Huldigung an das Althergebrachte

Christian Begemann hat den Sammelband „Realismus: Epoche, Autoren, Werke“ herausgegeben

Von Daniela RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Begemann konzipiert das vorliegende Buch in seiner Einleitung als Einführungstext, der einen Ein- wie auch Überblick über die Literatur des Realismus, die Epoche und seine Autoren vermitteln will. Diesem Anspruch kommt das Buch, eine Sammlung von Beiträgen unterschiedlicher Literaturwissenschaftler, aber nur in bedingtem Maße nach. Vor allem die Beiträge, die sich mit individuellen Autoren des Realismus beschäftigen, liefern durchaus theoretische und zum Teil äußerst detaillierte Analysen zu den jeweiligen Werken, bieten aber herzlich wenig zum biografischen wie auch historischen Hintergrund, dem diese Schriftsteller und Werke entstammen. Stattdessen schweben sie in einer Art Vakuum, welches durch eine Diskussion der politischen, sozialen und biografischen Hintergründe sowie eine genauere Situierung des jeweiligen Autors innerhalb der literarischen Szene hätte sinnvoll ausgefüllt werden können.

Die Beiträge in diesem Buch lassen sich drei Themenkreisen zuordnen. Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich mit dem Begriff Realismus selbst. Diese, im Gegensatz zu den weiteren Kapiteln, werden dem Anspruch eines einführenden Sekundärwerkes durchaus gerecht. Claus-Michael Ort legt in seinem Beitrag „Was ist Realismus?“ eine umfassende Historie der Realismusprogrammatik vor, ansetzend in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei Bodmer und Breitinger und endend mit einer Abgrenzung der Realismusliteratur vom Naturalismus. Dem Realismus schreibt Ort zu, „kompensatorisch auf die Folgen fortschreitender Modernisierung, Industrialisierung und Verwissenschaftlichung zu reagieren“. Ort bietet außer der literaturhistorischen auch noch eine philosophische Annäherung an den Realismusbegriff. Auch die philosophische Spurensuche, die Ort in der Scholastik des Mittelalters ansetzt, steht ganz im Zeichen der Wechselspannung zwischen Realität und Ideal.

Gustav Frank verfolgt mit seinem Beitrag „Auf dem Weg zum Realismus“ die Entwicklung der realistischen Literatur als Folgeerscheinung auf die Werke und Bewegungen der Spätromantik, des Biedermeier und Vormärz. Bei seiner Entwicklungsstudie sieht Frank vor allem die technischen Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts wie Eisenbahn, Telegraf und Fotografie als wegweisend. Frank diagnostiziert erste realistische Ansätze bereits Anfang des 19. Jahrhunderts mit Ludwig Tiecks „Reisegedichte eines Kranken“. Literatur von Frauen wird hingegen bei Frank in einer Randbemerkung zur zunehmenden Einbeziehung von Randgruppen in den literarischen Markt abgehandelt.

Diese einleitenden Kapitel werden nun gefolgt von sechs Artikeln zu je einem kanonisierten Vertreter des Realismus: Stifter, Raabe, Meyer, Fontane, Storm und Keller. Der Aufbau dieser Kapitel ist ähnlich und bietet in der Tat einen Überblick über die wichtigsten Prosawerke der einzelnen Schriftsteller. In den Fällen von Raabe und Keller wird der Versuch unternommen, die einzelnen Stationen des Œuvres in die Biografie des jeweiligen Schrifstellers einzubetten. Dabei werden aber nur ausgewählte Ortswechsel der Schrifsteller demarkiert, ohne die Relevanz und Hintergründe dieser Umzüge sowie ihren Einfluss auf die Arbeit des Künstlers deutlich zu machen. In all diesen Kapiteln spielt der Schriftsteller selber eine so untergeordnete Rolle, dass man ihn fast als obsolet bezeichnen könnte. Diese Vorgehensweise vermittelt dem Leser den Eindruck einer Literaturanalyse, die in keiner Art Beziehung zu den historischen Bezügen steht, welche in den einleitenden Kapiteln angesprochen wurden.

Die Kapitel zu Storm und Fontane dagegen bilden einen willkommenen Kontrast zu den übrigen Kapiteln. Harald Neumeyer bietet mit seinem Artikel zu Theodor Storm eine interessante neue Interpretation des Novellenbegriffs. Er zeigt, dass Storm sich mit seinen Werken von dem klassischen Novellentypus distanzierte und sich in seinem Werk eher am Drama orientierte.

Clemens Pornschlegels Kapitel zum Gesellschaftsroman Fontanes ist gleichermaßen adäquat im Rahmen der Zielsetzung dieses Bandes, indem es Fontanes Romane vor dem Hintergrund des europäischen Gesellschaftsromanes präsentiert. Fontane stellt, laut Pornschlegel, eine Ausnahme innerhalb der deutschen Literatur dar. Inspiriert von seinem langjährigen Aufenthalt in England und der Lektüre der Romane Dickens’ und Thackerays, bringt Fontane eine weitaus breitgefächertere gesellschaftliche Perspektive in seine Werken ein, als es in den Bildungsromanen der Periode der Fall ist, welche in dem Prisma einer einzelnen, herausragenden Figur alle Ereignisse und Umstände reflektiert darstellen. Dieses viel weitere Objektiv, was Fontane auf die gesamte Gesellschaft und vor allem auf den Adel ansetzt, schlägt sich nieder in einer Erzählweise, die Pornschlegel als „fiktionale Historiographie“ bezeichnet.

Nach dieser fast verschwenderischen Aufmerksamkeit, die die letzten Kapitel dem realistischen Prosawerk widmen, werden gegen Ende des Bandes die Genres Drama und Lyrik mit jeweils einem Sammelkapitel behandelt. Juliane Vogels Beitrag zum Drama zeigt sehr wirkungsvoll die Einflüsse neuer Techniken, vor allem der Fotografie, auf das bürgerliche Trauerspiel bei Hebbel. Vogels Artikel stellt damit einen schönen Zusammenhang mit Gustav Franks Kapitel am Anfang her und zeigt, wie sich Franks These zur Bedeutung technologischen Fortschritts konkret in einzelnen Werken manifestiert. Rolf Selbmanns Kapitel zur Lyrik fügt sich gleichermaßen in die übrigen Beiträge ein, indem es eine andere Facette zu Neumeyers Storm-Kapitel bietet. Neumeyer wie auch Selbmann heben in ihrer Analyse vor allem die zentrale Rolle des Symbols hervor, was im Angesicht einer Wirklichkeit, die nicht mehr erzählerisch zu bewältigen ist, eine sinnstiftende Rolle übernimmt und zwischen verschiedenen Perspektiven und Zeiteinschüben vermittelt.

Den Abschluss des Buches bildet Ralf Simons Kapitel, in dem er sehr wirkungsvoll Merkmale der literarischen Moderne und Avantgarde innerhalb der Literatur des Realismus nachweist. Die Fokussierung auf die psychologische Motivation der Figuren bei Storm und Ludwig, das Ausreizen der Mimesistheorie bei Stifter sowie das Behandeln von sozialen und wirtschaftlichen Randgruppen bei Raabe sind für Simon alles Wegbereiter der Moderne. Dieser Artikel mit seinem Ausblick auf zukünftige literarische Perioden bietet einen gut gewählten Abschluss für ein Buch dieser Art.

Das Buch als Gesamtwerk ist als Einführung in den Realismus ambivalent zu beurteilen. Eine Einteilung nach Genres wäre vielleicht vorteilhafter gewesen, um dem Leser einen wirklichen Überblick zu bieten. Ein noch größeres Problem hingegen stellt die sehr enge und einseitige Auswahl der repräsentativen Autoren dar. Das absolute Fehlen einer Diskussion von Schriftstellerinnen ist ein Makel des gesamten Bandes. Im Vergleich zu Werken mit einer ähnlichen Zielsetzung, wie etwa dem 2003 erschienenen Band „Bürgerlicher Realismus“ von Sabina Becker oder sogar verglichen mit der Metzler Literaturgeschichte für die Gymnasialstufe (6.Ausgabe, Hrsg. Wolfgang Beutin et al.), zeigt der vorliegende Band eine bedauernswerte Blindheit gegenüber der Entwicklung weiblichen Schreibens, das in den letzten zwanzig Jahren im Mittelpunkt akademischer Diskussionen stand. Vor allem im Bereich der Postcolonial Studies werden die Werke von deutschen Reiseschriftstellerinnen (wie zum Beispiel Ida von Hahn-Hahn, Mathilde Franziska Anneke) gerade eifrig diskutiert.

Ein zweiter Kritikpunkt ist die nur sehr kurze Abhandlung zum Buchmarkt des 19. Jahrhunderts. Manuela Günters Kapitel „Die Medien des Realismus“ bietet zwar einen Überblick, lässt aber für die Periode interessante Phänomene wie die Unterhaltungs- oder Trivialliteratur völlig außer Acht. Neben der Missachtung der Schriftstellerinnen und Dichterinnen ist das Fehlen jeglicher Unterhaltungsautoren wie May und Auerbach eine weiterer Mangel. Vor allem neuere amerikanische Publikationen („A Companion to German Realism“ [2002] und „German Literature of the Nineteenth Century, 1832-1899 [2005]) widmen der Analyse der vordem verschmähten ‚Trivialliteratur‘ gleich mehrere Kapitel.

Obwohl manche Artikel sehr wohl in eine neue und der heutigen Forschung angemessene Richtung gehen, bietet das Buch vor allem wegen seiner Autorensektion als Einführung in die Literatur des Realismus weder einen umfangreichen und ausbalancierten Überblick über den Stand der Forschung, noch liefert es interessante und neue Erkenntnisse.

Titelbild

Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epoche Autoren Werke.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2007.
240 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783534191055

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