Der Todesreiter von Santa Fe

Zu Gerhard Roths Bericht über die Stadt Wien

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhard Roths Porträt der Stadt Wien ist eigentlich eine Sammlung von Essays, die schon in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Die Zusammenstellung vermittelt dabei den Eindruck eines kompakten Stadtporträts. Dabei ist es Roth gelungen, wie der Buchtitel schon andeutet, in das Innerste einer Stadt vorzudringen, die spätestens seit Carol Reeds „Der Dritte Mann“ im kollektiven Bildgedächtnis als „Stadt in Schwarzweiß“ abgelegt wurde. Diesen Nachtseiten geht Roth in seinen Reportagen nach, auch wenn sich diese gelegentlich vom Charakter eines herkömmlichen Stadtporträts entfernen. Dieser etwas schräge Blick auf die österreichische Metropole ist die eigentliche Besonderheit seiner Textsammlung.

Die über zwanzig Jahre „Wienforschungen“ beginnt Roth mit einem kurzen Bericht aus seiner Werkstatt, über sein Schreiben und über die „Muster“, die er in seiner Umwelt wahrnimmt. Dabei sind es immer von der „normalen“ Beobachtung abweichende Wahrnehmungen, die die „Wientexte“ in ihrer bohrenden Analytik so herausragend machen: „Währenddessen fliegt am grauen Himmel, wie jeden Winterabend, ein krächzender Krähenschwarm zum Nachtquartier am Steinhof, in dessen Pavillons die Geisteskranken ihren Gedanken nachhängen, und auch die Krähen vor dem Naturhistorischen Museum erheben sich und folgen ihnen.“ Dabei wird der Leser mit neuen Rezeptionsmustern bekannt gemacht, die ihm bis dahin noch nicht gemachte Wahrnehmungen erlauben: „Das riesige Kunsthistorische Museum träumt, denke ich, die Säle und Depots sind begehbare Träume der Menschheit, in denen wir uns selbst erkennen können. Die zersplitterte und nur zum Teil wieder zusammengeführte Sammlung aus dem Hradschin und Schloss Ambras erzählt aber auch – wie die Gemälde, die antiken Skulpturen und die ägyptische Sammlung – nicht nur die Geschichte von der namenlosen Gier und Neugier der Menschen, sondern auch das endlose Epos vom Entstehen, Verschwinden und Wiederauftauchen der verlorenen Zeit.“

Roth zelebriert kulturhistorische Exkurse, schreckt nicht vor detailreichen Schilderungen zurück und gräbt Fakten aus, die einem Lexikon des „unnützen Wissens“ gut zu Gesicht stehen würden. Er verwandelt die Fakten zu Geschichten, die wiederum mit Menschen verknüpft sind. Darin werden die Dinge erst durch ihre Hüter und durch das Personal der Geschichten lebendig. Dass diese Protagonisten seiner Reportagen und Geschichten, selbst wenn sie auf den ersten Blick unsympathisch scheinen, doch zu handlungstragenden Personen werden, ist dem Interesse des Autors an den Menschen Wiens zu verdanken. Dabei sind es oft die im Hintergrund stehenden „Helden“, die er für sein Erzählen gewinnt. In der Reportage über das „Flüchtlingslager Traiskirchen“ sind dies Migranten und Flüchtlinge: „Nur wenige der Illegalen, der Untergetauchten, der ‚clandestinos‘, wie sie in Spanien genannt werden, der ‚Heimlichen‘ oder ‚sanspapiers‘, ‚die ohne Ausweis‘, wie sie in Frankreich heißen, haben ein Diplom, eine Ausbildung, und alle bekommen sie den versteckten oder offenen Rassismus in den Ländern, in denen sie sich aufhalten, zu spüren, den langen Arm der Polizei, und geraten sie einmal in die Papiermühlen der Bürokratie, sind sie verloren. Abgeschoben zu werden ist die größte Niederlage für einen Migranten, nach dem größten Sieg, dem Betreten von europäischem Boden. Was anderes bleibt ihm übrig, als weiter auf der Flucht zu sein? Nur durch einen Zufall sind wir nicht sie und sie nicht wir.“

Bei den Streifzügen durch Roths Wien scheint man manchmal in einem Hauseingang Orson Welles beobachtend stehen zu sehen. Die Vergangenheit vermischt sich mit der Gegenwart und Roths Erzählungen und Beschreibungen der Wirklichkeit werden zu poetischen Gebilden, die wiederum selbst beginnen, mit der Zeit zu kokettieren: „Ist er auf einer Expedition in die Vergangenheit ums Leben gekommen, oder ist er noch immer auf der Suche nach einer besseren Welt in der Zukunft verschwunden? Ist er in ‚Alices Wunderland‘ gelangt und zum Weißen Kaninchen geworden? Wurde er zu einem Gedanken, der in Einsteins Kopf die Relativitätstheorie schuf, oder gelangte er gar ins Paradies? Hat ihn die Zeit am Ende verschlungen, wie Kronos eines seiner Kinder auf Francisco de Goyas Bild?“ Und wenn man in einem Hinterhof zusammen mit Roth herumstreift, wenn man Glück hat, sieht oben aus einem Fenster vielleicht Holly Martin heraus, schaut nach einer durch die Dämmerung streifenden Katze und fängt den Blick des Lesers auf. Was kann man von einem Buch mehr erwarten, als eine immer wieder mögliche Begegnung mit dem Autor vom „Todesreiter von Santa Fe“?

Titelbild

Gerhard Roth: Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
550 Seiten, 20,95 EUR.
ISBN-13: 9783100660824

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