Ein Blick ins Herz

Maximilian Dorner zeigt dem Leser in „Ich schäme mich. Ein Selbstversuch“ sein Innerstes

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Ende November vergangenen Jahres gehe ich am Stock. Ich wurde von einem Auto angefahren, dabei habe ich mir den rechten Oberschenkelknochen gebrochen. Seitdem werde ich auf Parties oder in Bars oft gefragt, ob ich den Stock wirklich brauche oder ob er Accessoire sei. Ich werde bei dieser Frage regelmäßig wütend. Wer benutzt denn heute noch einen Stock als Accessoire? Die Zeit der Dandys ist doch seit Oscar Wilde vorbei. Ich schäme mich des Stocks nicht, ich genieße es sogar irgendwie. Wenn ich dann an Maximilian Dorner denke, schäme ich mich aber für einen solchen Gedanken.

Die Scham, sie ist das Thema seines neuen Buches. „Ich schäme mich. Ein Selbstversuch“ heißt es und Dorner setzt sich darin mit Scham und Peinlichkeit auseinander. Anlass dafür ist seine MS-Erkrankung: Sein Spiegelbild mit Stock, von dem er den Blick abwendet, seine Blasenschwäche, seine immer zahlreicher werdenden körperlichen Gebrechen wie die Taubheit einer Gesichtshälfte: „Falls wir uns einmal küssen sollten, bitte auf die von dir aus gesehen linke Gesichtshälfte“, schreibt er in einem Liebesbrief. Dorner klopft sich selbst, seine Familie und seine – wunderbar offenen, kritischen aber immer liebevollen – Freunde auf die Empfänglichkeit für Scham und Peinlichkeiten ab. Die Kapitel heißen etwa „Fegefeuer“ und „Hölle“. Dorner steigt also tief und immer tiefer hinunter, um seinen Dämonen gegenüberzutreten, der Scham erst ein Gesicht zu geben, und sie anschließend zu bekämpfen. Aber trotz allen Wissens, dass Dorner sich anliest, trotz aller Ratschläge, die er bekommt, trotz allen zermürbenden Nachdenkens stürzt sich die Scham immer wieder auf ihn nieder – wie ein Falke, den man, Maus, die man ist, oft erst dann kommen sieht, wenn es bereits zu spät ist. Dorner allerdings gibt nicht auf. Er setzt seinen Weg fort in die Tiefe, bis ins „Elysium“, um schließlich zu erkennen, dass man der Scham, dem Sich-schämen die Kraftquelle – das mit einer vermeintlichen Schwäche, einem Fehler oder einer Peinlichkeit verbundene Gefühl von Minderwertigkeit, von Mangelhaftigkeit – nehmen kann. Denn man ist es nicht selbst, sondern der Blick von außen, der einem vorschreibt, den eigenen Blick zu senken. Aber im Gegenteil: „Ich schäme mich. – Das kann ich nun aussprechen, ohne den Blick zu senken“, schreibt Dorner am Ende.

Mit seinen tagebuchartigen Büchern „Mein Dämon ist ein Stubenhocker“ und „Lahme Ente in New York“ hat Maximilian Dorner bereits hoch vorgelegt, sowohl sprachlich als auch was einen einfühlsamen Ton anbelangt. Die Diagnose, die sein Leben verändert hat, ist noch frisch, und entsprechend groß ist die Kraft, mit der er sich der Krankheit entgegen wirft, entsprechend stark der Trotz den Symptomen gegenüber. Er beschreibt Momente von Verzweiflung, immer aber lächelt er sie beiseite, motiviert sich über sie hinweg.

In „Ich schäme mich. Ein Selbstversuch“ lässt er sich zum ersten Mal ganz und gar auf sie ein, gesteht sogar, dass er nicht so stark, so resolut ist, wie er es gerne wäre. Die Ehrlichkeit, mit der er von Selbstmordgedanken oder der Angst davor, irgendwann ein Pflegefall zu sein, schreibt, ist von einer gleichermaßen bestürzenden wie berührenden Sanftheit. Sätze aus Liebesbriefen an A., in die Dorner sich verliebt hat, mit der es zu allem Überfluss jedoch nicht zu klappen scheint, gleichen zauberischer Poesie: „Ich möchte wenigstens einmal berühren, was ich begehre, solange ich in den Hände noch etwas spüre.“ Es ist, als habe Dorner sich die Brust geöffnet und lasse den Leser in sein Herz blicken. Das ist ein gewagter, wohl aber ein sehr lohnender Schritt. Maximilian Dorner, soviel ist sicher, ist einer von den Guten. Als Autor, als Mensch und – da bin ich sicher – als Freund.

Titelbild

Maximilian Dorner: Ich schäme mich. Ein Selbstversuch.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
189 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783498013301

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