Alter Wein in nicht ganz so neuen Schläuchen

Zu Ulrich Greiners mäßig originellem Lyrikverführer

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulrich Greiner, mittlerweile Herausgeber der Zeit Literatur-Beilage, hat sich ganz ohne Frage als Literaturkritiker bewährt. Nach seinem 2005 vorgelegten „Leseverführer“, der den Einstieg in die Welt der „schönen Literatur“ erleichtern soll, möchte er nun auch zur Lyrik verführen. Im Geleitwort erklärt er, das Buch sei „nicht für Germanisten und nicht für Fachleute“ verfasst. Die Frage bleibt: Für wen schreibt er das Buch eigentlich?

Mit einer Verführung bringt man jemanden zu einer Handlung, die er oder sie eigentlich nicht im Sinne hatte (Greiner verzichtet im Übrigen darauf, Leserinnen anzusprechen; mit einem Verführergrübchen, das charmant sein soll, lächelt er die Bemühungen der politisch korrekten Movierung im damaligen Vorwort zum „Leseverführer“ hinweg). Ein Lesepublikum, das für Literatur kein Interesse hat, wird man mit Greiners etwas behäbiger Einführung nicht hinter dem Ofen hervorlocken können, da er einerseits nicht systematisch vorgeht, es auch nicht beabsichtigt und andererseits immer wieder mit – für Fachleute wiederum interessantem – Randwissen aufwartet. Er hat eben schrecklich viel gelesen.

Während es beim „Leseverführer“ gelang, einem entweder möglicherweise leseüberdrüssigen Publikum den Weg zur Prosa zu ebnen oder aber einem interessierten Publikum relevante Laienfragen wie „Soll man jedes Buch zu Ende lesen“ beantwortet, scheitert der „Lyrikverführer“ am weitaus schwierigeren Unterfangen, die eine Einführung in die Lyrik reizvoll zu gestalten. Dazu ist das Buch zu wenig pointiert geschrieben. Auch wenn Greiner also offenbar den viel bemühten „interessierten Laien“ als Adressaten annimmt, sollte man sich vorsehen, diesen wiederum nicht zu unterfordern. Dass beim Hexameter die Betonung auf dem „a“ liegt und das Quartett vierzeilig, das Terzett hingegen dreizeilig ist, könnte man denen, für die das eine Neuheit ist, etwas geschickter und weniger bloßstellend erklären.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, denen ein Anhang mit einer knapp skizzierten Verslehre beigegeben ist. Der erste Teil setzt sich mit der für Fachleute und Germanisten – sowie insbesondere für die Fachleute unter den Germanisten – interessanten Frage auseinander, was ein Gedicht sei. Gerade diese grundlegendste aller terminologischen Fragen der Lyriktheorie blieb von der Germanistik unbeantwortet – und soll wahrscheinlich auch weiterhin von verschiedenen literaturtheoretischen Strömungen höchst unterschiedlich beantwortet werden. Bisweilen verhält es sich gar so, dass sich eine Diskussion mit interessierten Hobbylesern als ebenso produktiv erweisen kann wie eine solche mit ausgewiesenen Fachleuten.

Greiner vermeidet jegliche terminologische Nomenklatur und jegliches name-dropping und wahrt damit auf erfrischende Weise die Nähe zum Feuilleton. Dennoch scheint er, natürlich ohne das zu betonen, einer Abweichungsästhetik das Wort zu reden. Bei Biermanns „Kleines Lied von den bleibenden Werten“ weist er darauf hin, dass der Dichter in der vorletzten Zeile vom Rhythmus abweicht, was interpretatorisch relevant wird. Die Gedichte von Williams und Brinkmann sind deshalb innovativ, weil sie den Konventionen traditioneller Lyrik widersprechen.

In Greiners Hauspoetik kann ein Gedicht, so die sieben Unterkapitel, eine Erzählung, ein Lied, ein Gefühl, eine Idee, eine Form, ein Rätsel oder ein Spiel sein. Etwas belustigend wirkt es, wenn man nach elf Seiten Lektüre des Kapitels zur ohnehin ausgesprochen subjektiven und vagen These, das Gedicht sei ein Gefühl, auf Greiners Bemerkung stößt: „Es sieht so aus, als müssten wir gründlicher darüber nachdenken, was wir damit sagen wollen, wenn wir sagen, das Gedicht sei ein Gefühl“.

Leider wird der Autor dann aber kaum präziser. Schließlich muss man sich mit der Kurzdefinition abfinden, dass neben den genannten Eigenschaften des Gedichtes auch eine Lehre oder eine Moral darin enthalten sein könne. Ausgeschlossen werden kann damit dann auch eine Leserschaft, der prüfungsrelevantes Wissen vermittelt werden soll. Denn in welcher Prüfung könnte die zu dieser Definition passende Frage gestellt werden?

Der ungleich spannendere zweite Teil enthält elf Gedichtanalysen, die für die von Marcel Reich-Ranicki herausgegebene „Frankfurter Anthologie“ verfasst wurden und die im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorab gedruckt wurden. Diese Texte liegen nun in dem Band gesammelt vor. Greiner widmet sich bei den ausgewählten Gedichten einem breiten Spektrum der Lyrikgeschichte, das bei Hölderlin beginnt und bei der 1981 geborenen Nadja Küchenmeister endet und somit mehr als zweihundert Jahre umfasst. Wie für die Analysen der „Frankfurter Anthologie“ üblich, sind auch die hier von Greiner vorgelegten auf hohem Niveau und bestechen durch luzide Beobachtungen, die dem passionierten homme des lettres Ulrich Greiner bei seiner Lektüre aufgefallen sind. Geduldig erklärt er uns, wie viel mehr wir begreifen, wenn wir uns aufs Versmaß konzentrieren. Aber man muss schon eine höhere Toleranzgrenze ansetzen, um zu lesen, Heym reime wie Morgenstern, Schiller sei „ein unendlicher Knaller“ und – Greiner wird nicht müde, diese Erkenntnis nahe zu legen – Lyrik bestehe vor allem aus „Kling und Klang“.

Nach wie vor bleibt also die Frage offen, wer sich dieses Buch nun zulegen soll, das mit einem abschließenden vierseitigen „kleinen Alphabet der Verslehre“ natürlich auch nicht den Anspruch einer Einführung erheben möchte. Jedenfalls dient der Hinweis des Geleitwortes, es sei „nicht für Germanisten und nicht für Fachleute geschrieben“ als Warnung: Wer – abgesehen von elf recht spannenden Gedichtanalysen – mehr zur Lyrik erfahren möchte als nur Greiners ganz persönliches Verständnis davon, der wird vom Lyrikverführer enttäuscht werden.

Titelbild

Ulrich Greiner: Ulrich Greiners Lyrik-Verführer. Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
224 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783406590696

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