Arbogast Schmitt setzt mit einem umfangreichen Aristoteles-Kommentar zur „Poetik“ seine Rekonstruktion und Aktualisierung antiker Emotionstheorien fort

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon das 2003 erschienene opus magnum des in Marburg lehrenden Gräzisten Arbogast Schmitt, „Die Moderne und Platon“, ist zu weiten Teilen eine Rekonstruktion philosophischer und wissenschaftlicher Entwicklungen des Denkens über Emotionen. Im Zentrum stehen Platon und Aristoteles, doch im Blick auf die Geschichte der Antike-Rezeption und in den historischen wie systematischen Reflexionen zur Gegenüberstellung von Antike und Moderne reicht der von ihm untersuchte Zeitraum bis hin zur Gegenwart. Im Zusammenhang mit neuzeitlichen Entgegensetzungen von Natur und Kultur oder Sinnlichkeit und Denken befasst sich ein Kapitel mit der „Überwindung des Gegensatzes von Gefühl und Verstand in einer Unterscheidungsphilosophie“, in einem anderen vergleicht Schmitt die „Intelligenz von Emotionen und Motivationen in der Moderne und in der platonisch-aristotelischen Psychologie“, ein weiteres Kapitel ist der ästhetischen, ethischen und politischen Bedeutung einer „Kultur der Gefühle“ bei Platon und Aristoteles gewidmet.

Arbogast Schmitts Übersetzung (38 Seiten) und mehr als 600 Seiten umfassende Kommentierung der „Poetik“ des Aristoteles nimmt vieles davon wieder auf. Auch hier insistiert er als Apologet einer Unterscheidungs- statt Bewusstseinsphilosophie in gewollter Übereinstimmung mit Aristoteles darauf, dass für das Denken nicht Bewusstheit, sondern Unterscheidungsfähigkeit konstitutiv und dass diese Fähigkeit auch dem Fühlen zu eigen sei. Die von Aristoteles postulierte Aufgabe der Tragödie, Mitleid und Furcht hervorzurufen und dadurch eine Katharsis, eine „Reinigung eben dieser Gefühle“ zu bewirken, interpretiert der Kommentar denn auch als Programm einer ästhetischen Erziehung zur emotionalen Intelligenz, die zu unterscheiden versteht, welche Gefühlsanteile bei der Wahrnehmung komplexer Situationen und Ereignisse angemessen sind und welche nicht.

Die knappen Aussagen der „Poetik“ über Emotionen lassen sich, so zeigt der Kommentar, erst im Zusammenhang eines von Aristoteles in etlichen anderen Schriften systematisch entwickelten Gefühlsbegriffs verständlich machen. Der Kommentar geht aber über eine historische Rekonstruktion dieses Gefühlsbegriffs weit hinaus. Wie auch mit der Übersetzung, die keine Scheu vor Vokabeln wie „Medien“ oder „Darstellungsmodus“ zeigt, engagiert sich der Altphilologe hier für eine Aktualisierung der „Poetik“. Wenn Schmitt beispielsweise erklärt, warum nach Aristoteles das Unglück des „ganz und gar Verkommenen“ weder Mitleid noch Furcht erregt, illustriert er dies eingehend mit emotionalen Einstellungen zu Josef Stalin und vor allem zu Adolf Hitler. Und immer wieder vergleicht er antike Emotionskonzepte mit gegenwärtigen Positionen der Emotionsforschung. Diese Art der Aktualisierung zielt nicht etwa darauf ab, die aristotelischen Gefühlstheorien aktuellen Theorien kognitionswissenschaftlicher, neurophysiologischer oder evolutionsbiologischer Provenienz anzugleichen und dadurch ihren Wert zu beglaubigen. Es geht vielmehr darum, an ihnen ein Erkenntnispotential zu entdecken, hinter das gegenwärtige Theorien nicht zurückfallen sollten.

T.A.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeitern der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Arbogast Schmitt: Die Moderne und Platon. Eine Bilanz.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
588 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-10: 3476019497

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Aristoteles: Poetik.
Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt.
Akademie Verlag, Berlin 2008.
789 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783050044309

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch