Der Süden leuchtet

Dieter Richters „Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung“ bietet ein kleines Stückchen Leseurlaub

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Le Nooooord, le noooord“, orakelt der alte Onkel düster vor sich hin, als er nach seinem Wissen über den Norden gefragt wird. Keine Sonne, nur Schnee, arktische Temperaturen und alles vollkommen trostlos. In „Willkommen bei den Scht’is“, dem erfolgreichsten französischen Kinofilm aller Zeiten, reist der strafversetzte Postbeamte Philippe Abrams, für den Lyon schon weit im Norden liegt, in daunengefütterter Polarjacke Richtung Lille, um festzustellen, dass die Redensart „Wer in den Norden kommt, weint zweimal: einmal, wenn er ankommt, und einmal, wenn er wieder gehen muss“ durchaus berechtigt ist.

Der Film zieht seine Komik und damit seinen Erfolg aus der herrlichen Übertreibung so vertrauter Vorurteile und ihrer Brechung. Das Nord-Süd-Gefälle wird in einem Land wie Frankreich mit seinen weiten Landschaften sicherlich besonders deutlich. Aber auch hierzulande sitzen die Klischees über den Weißwurstäquator und die Fischköppe an der Waterkant vielleicht tiefer als jede Wiedervereinungsdiskussion. Was für einzelne Länder gilt, trifft natürlich auch für Kontinente und eigentlich wohl für den gesamten Erdball zu. Woher kommen aber all diese geistigen Kompass-Richtungen, wieso sind wir kulturell so eingenordet, wie wir es sind?

Eine, soviel sei bereits gesagt, höchst lesenswerte Antwort drauf liefert Dieter Richter in seiner Studie „Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung“. Die kulturgeschichtliche Reise folgt dem Himmelslauf der Sonne: sie beginnt im Osten. In kurzen, angenehm verdichteten Kapiteln stellt Richter zunächst jede der drei anderen Himmelsrichtungen in ihrer Geschichte und Bedeutung vor. Der Hauptteil schließlich wendet den Blick gezielt Richtung Süden und zurück in die Antike.

Was für uns heute Inbegriff des Südens ist – Italien, Griechenland – war es in der Antike durchaus nicht. Richter schildert die abenteuerlichen Entdeckungsfahrten der Phönizier, die Diskussionen um die Antipoden und deren mögliche und unmögliche Lebensräume. Im Mittelalter schließlich setzte die massive Christianisierung des Südens ein, das Ringen der theologischen Topografie um Erklärungen mittels Symbolen und Metaphern, die ambivalente Besetzung der Farbe Schwarz. Es blieb Hildegard von Bingen vorbehalten, den Süden als Sinnbild für „die Energien des Hellen, des Warmen, des Trockenen und des Geistigen“ zu erschaffen. Diese mittelalterliche Umdeutung konnte nur deshalb passieren, weil nordeuropäische Einflüsse sich stärker bemerkbar machten und weil die Idee des Gelobten Landes tausende und abertausende von Füßen in Nord-Süd-Richtung in Bewegung setzte.

Die Pilgerreisen, deren drei Hauptziele Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela waren, brachten neben Reliquien und Muscheln als Reiseandenken eine neue Vorstellung des Südens nach Norden – der Süden wurde zur „Himmelsrichtung der göttlichen Gnade“, der letzte für die mittelalterlichen Pilgerfahrer erreichbare Punkt war die Spitze des Berges Hebron.

Während für den Rest Europas die Weltmeere noch unüberwindbar lebensfeindlich schienen, stellten am Beginn der Frühen Neuzeit portugiesische Seefahrer ihre Wappensäulen entlang immer weiter ausgreifender Seerouten nach Süden auf. Die unbekannte Welt wurde bekannt; die neuen Inseln verdrängten zunehmend die alten Monster von den Seekarten. Von der christlichen Heilslehre wandelte der Süden sich zu einer Inselutopie, die in ihrer Exotik das glücksverheißende Liebesparadies in sich trug. Die ungebrochene Anziehungskraft des Südens und seiner Verlockungen füllte die Kunst- und Wunderkammern der Fürstenhöfe. Im 18. Jahrhundert schließlich entwickelte Montesquieu seine Klimatheorie und legte damit den Grundstein für die Topoi über menschliche Charaktereigenschaften unter dem Einfluss von Wetter und Landschaften – der ‚Nordmensch‘ und der ‚Südmensch‘ entstanden.

Ende des 18. Jahrhunderts schließlich wurde das Italien, das „Land, wo die Zitronen blühen“, als ultimative Verkörperung des Südens entdeckt. Gerade diesem Zeitabschnitt, der bis heute immer noch sehr wirkmächtig ist, widmet Richter aufmerksame Ausführungen. So stellt er deutlich heraus, wie sehr die Vorstellung von Italien sich von den tatsächlichen Reiseerlebnissen auf der Grand Tour unterschieden hat, wie stark eben auch nach den Pilgerstätten und Südseeinseln Italien als Projektionsfläche besetzt wurde. Die Parallelen, die sich dabei auftun, sind zum Teil verblüffend, die Fortführung einmal gesetzter Topoi – wie das der freien Liebe – erscheinen hartnäckig und fast unauslöschbar. Am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich wurde der Süden nicht nur zum Reise-, sondern gar zum Lebenstraum der Nordeuropäer; ein Sehnsuchtsort schlechthin für den Traum vom neuen Leben beziehungsweise einer neuen Lebenswelt mit ungehemmten Möglichkeiten zur freien Selbstverwirklichung. Über die sonnigen Träume einer besseren Welt geht Richter den logischen und folgerichtigen Schritt zum südlichsten aller Orte: dem Südpol. Seine Erkundung gelang erst 1912, aber damit war der Süden als unentdecktes Territorium endgültig entzaubert.

Der Schluss des Buches widmet sich zusammenfassend eher essayistisch den Vorstellungen über den ‚sonnigen Süden‘, warum und wieso diese Formel stets so bedeutsam war, welche Nord-Süd-Gefälle unsere heutige Lebenswelt durchziehen. Eines wird dabei klar: der Süden ist, wie der Norden auch, fest in unserer kulturellen Welt und in unseren Sehnsüchten verankert, es verbinden sich ebenso historische Mythen wie menschliche Katastrophen und Träume mit ihm.

Die wunderbar unprätentiöse und dennoch melodische Erzählstimme Richters trägt das Thema – man möchte fast sagen – mit sommerlicher Leichtigkeit. Besonders erfreulich an dem Buch ist die Harmonie zwischen Thema, Sprache und Layout. In gewohnter Wagenbach-Eleganz gestaltet, ist es eine Freude, in dem Buch zu blättern, vorwärts und rückwärts zu lesen, die hervorragenden Zitate zu rekapitulieren und das sorgsam eingesetzte Bildmaterial zu genießen. So glaubt man fast, beim Auf- und Zuklappen des Buches eine ganz, ganz leichte Sommerbrise zu spüren.

Titelbild

Dieter Richter: Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.
218 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136312

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch