Ulrike Meinhof, nicht ertragen. Erst nach der Scheidung kam es wieder zu einer Annäherung Hillers, der 1972 starb, an Röhl und an „Konkret“.

Die vorliegende Edition leistet zweierlei. Zum einen dokumentiert sie, auch in den zahlreichen Abbildungen und einem detaillierten Personenregister, ein interessantes Kapitel deutscher Literatur- und Gesellschaftsgeschichte. Zum anderen ermöglichen die Briefe, die vorbildhaft kommentiert werden, die Begegnung mit dem allzu früh verstorbenen Literaturenthusiasten Riegel und eine Wiederbegegnung mit dem 2008 verstorbenen Sprachmagier Rühmkorf.

Wer nicht nur die hier erstmals veröffentlichten Briefe, sondern auch einige der Zeitschriftenbeiträge Riegels lesen will, der sei auf die Anthologie verwiesen, die Rühmkorf seinem Freund unter dem Titel „Werner Riegel… beladen mit Sendung. Dichter und armes Schwein“ gewidmet hat, 1988 im Haffmans Verlag erschienen. Erinnerungen an ZdK enthalten auch Rühmkorfs Memoiren „Die Jahre, die Ihr kennt“ und Röhls „Fünf Finger sind keine Faust“.

Titelbild

Rüdiger Schütt (Hg.): Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953-1971.
edition text & kritik, München 2009.
427 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779973

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