Unlösbare Konflikte?

Matthias N. Lorenz über „Literatur und Zensur in der Demokratie“ der BRD

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine Zensur findet nicht statt.“ So steht es in Artikel 5 Abs. 1 GG. Trotzdem wurden Bücher wie „Mephisto“ von Klaus Mann, 1966, oder „Esra“ von Maxim Biller, 2007, verboten, musste sich Günter Grass für ein ausgewiesenes literarisches Kunstwerk wie „Katz und Maus“ als übler Pornograf beschimpfen lassen. Aber es gab auch in der puritanischen Frühphase der BRD Freisprüche durch Gericht wie für Jean Genets Roman „Notre Dame des Fleurs“ und andere Bücher, die in das Visier der Staatsanwaltschaft geraten waren.

Wie lassen sich diese scheinbaren Widersprüche erklären? Wer das Buch von Matthias N. Lorenz daraufhin liest, wird nur zum Teil Antwort auf diese Frage bekommen. Dies ist einerseits der Komplexität der Sache geschuldet, andererseits ist es ein Manko des Buches, nicht allen Facetten des Themas nachgegangen zu sein.

Der Verfasser gliedert sein Buch in fünf Kapitel, wobei die notwendige Begriffsdefinition und die Geschichte der Zensur in den ersten beiden Kapiteln hinreichend abgehandelt werden. In der Bundesrepublik gehört das Verbot der Zensur zu den Grundrechten in der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter Zensur ausschließlich nur die Präventivzensur. Die Prohibitivzensur spielt keine Rolle in der BRD im Gegensatz zur damaligen DDR. Nach Darlegung der Grundsätze des BVerfG zur Kunstfreiheit und Zensur gibt Lorenz abschließend seine Definition der Zensur in der Demokratie. Sie sei zwar kein eindimensionales Phänomen, aber man könne durchaus sprechen von Zensur in Form von „Kommunikationsbarrieren, die von ,oben‘ wie von ,unten‘ ausgehen können, die Öffentlichkeit unterbinden oder gerade herstellen können, die eine Veränderung kollektiver Einstellungen verhindern oder bewirken können.“

Lorenz gibt dann einen Exkurs über die Zensurgeschichte in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Hier könnte man zwar punktuell Einwände gegen seine Gleichbehandlung von Bücherverbrennung, Vertreibung von Literaten und totaler Kontrolle des Literaturbetriebes anbringen, aber spannender sind sicherlich die Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik, die zur Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht landeten. Darauf wird später zurückzukommen sein.

In den nächsten zwei Kapiteln geht Lorenz auf Medienwirkung und Medienkontrolle ein, ohne dass ersichtlich würde, warum er diese ausführliche Darstellung vornimmt. Zur Sache der Literatur und Zensur in der Demokratie tragen diese Kapitel kaum etwas bei. Zwar ist es richtig, dass angesichts von Amokläufen in Schulen oder der zunehmenden Gewalt von Jugendlichen über Verbote, sprich Zensur, in der Öffentlichkeit nachgedacht und diskutiert wurde. Allerdings stellt sich wirklich die Frage, ob man Videospiele oder andere gewaltverherrlichende Medien oder Sendungen unter den hier gemeinten Begriff der Literatur fassen kann.

Diese beiden Kapitel und die darin aufgezeigten Probleme hätten exkursorisch abgehandelt werden können. In dieser Ausführlichkeit stören sie nur die Konzentration auf die Literatur und tragen wenig zum Erkenntnisgewinn in der Sache bei. Im letzten Kapitel, das die Hälfte des Buches umfasst, führt Lorenz mit insgesamt 8 Fallbeispielen noch einmal in das Zentrum der Frage Literatur und Zensur. Die hier dargestellten Beispiele sind die bereits angesprochenen Fälle Grass, Mephisto, Genet und andere. Gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren waren moralisch-sittlich und politisch motivierte Indizierungen von Romanen, Filmen und Presseerzeugnissen häufig.

Ein Beispiel für ein politisch motiviertes und aus vorgeblichen Gründen des Schutzes der Persönlichkeit ausgesprochenes Verbot war der Roman von Klaus Mann „Mephisto“. Dies wird in der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts München vom 17. März 1966 deutlich: „Es geht nicht an, jedem in seinem Beruf tüchtigen Mann die Ehre abzuschneiden, weil er nicht 1933 und später emigriert ist, sondern auch unter dem neuen Regime weiter seinen Beruf ausübte. […] Die Allgemeinheit ist nicht daran interessiert, ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1933 aus der Sicht eines Emigranten zu erhalten.“

Deutlicher kann man die politische Intention des Urteils in seiner Ablehnung der Emigration nicht ausdrücken. Obwohl daraufhin nicht nur in der literarischen Öffentlichkeit und in vielen Teilen der Gesellschaft die Empörung groß war und man von Zensur sprach, hob das vom Verlag angerufene BVerfG bei Stimmengleichheit der Richter das Verbot nicht auf und der Roman erschien erst 1981 im Rowohlt Verlag, ohne dass gegen diese Veröffentlichung geklagt worden wäre.

Aber noch 2007 wies das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde von Maxim Biller zum Verbot seines Romans „Esra“ zurück. Seine ehemalige Lebensgefährtin und deren Mutter hatten vor Gericht geklagt und sahen sich in den Hauptpersonen des Romans kenntlich geschildert und in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Das Gericht gab Ihnen Recht, indem es auf die Übereinstimmung von Abbild und Urbild abhob: „Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.“

Diese Urteile zeigen die ganze Problematik des Artikels 5 GG bezüglich der Kunstfreiheit und der Zensur einerseits und dem Schutz der Persönlichkeit und anderer schützenswerten Interessen von Einzelpersonen oder Personengruppen in der BRD andererseits auf. Nun ist aber nicht erst seit Thomas Manns „Buddenbrooks“ die Problematik des Schlüsselromans und der vermeintlichen Übereinstimmung von Urbild und literarischer Figur bekannt und Thomas Mann hat in seinem Essay „Bilse und ich“ Grundsätzliches dazu ausgeführt. Man kann sogar darüber hinausgehend sagen, dass gerade in Romanen beziehungsweise Prosa immer autobiografische Elemente in den Text eingehen und fiktionalisiert werden. Dies belegen vielfältige Diskussionen oder sogar Rechtsstreitigkeiten wie um Max Frischs „Montauk“, Ingeborg Bachmanns „Malina“, Thomas Bernhards „Holzfällen“, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Dieses grundsätzliche Problem der Literatur im Spannungsfeld zwischen künstlerischer Freiheit und dem Schutz der Persönlichkeit hätte einer eingehenderen Analyse und Diskussion durch den Autor bedurft. Der zweite Komplex betrifft die Zensurfälle gegen Genet und Günter Grass wegen Pornografie beziehungsweise wegen des Verstoßes gegen die Sittlichkeit. Diese Fälle sind eigentlich nur noch historisch interessant, weil weder „Katz und Maus“ noch „Notre-Dame-des-Fleurs“ heute ein Problem darstellen würden. Da ist die Öffentlichkeit durch Filme und das Internet. anderes gewöhnt. Interessanter sind da schon die Beispiele der Gewaltdarstellung sowie der Ausblick auf zukünftige Zensur- oder auch Selbstzensur auf Grund von Political Correctness und Privatisierung der Zensur. Lorenz weist zu Recht auf die Gefahren von Selbstzensur und die Privatisierung von Zensur hin. Allerdings vermisst man in diesem Kontext den Hinweis auf Angriffe auf die Freiheit der Kunst, wie sie neuerdings wieder von religiöser Seite zu konstatieren sind. Mohammed-Karikaturen oder die Forderung des Schutzes vor der Verunglimpfung religiöser Symbole oder Gefühle sind nur ein Beispiel.

Durch diese öffentlichen Anprangerungen ist ein Druck zur Selbstzensur nicht von der Hand zu weisen. Dies sieht auch Lorenz und es besteht nach seiner Einschätzung die Gefahr, dass dadurch nicht nur brisante politische Themen ausgespart werden, sondern dass in anderen Fällen der Avantgardecharakter der Kunst so beschnitten wird, dass man fast nur noch im Bereich der konventionellen Kunst arbeitet. Drittens entfallen damit natürlich fast alle Kontroversen um die Kunstfreiheit, da kein staatlicher oder rechtlicher Eingriff mehr notwendig ist. Die Zensur als sichtbares Phänomen wäre damit aus dem gesellschaftlichen Raum verschwunden. Abschließend ist festzuhalten, dass die Zensur der Literatur in einer Demokratie, hier am Beispiel der Bundesrepublik, eher eine Ausnahmeerscheinung ist.

Allerdings können sich immer wieder in dem Spannungsfeld zwischen Freiheit der Kunst und einer möglicherweise vorliegenden schwerwiegenden Beeinträchtigung der Persönlichkeit im Grunde unlösbare Konflikte ergeben, die auch in Zukunft in einem liberalen Rechtsstaat tendenziell eher zur Stärkung der Kunstfreiheit als zu deren Einschränkung führen. Mehr kann man in einer Demokratie nicht erwarten.

Diese komplexe Situation dem Leser im Großen und Ganzen doch recht gut transparent gemacht zu haben, ist das Verdienst des Buches, das man mit den genannten Einschränkungen durchaus empfehlen kann.

Titelbild

Matthias N. Lorenz: Literatur und Zensur in der Demokratie. Die Bundesrepublik und die Freiheit der Kunst.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2009.
214 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783825232665

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch