Gender-Theorie als Zukunftsroman

Muriel Cormican untersucht anhand der Frauenfiguren die Verhandlung von Identität im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungeachtet der inzwischen nicht wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zu ihrem theoretischen und literarischen Werk wird Lou Andreas-Salomé in weiten Kreisen des Bildungsbürgertums noch immer vorrangig als Freundin bekannter Männer wie Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud erinnert. Dabei war sie doch alles andere als ein Mensch, der sich im Glanze berühmterer Zeitgenossen zu sonnen pflegte, oder eine bloße Proselytin dieser drei so unterschiedlichen Herren, sondern verfolgte ganz fraglos „her own agenda“, wie Muriel Cormican zu Recht in ihrer englischsprachigen Studie über Frauen im Œuvre der vielseitigen Autorin bemerkt, die neben etlichen Novellen und Romanen wie etwa „Im Kampf um Gott“, „Aus fremder Seele“ oder „Ruth“ auch mit psychoanalytischen und geschlechtertheoretischen Arbeiten sowie schon früh mit einer Publikation zum Leben und Werk Nietzsches hervorgetreten ist.

Cormican hat für ihre Studie nun einen Aspekt von Andreas-Salomés Werk gewählt, der schon öfter Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen war, zumal in den letzten Jahren. So hat sich etwa die Kulturwissenschaftlerin Christine Kanz in diversen Aufsätzen und zuletzt in einigen Kapiteln ihrer Habilitationsschrift „Maternale Moderne“ mit dem, wie sie sagt, „Mütterlichkeitskult“ Andreas-Salomés’ befasst, Chantal Gahlinger publizierte unter dem Titel „Der Weg zur weiblichen Autonomie“ im Jahre 2001 ihre Dissertation „zur Psychologie der Selbstwerdung im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé“ und Katrin Schütz legte 2008 ein Buch über „Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou Andreas-Salome unter Berücksichtigung ihrer Geschlechtertheorie“ vor. Nimmt Cormican wiederholt, mal kritischen, mal zustimmenden Bezug auf Gahlingers Publikation, so war es ihr offenbar nicht mehr möglich, die Ergebnisse von Schütz zu berücksichtigen, was umso bedauerlicher ist, als sich beide Autorinnen nicht auf die Weiblichkeitsentwürfe im literarischen Werk Andreas-Salomés beschränken, sondern diese ganz explizit mit der Geschlechtertheorie der Literatin und Psychoanalytikerin vergleichen. Dass sie die teils schon älteren Erkenntnisse von Kanz nicht rezipiert, ist hingegen unverständlich.

Cormican zufolge beschwört Andreas-Salomé zwar in ihren literarischen Werken romantische Idealisierungen von Ehefrauen und Müttern, doch zugleich „complements and complicates“ die Literatin die beiden Weiblichkeitsideale, und zwar auf doppelte Weise. Denn Andreas-Salomé gestalte nicht nur sehr unterschiedliche Frauentypen (unter ihnen unterwürfige, unabhängige, feministische, männliche, sexuelle freizügige), denen sie ausnahmslos eine selbstverständliche Legitimität zuspreche, sondern sie statte darüber hinaus jede dieser Frauenfiguren mit einem komplexen Innenleben voller Unsicherheiten und Widersprüchen aus. Beides, so gesteht man gerne zu, ist nicht von der Hand zu weisen. Ob dies jedoch ausreicht, um Andreas-Salomés Mütterlichkeitsidealisierung zu brechen, mag dahingestellt sein.

Cormicans Analyse zielt nun auf zweierlei: Zum einen möchte sie die Lesenden mit einem über die üblicherweise verhandelten Romane und Novellen hinausreichenden Textkorpus von Andreas-Salomés literarischen Werken bekannt machen, und dabei die soziopolitischen, historischen und kulturellen Kontexte der Werkentstehung berücksichtigen, ohne jedoch deren biografische und psychoanalytische Perspektiven zu betonen. Zum zweiten beabsichtigt die Autorin zu zeigen, dass und wie Andreas-Salomé gegenwärtige gender- und queertheoretische Diskurse der Identitätspolitik vorwegnimmt. Ein offenbares drittes Anliegen verschweigt Cormican zwar nicht gerade, doch unterstreicht sie es auch nicht in der gebührenden Deutlichkeit. Handelt es sich doch gerade um den interessantesten Aspekt ihrer Arbeit. Er thematisiert eine spezifisch Differenz zwischen dem theoretischen und dem novellistischen Werk Andreas-Salomés.

Was nun den ersten der genannten drei Punkte betrifft, so löst Cormican ihre Ankündigung nicht zuletzt dadurch ein, dass sie die von der Forschung wenig beachtete Erzählsammlung „Menschenkinder“ in den untersuchten Textkorpus aufnimmt. Der zweite Punkt, die Übereinstimmung von literarischen Werken Lou Andreas-Salomés mit gegenwärtigen gender-theoretischen Überlegungen, ja deren Vorwegnahme, erweist sich hingegen als nicht unproblematisch. Andreas-Salomé „validates“ eine „myriad“ von Lebensplänen, um die Aufmerksamkeit ihrer LeserInnen auf die „discursive construction“ einer bloß vermeintlich natürlichen Weiblichkeit zu lenken, lautet eine der diesbezüglichen zentralen Thesen der Autorin. Mag es auch sein, dass die Schriftstellerin der vorletzten Jahrhundertwende trotz der von ihren literarischen Werken präferierten oder gar propagierten Ehefrau- und Mutterideale deutlich macht, dass diese nicht von der Natur vorgeschrieben sind, so heißt das doch noch nicht, dass sie ihr als konstruiert gelten. Das ist vielmehr eine dezidiert heutige Sichtweise. Ganz zu schweigen davon, dass diese Konstruktion auch noch diskursiv erfolge (also nicht etwa gesellschaftlich, sozial et cetera). Andreas-Salomé, so die Autorin weiter, ,most clearly reveals not only how femininity is a discursive construct but also how that construct has very real impact on the shaping of both women’s and men’s identities, sexualities, and lives‘. Das ist natürlich Judith Butler pur. Und so fällt ihr Name auch alsbald. Andreas-Salomé, erklärt Cormican, habe sogar Butlers „positive construction of identity perfomance in ,Gender Trouble‘“ vorweggenommen.

Wie die Autorin weiter argumentiert, bilde Andreas-Salomés Werk nicht nur ein Korrektiv sowohl zu konservativen Erzählungen und auch zu denjenigen des radikalen Flügels der zeitgenössischen Frauenbewegung. Ihre Romane und Erzählungen belegten zudem, dass die Literatin seinerzeit bereits einen Fehler der zweiten (deutschen) Frauenbewegung erkannt habe, den Butler fast ein Jahrhundert später in ihrem Buch „Gender Trouble“ kritisieren sollte. Cormican zufolge erkennt Andreas-Salomé schon ein rundes Jahrhundert vor Butler die Fragwürdigkeit der Projektion, die Feministinnen von ‚den Frauen‘ sprechen lässt, die es zu repräsentieren gelte. Eine Projektion die der patriarchalischen Logik entspreche, die Frauenrechtlerinnen und Feministinnen doch gerade unterminieren wollten.

Doch nicht nur Erkenntnisse Butlers seien von Andreas-Salomé antizipiert worden, sondern auch solche von Luce Irigaray und Julia Kristeva. „Kristeva-like“ sei etwa, dass Andreas-Salomé „establishes motherhood as a model for human exitence in general because it is ,natural‘ and connects one to a primitive and physical, a less-differentiated mode of being.“ Kristevas Konzept von Mütterlichkeit antizipierend, mache Andreas-Salomé Mutterschaft sowohl in ihren fiktionalen Schriften wie auch in „Der Mensch als Weib“ zur Grundlage der physischen und psychischen Differenz von Frauen. Ebenso wie Andreas-Salomé kritisiere auch Kristeva einerseits die Reduktion von Weiblichkeit auf Mutterschaft, doch „goes on to indulge in the same kind of reduction by elevating maternity to the level of purest interpersonal relationship“ Wo Kristeva allerdings in Anspruch nehme „to be able to disentangle the real from the ideal“ und darauf bestehe, dass ihre Mutter/Frau eine reine Figur, eine nicht-essentialistische Metapher ist, erkenne Andreas-Salomé die Schwierigkeit, die Figur der Mutter/Frau von den realen Müttern/Frauen zu trennen, aus denen die Figur konstruiert sei.

Doch damit nicht genug. Auch mit Michel Foucault macht Cormican Gemeinsamkeit aus. Ähnlich wie dessen genealogische Untersuchung der Sexualität „redistributes and inverts“ Andreas-Salomé „cause-and-effect relationships and questions the authority of those who would claim to objectivly map biological difference onto gendered psyches and real lives.“ Und selbst die von der Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey entwickelte Theorie des männlichen Blicks der Kamera sei durch Andreas-Salomés Verständnis der „power of looking“ vorweggenommen worden und zwar inklusive der Kritik, die andere feministische Filmtheoretikerinnen später an dieser Theorie übten. In ihrer Novellensammlung „Menschenkinder“ antizipiere Andreas-Salomé Mulveys Theorie und „even prefigures later critique of Mulvey’s theory and indicates […] how the gaze might be challenged and destabilized.“ Überhaupt behandele der Band genau die Fragen, die „Mulvey, De Lauretis, Doane, and other feminist theorists, and inparticular film theorists, have been concerned with over the past forty years.“

Alleine schon diese Überfülle der ‚Vorwegnahmen‘ legt den Verdacht nahe, dass Cormican heutige gender-theoretische Überlegungen auf Biegen und Brechen in die Werke von Andreas-Salomé hineininterpretieren möchte. Doch davon völlig abgesehen ist Hans Höllers kürzlich geübter Kritik an der „Redefigur der ‚Vorwegnahme‘ theoretischer Positionen“ durch literarische Werke ganz prinzipiell zuzustimmen.

Kommen wir nach diesem wenig überzeugenden zweiten zum dritten, vielversprechendsten Anliegen Cormicans, die „contradiction“ der Weiblichkeitskonstruktionen beziehungsweise -darstellung in Andreas-Salomés Essayistik und Erzählwerk herauszuarbeiten und zu begründen. Hierzu liest sie vor allem Andreas-Salomés Essay „Der Mensch als Weib“ mit deren Erzählung „Eine Ausschweifung“ parallel und arbeitet eine klare Unterscheidung zwischen Aussagen des theoretischen Diskurses, in dem Frauen als „figures“ fungieren, und den konkreten Umständen, in denen Frauen „function as freely as possible as people“ heraus. Autorin und Lesende des Essays stünden vor der unlösbaren Aufgabe „to dissociate ‚Weib‘ from ist real-life referent in woman“. Dabei handele es sich bei dem Essay nicht etwa um eine Arbeit über Weiblichkeit „as it is“, vielmehr schreibe Andreas-Salomé über Weiblichkeitsdiskurse. Denn sie betone, dass ‚Weiblichkeit‘, so wie sie beschrieben und konstruiert wird, zwar in Diskursen existiert (und womöglich auch in dieser oder jener Frau), sie darum jedoch keineswegs als Norm gelten solle. Das vielleicht wichtigste Moment des Essay sei daher, dass es demonstriere, wie Theorien verbreitet, untersucht und sogar geschätzt werden könne, ohne dass sie das Verhalten in der realen Welt bestimmen sollten. Denn Andreas-Salomé zeige in dem Essay „Der Mensch als Weib“, dass Gender-Theorien stets als „science fiction“ fungieren, handele es sich bei ihnen doch um „a fantasizing about how things might be rather than a description of how things are.“ Andreas-Salomé, so lautet Cormicans diesbezügliche These daher, betrachte Theorie als etwas, das nicht „one-to-one“ mit dem Leben korrespondiert, sondern in einem eigenen „realm of the idealistic“ schwebe.

In ihren fiktionalen Texten entwickle Andreas-Salomé sogar eine fundamentale und programmatische Ambivalenz gegenüber kulturellen Normen und ihrer wissenschaftlichen Begründung. Mit dem Ende ihrer Erzählungen seien die Verhandlungen über Identität keineswegs abgeschlossen. Die Ruhelosigkeit von Andreas-Salomés Frauenfiguren ließen sie als „works in progress“ deutlich werden. Stets in Bewegung erreichten sie nie einen vorhersehbaren Endpunkt.

Abschließend ist noch einmal auf Andreas-Salomés Verhältnis zur Frauenbewegung zurückzokommen. Cormican charakterisiert es zurecht als komplex und widersprüchlich. Frauenemanzipation sei für Andreas-Salomé nicht „necessarily positive“, zumindest nicht für ‚das Weib‘, also für die in ihren theoretischen Arbeiten entwickelte Weiblichkeitsvorstellung. Denn emanzipiert zu leben, rufe „psychic upsets“, innere Konflikte und Identitätsprobleme hervor. In einer interessanten Wendung argumentiere Andreas-Salomé jedoch zugleich, dass es der ‚natürlichen Weiblichkeit‘ von Frauen mehr schade, ihre freie und selbstbestimmte Entwicklung in irgendeiner Weise zu beschneiden, als dies irgendein ‚unweibliches‘ Verhalten könne. Gelegentlich unterbreche Andreas-Salomé sogar ihre Ausführungen, um jenseits aller Theorie für die absolute Freiheit der realen Frauen zu plädieren.

Titelbild

Muriel Cormican: Women in the Works of Lou Andreas-Salome. Negotiating identity.
Camden House, Suffolk 2009.
183 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9781571134141

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