Theoretische Grundlagen der Biografie

Ein von Bernhard Fetz herausgegebener Sammelband stellt Diskussionsfelder vor

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei einer Musterung des aktuellen Buchhandelsangebotes, einem Blick ins Feuilleton renommierter Tageszeitungen sowie unter Berücksichtigung der steigenden Zahl internationaler Symposien zum Themenfeld Biografik zeigt sich gegenwärtig eine bemerkenswerte Renaissance dieser Textsorte. Als Genre positioniert sich die Biografie zwischen Wissenschaft, Literatur und populärem Unterhaltungsmedium. Zugleich entzieht sie sich weitgehend eindeutiger Kategorisierungsbemühungen und Zuordnungen zu akademischen Disziplinen respektive Fächern.

Dem oftmals beklagten theoretischen Desiderat schafft ein kürzlich publizierter Sammelband mit sechzehn Beiträgen von zehn einschlägig versierten Autorinnen und Autoren Abhilfe, bei denen es sich beinahe ausnahmslos um Repräsentanten von Wiener Wissenschafts- oder Kulturinstitutionen handelt, die vorrangig dem „Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie“ zuzuordnen sind.

Der Herausgeber des Bandes, Bernhard Fetz, zwischenzeitlich zum Leiter des Österreichischen Literaturarchivs avanciert, umreißt in einer ausführlichen Einleitung zum Thema „Die vielen Leben der Biographie“ interdisziplinäre Aspekte ihrer Theorie. Er referiert den momentanen Forschungsstand, zeigt die Wandlungsfähigkeit biografischer „Wahrheiten“ auf und konstruiert material- und referenzgesättigt den Übergangscharakter der Biografie. Dieser erscheint als Ergebnis einer Synthese von historiografischen, generativen, individuellen, ethnografischen, empathischen sowie temporalen Aspekten – mit den pseudo-pathetischen Worten Fetz’: „Sie ist nicht ganz Wort und nicht ganz Fleisch, sie ist dasjenige, was dazwischen liegt.“ Kurzum: Die umfangreiche Einleitung interpretiert die Biografie als Medium der Verwandlung.

Den Voraussetzungen biografischer Arbeit sind die beiden Artikel von Manfred Mittermayer und (wiederum) Bernhard Fetz gewidmet. Dem inflationär verwendeten Diktum Virginia Woolfs folgend, wonach es sich bei der Biografie um einen „Bastard“ handle, reflektiert Mittermayer auf den traditionsreichen Begriff des „Life Writing“ mit allen etymologischen wie performativen Implikationen. Im Anschluss an die konstruktivistische Literaturtheorie bemüht er sich um eine Musterung von traditionellen wie aktuellen Konzepten von „Autobiographie“, indem er literarische Nachbargattungen wie Roman, Memoiren und Tagebuch eingehend hinsichtlich etwaiger Berührungs- beziehungsweise Abgrenzungspunkte analysiert. Er gelangt zu dem fundierten Urteil, dass die autobiografische Tätigkeit als Teil der conditio humana zu werten sei.

Fetz’ Beitrag fragt methodisch orientiert nach dem „Status biographischer Quellen“. Ausgehend von zwölf Thesen, die um den genuinen Charakter von Archiv und Medialität kreisen, zeigt der Verfasser zentrale Vorgänge und Abläufe biografischen Forschens auf. Da die Biografik „über keine methodischen Standards“ verfüge, muss Fetz die Macht der Dokumente für biografisches Arbeiten konkretisieren und zugleich problematisieren. Unter Rückgriff auf wissenschaftstheoretische Ansätze Jacques Derridas und Wilhelm Diltheys identifiziert er die Medialität der Überlieferung als einen essentiellen Reiz, denn daraus sei doch der Stoff, aus dem das (Nach-)Leben sich kristallisiere. Lücken, Phantome, Spuren und Anekdoten füllten die Lebenserzählungen, aber auch in aktuellen Ansätzen wie Nyes „Anti-Biographie“ respektive Ernst Gombrichs „intellektueller Biographie“ gehe es um die zentrale Frage, wie sich das Ganze individueller Lebensläufe und Erfahrungsmuster zu biografischen Repräsentationen verdichte.

Genderfokussierende Konzepte zu diesem Komplex stellt der Abschnitt „Biographie und Geschlecht“ vor, der sich um die Grundlegung einer sogenannten feministischen Biografik bemüht. Erkenntnisleitende Fragestellung ist dabei, „welche Bedeutung die Biographie als Genre für die Geschlechterkonstitution einnimmt“. Mit anderen Worten: Die fünf Aufsätze von Esther Marian, Caitríona Ní Dhúill und Karoline Feyertag spüren einem Paradigmenwechsel im konventionellen Biografik-Design nach, indem sie das klassischerweise männlich dominierte Genre mit der Frage konfrontieren, welche Erkenntnisse der Gender-Theorie für eine reflektierte Form der Biografie fruchtbar zu machen sind. In nuce analysieren und reflektieren die Aufsätze das Problem, welches um „die Zurücknahme des Ideals von Subjektivität und Individualität“ kreist.

Dass mit biografischer Forschung keineswegs exklusiv kulturwissenschaftliche Fragestellungen verknüpft sind, wird nach der Lektüre des dritten Abschnittes zum Thema „Biographie und Gesellschaft“ evident. Peter Alheit, Bettina Dausien, Hannes Schweiger und Devin Fore zeigen auf je eigene Art die sozialwissenschaftliche Perspektive auf eine Theorie der Biografie. Als Ergebnis der drei Aufsätze kann man schlussfolgern, dass zwischen den naiv-pragmatischen Ansprüchen auf biografische Wahrheit und der Wahrnehmung der Biografie als ästhetisches Konstrukt ein Mittelweg beschritten werden kann. Altheit und Dausien postulieren beispielsweise ein empirisch rekonstruktives Anknüpfen an die (Sinn-)Potenziale konkreter Subjekte. Explizit diese Potenziale ermöglichten es, „die gesellschaftlichen Widersprüche in bestimmten sozialen Kontexten praktisch zu leben, sie in unterschiedlichen sozialen Konstruktionsformaten ‚sinnvoll‘ zu machen, sie sich im Rahmen ihrer Lebensgeschichte anzueignen und aktiv zu bearbeiten.“ Bemerkenswert und in den Geisteswissenschaften noch stärker zu berücksichtigen ist ferner die sozialwissenschaftliche Wahrnehmung der Biografie als „flüssige Konstruktion“, womit große Möglichkeitsräume für biografisches Schreiben eröffnet sind.

Im vierten Teil des Sammelbandes werden die „bislang unterbelichteten Schnittstellen“ zwischen der Biografik einerseits und der Kulturtransferforschung andererseits aufgezeigt. Hannes Schweiger und Deborah Holmes eruieren in einem der Parade-Aufsätze des Bandes, welche Potenziale in grenzüberschreitend-vergleichenden Biografien liegen. Besonders mit Blick auf den Globalisierungsprozess wird evident, dass Interaktionen des Einzelnen in wechselnden Norm- und Sozialsystemen beinahe alltäglich geworden sind, so dass es gelte, „Lebensstrategien und Handlungsmöglichkeiten in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen zu rekonstruieren“. In zwei Fallstudien werden Ansätze und Konturen einer solchermaßen verstandenen Biografik erkennbar: Während Schweiger deutsch-britische Transferprozesse betrachtet, wendet sich Holmes der deutsch-italienischen Biografik des 19. Jahrhunderts zu.

Der fünfte Abschnitt fokussiert unter der Überschrift „Biographie und Medialität“ ein weiteres Desiderat der traditionellen Biografik. Caitríona Ní Dhúill untersucht das Verhältnis zwischen Biografie und Lebensbildern, Manfred Mittermayer beobachtet Darstellungsformen des Schöpferischen in biografischen Filmen als einer Untergattung des Biopics. Besondere Aufmerksamkeit sollte sicherlich der These Mittermayers gelten, wonach Spielfilme in Zeiten omnipräsenter Verfügbarkeit zu einem biografisches Medium mutiert seien, die eine wesentliche Vermittlerfunktion für die öffentliche „Wahrnehmung historischer Figuren und ihrer Lebensgeschichten“ einnähmen.

Abgerundet wird der Band durch eine umfangreiche Auswahlbibliografie, welche in Übereinstimmung mit dem Aufbau des Buches die wichtigste Sekundärliteratur präzise dokumentiert. Es wäre für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema wünschenswert, wenn sich die Ankündigung des Herausgebers, die Datenbank zur Biografiegeschichte und -theorie online zugänglich zu machen, in nicht allzu ferner Zukunft realisieren ließe.

Abschließend kann sicherlich der Blick auf ein Diktum Wilhelm Diltheys nachvollziehbar belegen, warum solche Theoretisierungsbemühungen notwendig, ja gerade unerlässlich für weitere biografische Studien sind. Als Anfang aller theoretischer Beschäftigung mit der Biografieforschung identifizierte bereits Dilthey das Erkenntnis- und Verständnisinteresse der Menschen. Seine bis heute paradigmatische Frage nach dem Verstehen aus den Quellen beleuchtet der vorliegende Band facettenreich und wissenschaftlich fundiert. Diltheys Position, wonach das Individuum nur der Kreuzungspunkt für Kultursysteme und Organisationen sei, in die sein Dasein verwoben scheint, evozierten bereits im 19. Jahrhundert die Frage: „Wie könnten sie aus ihm verstanden werden?“

Der vorliegende Band bündelt und reflektiert erstmals die für eine kulturwissenschaftliche Theorie der Biografie entscheidenden und bislang meist vagen Problembereiche. Dabei wird ersichtlich, dass die Spannung zwischen biografischer Evidenz und Konstruktion, damit die synchrone An- beziehungsweise Abwesenheit des erinnerten, beschriebenen und erforschten Objekts, primär für die Schwierigkeiten mit respektive durch diese Textsorte verantwortlich ist. Der alte und häufig pauschale Vorwurf an die Biografie, „unwissenschaftlich“ zu sein, ja wegen zu großer Popularität geradezu „vulgär“ zu wirken, kann nach den Ausführungen dieses Sammelbandes als widerlegt gelten.

Titelbild

Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie.
De Gruyter, Berlin 2009.
562 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110202267

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