Ein viktorianischer Rebell

Über Guido J. Breams Charles Darwin-Biografie

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der junge Darwin im Dezember 1831 seine fast fünfjährige Forschungsreise an Bord der Beagle antrat, lag die revolutionäre Erkenntnis von der Veränderlichkeit der Arten bereits in der Luft. Zu den frühen Protagonisten dieser Idee zählte sogar Darwins Großvater, Erasmus Darwin, ein erfolgreicher Arzt und genialer Erfinder, der sich keineswegs scheute, auf seiner Kutsche eine Muschel als Wappenzeichen anbringen zu lassen. Womit er entgegen der herrschenden Überzeugung von der absoluten Wahrheit der biblischen Genesis seine Auffassung deutlich machen wollte, dass alles Leben aus dem Meer hervorgegangen sein muss.

„E conchis omnia“ lautete der kurze Text, den er im Jahre 1770 wie zur Provokation der glaubensstrengen anglikanischen Geistlichkeit über der Muschel anbringen ließ. Damals drohte aber für derart blasphemische Äußerungen nicht nur die gesellschaftliche Ächtung, sondern auch die Deportation in das ferne und unwirtliche Australien. Wohlmeinende Freunde überzeugten daher Erasmus Darwin, das Wappen wieder entfernen zu lassen, und auch sein bemerkenswertes Gedicht „The Tempel of Nature“ erschien erst posthum im Jahre 1803. Schon seine ersten beiden Zeilen waren dazu angetan, den frömmlicherischen Zorn vieler bibeltreuer Zeitgenossen zu entflammen: „Organic Life beneath the shoreless waves was born and nurs’d in Ocean’s pearly caves“.

Knapp 60 Jahre später schloss sein Enkel sein Hauptwerk von der Entstehung der Arten mit einer fast gleich lautenden Erkenntnis: „ Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Keim allen uns umgebenden Lebens ursprünglich in nur wenige oder in nur eine einzige Form eingehaucht wurde…“. Anders als sein Großvater jedoch hatte Darwin die Veröffentlichung seiner bahnbrechenden Erkenntnisse lange und geschickt vorbereitet. Das schwierige Terrain wurde geebnet, als im Oktober 1844 ein anonymer Traktat mit dem Titel: Vestiges of the Natural History of Creation erschien, das bereits sämtliche Schlussfolgerungen der Darwin´schen Abstammungslehre vorweg nahm. Das rasch Aufsehen erregende Werk stammte, wie sich erst sehr viel später herausstellte, aus der Feder eines naturwissenschaftlichen Laien, dem schottischen Rechtsanwalt und Verleger Robert Chambers. Darwin war zunächst schockiert, denn er selbst hatte seine Gedanken zur Entwicklung der Arten bereits zwei Jahre zuvor in einem sorgfältig unter Verschluss gehaltenen Manuskript niedergelegt, darüber aber nur mit engsten Freunden und Beratern gesprochen. Die vernichtenden Kritiken von Chambers populärwissenschaftlichem Werk in der Fachwelt machten Darwin jedoch klar, dass er seine Schlussfolgerungen über die natürliche Auslese der Arten wissenschaftlich weitaus gründlicher absichern musste.

Es folgte eine jahrlange Kärrnerarbeit, während der er in ständiger Korrespondenz mit zahllosen Forschern und Züchtern weltweit Detail auf Detail anhäufte, seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen präzisierte und zugleich sein wissenschaftliches Umfeld mit vorsichtigen Andeutungen seiner Ergebnisse versorgte. Dass sein Epoche machendes Werk von der Entstehung der Arten bei seiner Veröffentlichung im Jahre 1859 keinen Sturm der Entrüstung auslöste, war jedoch nicht nur der wissenschaftlich dichten Argumentation zu verdanken, sondern auch dem Umstand, dass Darwin alle direkten Hinweise auf die Entstehung des Menschen wie auch jedwede Kritik an Religion und Kirche sorgfältig vermieden hatte. Zu verdanken hatte er dies seiner bibelfesten Ehefrau Emma Darwin, die zusammen mit ihrer gleich gesinnten Tochter Henrietta die Texte ihres orthografisch schwachen und „von der Hölle bedrohten“ Ehemannes nicht nur korrigierte, sondern sie auch glättete und abmilderte, wo es ihr notwendig erschien.

In seiner glänzenden Biografie über das Leben Charles Darwin hat der in den Vereinigten Staaten lehrende Biologe Guido Braem den jahrzehntelangen Prozess der Entstehung der evolutionären Theorie sorgfältig nachgezeichnet und dabei nicht nur ein Meisterstück der Wissenschaftsgeschichte Großbritanniens im 19. Jahrhundert vorgelegt, sondern zugleich auch ein eindringliches Porträt der viktorianischen Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne. Seine atmosphärisch dichten Schilderungen sind geschickt verwoben mit dem nicht unproblematischen Privatleben des großen Naturforschers, der zwar zeitlebens durch das reiche Erbe seines Vaters finanziell mehr als abgesichert war, jedoch ständig von Phobien und schwer diagnostizierbaren Krankheiten geplagt wurde. Es erscheint beinahe wie ein Treppenwitz, dass der unermüdliche Arbeiter und geniale Forscher, dessen Entdeckungen die moralischen Grundlagen der damaligen Gesellschaft zutiefst erschütterten, eine panische Angst vor öffentlichen Debatten und Streit hatte, die ihm sogar körperlich massiv zusetzten. Eine vernichtende Kritik von Chambers Vestiges aus der Feder seines ehemaligen akademischen Lehrers Adam Segdwick ließ ihn geradezu erzittern, obwohl er nicht einmal der Autor war. Zugleich hasste Darwin jede Form von Kritik und konnte damit, wie sein Biograf wiederholt betont, lebenslang nicht umgehen.

Bream schafft es nicht nur, die Entwicklung der darwinschen Kernaussagen verständlich in den Gang seiner Darstellung einzufügen und dabei dezidiert zu Forschungsproblemen Stellung zu nehmen – so weist er zum Beispiel überzeugend nach, dass Darwin erst nach Abschluss der Beaglereise mit der Entwicklung seiner Haupttheorie begonnen hat – seine Studie liest sich gleichwohl fast wie ein Roman und besitzt fraglos einen dramaturgischen Höhepunkt in der Darstellung jener Sitzung der British Association for the Advancement of Science, in der Darwins Freunde und wissenschaftliche Weggenossen sämtliche Angriffe der Kritiker seiner Evolutionstheorie entschieden abschmettern. Das Kapitel ist dann auch etwas reißerisch als „Showdown in Oxford“ überschrieben.

Dass es Bream gelingt, sämtliche Facetten des Lebens seines Protagonisten einschließlich der Synopsen seiner Hauptwerke und sogar einer ausführlichen Vorgeschichte seiner Familie auf nur 400 Seiten abzuhandeln, ohne dass man als Leser irgendwo den Eindruck gewinnt, zu kurz gekommen zu sein, erscheint wohl als das Erstaunlichste an dieser ohne Einschränkung zu empfehlenden Biografie.

Obwohl Braem an seiner Vorliebe für Darwin keinen Zweifel lässt, ist seine Lebensbeschreibung keineswegs eine Hagiografie. Aus seiner Abneigung zu der frömmlerischen und oft hartherzigen oberen Gesellschaft des Victorianischen Zeitalters, deren Angehöriger eben auch Darwin aus tiefster Überzeugung war, macht er keinen Hehl. Das England des 19. Jahrhunderts mit all seiner Arroganz und Selbstgerechtigkeit war eben auch die Welt seines genialen Protagonisten, der gesellschaftlichen Wandel, sexuelle Freizügigkeit oder gar die Emanzipation der Frau rundweg ablehnte. Dass er mit seinen Theorien selbst einer der größten Revolutionäre seines Jahrhunderts war, dürfte ihm zumindest gelegentlich klar geworden sein.

Titelbild

Guido J. Braem: Charles Darwin. Eine Biografie.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2009.
490 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770547715

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