Vielfalt der ,Säkularisierung‘

Über zwei Sammelbände zur Geschichte von Ästhetik und Religion

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gehört zu den stehenden Wendungen in den Einleitungen von Sammelbänden, dass die verschiedenen Aufsätze ein Thema facettenhaft entfalten sollen – nicht selten soll damit die Heterogenität der Beiträge kleingeredet werden. In diesem Fall ist das nicht nur der Sache nach gerechtfertigt, ist doch die Diskussion über ‚Säkularisierung‘ tatsächlich so breit wie vielfältig. Interessanter ist, dass innerhalb der Bände und an prominenter Stelle ihrem Konzept dezidiert widersprochen wird – und dass die Herausgeber selbst in ihrer Einleitung auf diesen Widerspruch hinweisen, ist ein Zeichen ihrer intellektueller Redlichkeit.

Gleich zwei von drei Titelbegriffen stellt Dirk Kemper in Frage: Dantes Werk sei keinesfalls eine Säkularisierung in ästhetischer Absicht, sondern bewege sich im Rahmen der genuinen Problematik einer christlichen Literatur, und auch die Verklärung Beatrices sei daher keinesfalls eine private ‚Ersatzreligion‘, sondern vielmehr eine christliche Allegorie. Einen universellen und langfristigen Prozess der Säkularisierung seit dem Spätmittelalter sieht Kemper nicht, seine Annahme bringe keinen Erkenntnisgewinn und sei vielmehr eine typisch deutsche Konstruktion, die heute endgültig zu verabschieden sei.

Tatsächlich ist die Geschichte von der Säkularisierung alt, und auch der Zusammenhang von Säkularisierung und Ästhetik gehört zu den eisernen Bestandsstücken der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft, die vor allem die Ästhetik der Kunstperiode häufig als Resultat des Rückgangs christlicher Deutungshoheit oder auch als ‚Verweltlichung‘ christlicher Ideen beschrieben hat. Wie das bei solchen Erzählungen so ist, blieb dabei notorisch unklar, wie sich diese ‚Verschiebung‘ genau vollzog und ob die Religion von der Kunst ‚ersetzt‘ worden sei oder sich eher in sie ‚verwandelt‘ habe. Auch die vorliegenden zwei Bände –im Untertitel „Von der Renaissance zur Romantik“ und „Die Klassische Moderne“ – wollen jene Zweideutigkeiten nicht entscheiden, die Herausgeber Silvio Vietta und Herbert Uerlings betonen vielmehr die Vielgesichtigkeit einer ,Säkularisierung‘, die sich nicht einfach als Verlustgeschichte deuten lasse.

Trotzdem soll sich mit ihr ein universeller kultureller Prozess beschreiben lassen, der – so die Annahme Viettas, die Kemper eben bestritt – vom Mittelalter bis in die Gegenwart reichte, ein Prozess, der, so ein deutlich normativer Unterton, „heute für die Entwicklung einer friedlichen Weltkultur richtungsweisend sein könnte“, insofern die Verweltlichung der Religion gerade deren Bedingtheit und Relativität deutlich machen könnte. „Es bedeutet, dass es einen absoluten Anspruch einer Religion, einer Kultur in dem Maße nicht geben kann, wie eben alle Religionen und Kulturen, immer irdische, menschliche und damit endliche Brechungen des göttlichen Funkens sind.“

Dabei verdeckt die ein wenig antiquirierte Rede vom ,göttlichen Funken‘ – selbst eine Figur der Romantik – eine latente Unterscheidung: die zwischen einer ,guten‘, verweltlichten, ästhetischen Religion – nämlich unserer, der europäischen – von den ,anderen‘ Religionen, die sich selbst ernst nehmen. Diese Unterscheidung ist um so politischer, als ja auch die Vermenschlichung der Religion durch die christliche Religion des Gottmenschen „vorgeprägt“ sei, dass also die anderen Kulturen, wenn sie in die „Schule der Säkularisierung“ geschickt werden, indirekt in die Schule des Christentums gehen werden – eine Denkfigur, die seit Hegel prominent ist und heute im Kampf der Kulturen wieder Konjunktur hat.

Allerdings wird diese Programmatik nur recht vorsichtig vorgetragen, und die einzelnen Beiträge zeigen dann auch, dass es in Wirklichkeit etwas komplizierter ist. So fragen etwa Karlheinz Stierle und Herbert Uerlings, ob Ästhetisierung mit der Säkularisierung einhergehe oder nicht vielmehr eine Reaktion darauf sei, ob also die Moderne tatsächlich im Gegensatz zur Religion verstanden werden solle, oder nicht – wie etwa in der Romantik – gerade aus dem religiösen Totalitätsanspruch entspringe. Ganz zu Recht setzt Markus Buntfuss der Unschärfe des Begriffes dessen „Differenzierung und Miniaturisierung“ entgegen, also auf die Konkretisierung in Fallstudien, wie es die meisten Beiträge eben auch tun. Dabei konzentrieren sich diese Fallstudien mit wenigen Ausnahmen auf zwei Konstellationen: auf die Kunstperiode und Romantik um 1800 und die Zeit der klassischen Avantgarden um 1900. In beiden Fällen kommt es zu einem Wechselspiel von Säkularisierungsbewegungen und Resakralisierungstendenzen, weshalb die Beiträge auch dort besonders interessant sind, wo sie das Ästhetische nicht abstrakt als Gegenbegriff zur Religion verstehen, sondern die ästhetische Darstellung als Schauplatz verstehen, auf der sich die Bedeutung von Religiösem und Säkularem jeweils allererst konstituiert. So etwa wenn Bernhard Greiner eine spezifisch jüdische Theatralität als Wechselspiel von Präsenz und Repräsentation beschreibt und das auf die Urszene des Abrahamsopfers zurückführt oder wenn Wolfgang Braungart zeigt, wie sich in Bertolt Brechts Stücken christliche Motive und Opfersymbolik gerade dort durchsetzen, wo die christliche Moral des Mitleids kritisiert wird.

Der größte Teil der Beiträge von Literaturwissenschaftlern, meist mit bekanntem Material aus der deutschen Tradition – nur die umstrittene Deutung Dantes und je ein Beitrag zu Russland und zu Frankreich greifen über den deutschen Raum hinaus. Auch der soziologische Diskurs bleibt mit Ausnahme eines recht unkonkreten Textes von Peter Berghoff über Sakralisierung des politischen Kollektives weitgehend unthematisiert. Einige philosophische Fallstudien über Martin Heidegger, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno schließen den Band ab, vermeiden es aber, den Säkularisierungsbegriff selber zu thematisieren, obwohl gerade diese Autoren an seiner Formulierung zentral beteiligt waren.

So ist etwa Heideggers existenzialistische Anverwandlung von Søren Kierkegaard, Paulus und Augustinus fraglos ebenso entscheidend für die Philosophiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wie seine gleichzeitige Denunziation theologischen Denkens als onto-theologische Metaphysik – eine Bewegung, die Friedrich-Wilhelm von Hermann, ganz im Sinne der Selbstinterpretation Heideggers nur als ,Abwendung‘ vom Christentum sieht, nicht als dessen komplexes Beerben. Gewissermaßen auf umgekehrte Weise wird Walter Benjamin von Maurizio Ponzi distanzlos als jüdischen Mystiker ästhetischer Verkleidung interpretiert, ohne auf Benjamins sehr dezidierte Kritik der Säkularisierungsvorstellungen einzugehen – dem die Rede vom ,göttlichen Funken‘ ebenso ein Graus gewesen wäre wie alle theologischen Halbheiten.

Georg Bertrams Beitrag schließlich spricht zwar von der erschließenden Kraft der ästhetischen Erfahrung bei Adorno, aber geht dabei auf deren religiöse Konnotationen – etwa in Adornos selbst Benjamin entlehnte Kategorie eines ,höheren Eingreifens‘ in das Werk – gar nicht ein. Hier hat der Band eine wichtige Chance ungenutzt gelassen, denn gerade der unscharfe, metaphorische und in hohem Maße suggestive Charakter der Rede von der ,Säkularisierung‘ erfordert, sich auch mit der Figur selber auseinander zu setzen, um nicht ihre gefährlichen Konnotationen zu perpetuieren. Dazu trägt übrigens auch bei, dass in dem Band nirgendwo eine Auseinandersetzung mit der Theologie der Säkularisierung stattfindet, obwohl diese nicht nur wesentlich zur Formulierung der Idee beigetragen hat, sondern auch für die gegenwärtige Renaissance nicht unwichtig ist, weil sie die geläufigen Selbstverständlichkeiten darüber, was Religion eigentlich sei, hinterfragt hat – man denke etwa an die Renaissance der politischen Theologie bei Giorgio Agamben, an die postmetaphysische Theologie Jean-Luc Marions, an die Dekonstruktion des Christentums bei Jean-Luc Nancy oder auch an die Metakritik der Postmoderne durch die Radical Orthodoxy.

Wenn dadurch die Idee der Säkularisierung recht diffus bleibt, so nimmt das den einzelnen Beiträgen nicht unbedingt etwas, vor allem, wenn sie sich unmittelbar mit den konkreten ästhetischen und literarischen Praktiken der Zeitgenossen auseinandersetzten: etwa mit der Resakralisierung der Autorschaft durch Gemeinschaftsbildung bei George (darüber Bernhard Böschenstein) oder durch Schriftverkehr bei Rilke (darüber Martina King) oder mit der Figur des prophetischen Autors, die dann insbesondere im Expressionismus ihr Nachleben findet (dazu Akane Nishioka), eine Figur, die – wie schon Uerlings Analyse des romantischen Messianismus – auch noch einmal deutlich macht, dass das Verhältnis von Ästhetik und Religion oft über die Politik vermittelt ist: über einen gesellschaftlichen Führungsanspruch oder auch nur ein bestimmtes Gesellschaftsbild, das die Kunst mit religiösen Referenzen entwirft. Hier ist also Kunst keinesfalls eine Form der Distanzierung vom religiösen, sondern dient eher der politischen Mobilmachung unter Rückgriff auf Mythisches und Religiöses.

In eine ähnliche Richtung weist auch der letzte Beitrag von Stephan Porombka über die religiösen und insbesondere kultischen Momente in der Netzkultur, die aus ihrer Vorgeschichte in der New Age-Bewegung die Idee eines befreienden Rausches erbt – hier wird ganz besonders deutlich, dass die ,Ästhetisierung‘ keine Einbahnstraße ist und nicht immer nur distanzierend wirkt, sondern auch Präsenz produziert. Das zeigt noch einmal sehr deutlich, dass ,Säkularisierung‘ auch für die Gegenwart ein Problemfeld bleibt, auch und gerade weil es so schwierig ist, begrifflich zu fassen, worum es bei ihr eigentlich geht.

Titelbild

Silvio Vietta / Herbert Uerlings (Hg.): Ästhetik Religion Säkularisation. Von der Renaissance zur Romantik.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
204 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546336

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