Zwei Kulturen?

Thomas Klinkert und Monika Neuhofer haben den Sammelband „Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800“ herausgegeben, der „Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien“ bietet

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da wo einst, in den 60er Jahren, Charles Percy Snow einen Hiat zwischen Geistes- und Naturwissenschaften setzte, der den folgenden Diskurs nachhaltig bestimmte, versucht die derzeitige Forschung eher nach die Übergänge und Wechselwirkungen dieser beiden Bereiche zu untersuchen. Dass Kunst, wie in zahlreichen modernen Poetiken behauptet wird, nicht völlig autonom, sondern sozial bedingt und thematisch zeitgenössisch beeinflusst ist, weicht die Vorstellungen der Zwei-Kulturen-Debatte nicht nur auf, sondern weist sie zudem als viel zu pauschal und inexakt zurück. Seit einigen Jahren wird daher verstärkt danach gefragt, was Literatur, beziehungsweise ob sie etwas wissen könne, ob sie ein spezifisches Wissen erzeuge oder auch nur wie eine Korrelation von Literatur und Wissenschaft im Einzelnen aussieht. Wie sehen beispielsweise thematische Übernahmen aus? Welche Themen sind für eine Literarisierung von ‚Wissen‘ überhaupt interessant und warum?

Die Herausgeber Thomas Klinkert und Monika Neuhofer widmen ihren Sammelband „Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800“ diesem Themenkreis und fokussieren dabei in theoretischer wie in Einzeltexte analysierender Hinsicht die Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Betrachtet werden das Phänomen der „Auseinandersetzungen mit Wissenschaft“ aus der Perspektive der Germanistik, Romanistik, Anglistik/Amerikanistik, Slawistik/Komparatistik und Medizin. Die interdisziplinären Beiträge versuchen die zentralen Fragestellungen dabei systemtheoretisch, darstellungsästhetisch und epistemologisch zu perspektivieren und wichtige, bislang noch wenig beachtete Fragen zu beantworten. So etwa die, ob Dichtung eine eigene Art von Wissen vermittele oder produziere, ob sie ein Korrektiv zum Wissen der Naturwissenschaften sei, als sprachliches Kunstwerk der uneigentlichen (figürlichen) Rede einen nicht rationalen, nicht argumentierenden und dennoch ‚wissenden‘ Gegendiskurs eröffne oder inwieweit sich die Gegenstandsbereiche von Wissen und Literatur grundsätzlich unterscheiden.

Christian Kohlroß beispielsweise eröffnet den theoretischen Teil des Bandes, indem er danach fragt, ob „Literatur ein auch in epistemologischer Hinsicht anspruchsvolles Projekt ist – ein Projekt, das, wer weiß, vielleicht so anspruchsvoll ist, dass es mit anderen wissenschaftlichen oder erkenntnistheoretischen Projekten konkurrieren kann?“ In Anlehnung an Heinrich von Kleists Text „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ oder Novalis’ „Monolog“ nähert er sich der These, „Erzählen sei ein Medium oder Instrument der Erkenntnisgewinnung“. Dabei rekurriert er ebenso auf den klassischen Wissensbegriff der ‚wahren gerechtfertigten Meinung‘, den er an der Literatur erprobt, wie auch auf poetologische Aussagen diverser Autoren, weshalb ihm eine Trennung von Objekt- und Metaebene nicht immer gelingt und philosophische wie poetologische Aussagen unterschiedslos für die Argumentation herangezogen werden. Seiner Stoßrichtung liegt vor allem eine sprachphilosophische Prämisse zu Grunde, wonach Wissen als perspektivierende sprachliche Darstellungsweise zu fassen ist. Die Subjektivierung des literarischen Wissensbegriffs allerdings legt die Frage nahe, inwiefern sich ‚Wissen‘ hier noch von ‚Glauben‘ oder ‚Ansichten‘ unterscheidet und ob für das, was Kohlroß zu fassen sucht, der Wissensbegriff überhaupt trägt.

Eine andere Richtung schlägt Thomas Klinkert ein, der in Anlehnung an Niklas Luhmann die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die diesbezügliche Rolle der Kunst in den Blick nimmt. Mit der Neubestimmung des künstlerischen Geltungsbereichs und ihrer Funktionen um 1800 sei, so Luhmann, eine Autonomisierung der Kunst zu beobachten, die Klinkert an Texten Flauberts, Zolas oder Balzacs prüft und die eine Wechselwirkung wissenschaftlicher und künstlerischer Bereiche nahelegt. Zwar seien beide Bereiche institutionell und, was die Publikationszusammenhänge oder die Rezeptionshaltung betrifft, auch funktional zu trennen, allerdings sei gleichermaßen festzustellen, „dass es aber im Bereich der künstlerisch innovativen literarischen Texte, im Bereich der sog. Höhenkammliteratur […] besondere Affinitäten zwischen Literatur und Wissenschaft gibt“. Dieses Verhältnis stellt Klinkert als konflikthaft dar, was er am Beispiel der „Ficciones“ von Jorge Luis Borges illustriert und als wichtigen Problembereich ausweist.

Was diese Beiträge versuchen, theoretisch zu fundieren, dekliniert der große analysierende und interpretierende Abschnitt der Publikation aus. Im Zweiten Teil des Sammelbandes wird nach der Generierung von Wissen durch literarische Texte gefragt, ebenso wie das Werk Zolas als paradigmatisch für den Gegenstandsbereich untersucht wird. Was den Band hierbei auszeichnet, ist eine zeitliche wie thematisch breit angelegte Perspektive. Die Betrachtung evolutionstheoretischen literarischen Wissens im frühen 20. Jahrhundert in den USA und in Deutschland sowie die Darstellung des Zusammenhangs von Literatur und Wissenschaft in Spanien vor und nach der Transición spielen ebenso eine Rolle wie aktuelle zeitgenössische Werke Antonio Tabuchhis oder David Lodges. Zusammen mit dem interdisziplinären Anspruch ist der Band daher einer der ersten, der den Zusammenhang von Literatur und Wissenschaft als ein nicht zu unterschätzendes, zentrales Thema der internationalen Literaturgeschichte ausweist.

Die Brisanz dieses Themas für die aktuelle Gegenwart plausibilisiert beispielsweise Betül Dilmac, indem sie die Präsenz der Wissenschaft für Michel Houellebecqs Werk nicht nur in thematischer, sondern auch in epistemologischer und erzähltheoretischer Hinsicht untersucht. Physikalische Theorien Heisenbergs oder Bohrs weist sie als für den Autor weltanschaulich und für den Roman erzählstrategisch relevant aus. Die These, „dass die beiden konträren Halbbrüder [in Elementarteilchen] zwei ‚individus symptomatiques‘ sind, die zwei entgegengesetzte Pole der Gesellschaft inkarnieren“ korreliert sie erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch mit der Quantentheorie.

Der Bruch, der im Anschluss an Percys „Rede Lecture“ gesetzt wurde, ist also definitiv nicht haltbar. Und noch eines macht dieser Band deutlich: Das Postulat vieler Poetiken, Literatur sei als ästhetisches Zeichensystem bar jeder sozialen Verortung, autonom oder absolut, ist nur die halbe Wahrheit. Dichtung entwirft eben nicht nur autonome Gegenwelten, sondern ist vor allem Ausdruck eines künstlerischen Umgangs mit dem, was uns gesellschaftlich umgibt.

Titelbild

Thomas Klinkert / Monika Neuhofer: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie - Epistemologie - komparatistische Fallstudien.
De Gruyter, Berlin 2008.
392 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783110200515

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