Töchter der Republik

Adalet Agaoglus Erstlingswerk „Sich hinlegen und sterben“ liegt 35 Jahre nach der türkischen Erstveröffentlichung nun auch auf Deutsch vor

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 2005 präsentiert die „Türkische Bibliothek“ unter der Herausgeberschaft von Erika Glassen und Jens Peter Laut Meisterwerke der türkischen Literatur des 20. Jahrhunderts in deutscher Übersetzung. Die 20 Bände der im Unionsverlag erscheinenden Reihe sollen zusammen ein facettenreiches und eindrucksvolles Bild einer zwischen Tradition und Moderne schwankenden Gesellschaft ergeben, dokumentiert von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die dieses kreative Spannungsverhältnis als Inspirationsquelle genutzt haben. Mit Adalet Agaoglu (geboren 1929) stellt man eine Vertreterin der ersten Republikgeneration vor, die sich im Zuge der 68er-Bewegung mit den Auswirkungen von Atatürks radikalen Reformen (selbst-)kritisch auseinandergesetzt hat und deren Romane in mehrfacher Hinsicht den Übergang von der Moderne zur Postmoderne markieren.

In „Sich hinlegen und sterben“, im ersten Teil der „Trilogie der knappen Zeit“, steht die erfolgreiche Dozentin Aysel im Mittelpunkt. Sie steckt gerade in einer Lebenskrise, aus der sie nur einen Ausweg sieht: Sie legt sich im sechzehnten Stock eines Hotels zum Sterben hin. Hier, an der Schwelle des Todes, stellt sie sich noch einmal die dringendste aller Fragen – Wer bin ich? – und beschwört aus ihren Erinnerungen wichtige Stationen und Menschen ihres Lebens herauf. Schon in der ersten, karnevalistisch-grotesk anmutenden Szene – das Kulturprogramm zum Schulabschluss in einer anatolischen Kleinstadt, eine Mischung aus Gesang, Märschen, Nationalhymne, Gedichten, hochtrabenden Reden, Geigenspiel, und nicht zuletzt als „Fenster zum Westen“, der Polka – wird der Grundkonflikt einer vielschichtigen Gesellschaft, die bestimmte Weltanschauungen und soziale Werturteile, da altmodisch, über Nacht und per Anordnung abgeschafft bekommt, und einer von ihr geformten Intellektuellen sichtbar. Der republikbegeisterte Lehrer Dündar entlässt seine Schar, die Kinder der Republik, die er zu einer pflichtbewussten „Armee des Wissens“ erzog, in eine bessere Zukunft. Dank seiner Hartnäckigkeit wird auch die Krämertochter Aysel an der Universität in Ankara studieren können. Ein ungeheuer großer Schritt in einer kleinbürgerlichen Familie, in der dem Mann das alleinige Recht auf Entscheidung zusteht und Frauen folglich unmündig und sprachlos sind.

Doch der weibliche Selbstfindungsprozess, den Agaoglu vom Anfang der 1930er-Jahre bis 1968 verfolgt, wird nur scheinbar von den kemalistischen Reformen (Gleichberechtigung der Geschlechter: Bildungsgleichheit und Wahlrecht) gestützt; in der türkischen patriarchalen Gesellschaft ist die Rollenverteilung nach wie vor durch Tradition und Sitten bestimmt. Ohne die nötigen strukturellen Veränderungen ist Aysels Emanzipationskampf aufreibend, sie kann ihre gesellschaftlichen Pflichten nur erfüllen, indem sie ihre persönlichen Wünsche unterdrückt. „Nur nicht auffallen“, ist schon in der Kindheit eine ihrer Devisen. Sie rebelliert gegen das bestehende System, indem sie die Unterdrückung durch den Vater und den Bruder über sich ergehen lässt, sich den Bedingungen anpasst, um zu studieren und einen Beruf ausüben zu können. Mit viel Fleiß und Ausdauer gelingt es ihr später, ihre Karriere stets voranzutreiben, doch die in den akademischen Kreisen erreichte Gleichberechtigung gilt lange noch nicht im von herkömmlichen Denkweisen dominierten Alltag.

So muss sie auch erkennen, dass eine zwanglose Beziehung zum männlichen Geschlecht, die sich auf die Ehe beschränkt, der Frau kein Gefühl der Freiheit vermittelt; genauso wie der sehr private und offene Kontakt zu einem ehemaligen Schulkameraden, der Atatürks Ideologie auch im Sinne einer unverkrampften Sexualität interpretiert und deswegen ihre scheue Art im Umgang mit Männern kritisiert. Erst die Nacht, die sie mit ihrem fünfundzwanzigjährigen linksorientierten Studenten verbringt und die für den Krisenmoment verantwortlich ist, macht ihr ihre verdrängte Sexualität, das „jahrelange Abgetrenntsein meines Körpers von mir selbst“, bewusst. Nach der – eigentlich ernüchternden – Stunde in der Studentenbude fühlt sie sich körperlich und geistig verjüngt. Dem damaligen Zeitgeist (in der westlichen Hemisphäre) entsprechend kann für Agaoglu nur eine Frau, die in der Lage ist, ihre intellektuellen Bedürfnisse mit denen der Frau als geschlechtliches Wesen zu verbinden, die moderne, die „freie, türkische“ Frau verkörpern.

„Sich hinlegen und sterben“ ist ein multidimensionaler Roman, der in einem dreißig Jahre in den Blick fassenden Bewusstseinsstrom privat wie politisch Widersprüchliches kunstvoll miteinander verbindet. Die leitmotivisch wiederkehrenden Figuren stehen mit ihren Einzelschicksalen für die gesellschaftspolitischen Entwicklungen, so bekommt die oppositionelle linke Szene oder das Militär ebenso ihre Vertreter wie nationalistische Strömungen oder die wiedererstarkenden islamischen religiösen Kreise. Der einzigartige Stil der Autorin ergibt sich zusätzlich aus der Simultaneität und Komplementarität mehrerer Zeitebenen und sehr unterschiedlicher erzählerischer Elemente wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe oder Träume. Lediglich die ausufernde Verwendung von Zitaten aus Presse, Rundfunkberichten, Literatur oder Film, die Zeitbezüge herstellen sollen und dies auch pointiert tun, können auf den Leser etwas ermüdend wirken.

Titelbild

Adalet Agaoglu: Sich hinlegen und sterben. Roman.
Nachwort von Erika Glassen.
Übersetzt aus dem Türkischen von Ingrid Iren.
Unionsverlag, Zürich 2008.
509 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783293100121

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