Insulare Zeiten

Die lesenswerte Anthologie „war jewesen – West-Berlin 1961-1989“ von D. Holland-Moritz und Gabriela Wachter zeichnet ein abwechslungsreiches Bild einer untergegangenen Stadt

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur für die DDR war es das Ende, das durch den Fall der Mauer im November 1989 eingeläutet wurde. Auch für West-Berlin, die Frontstadt, die Insel im roten Meer, begannen in der folgenden Zeit die letzten Monate. Das Jubiläumsjahr 2009 brachte so naturgemäß nicht nur Erinnerungen an die friedliche Revolution, sondern auch einiges an Erlebnisberichten und Dokumenten, an literarischen und essayistischen Zeugnissen aus der ummauerten Stadt. Zwischen 1961 und 1989 bot dieses West-Berlin einen einzigartigen politischen und soziokulturellen Raum, der für die einen, besonders die von außen, als tragisch und bemitleidenswert, für die anderen aber als einzig lebenswerter Ort erschien.

West-Berlin war eine Filzhauptstadt und Subventionsoase, die sich ihre problematische Situation gern durch ausgiebige Zulagen und Finanzspritzen erleichtern ließ. West-Berlin war für mehrere Generationen von jungen Menschen Flucht- und Sehnsuchtsort, an dem, fernab vom zurück gelassenen Westdeutschland, intellektuelle, künstlerische, politische und soziale Ideen diskutiert und erprobt werden konnten. Nicht die reale Topografie dieser Stadt ging nach 1989 verloren – obwohl auch sie mittlerweile weidlich verändert ist –, sondern vielmehr die symbolische Ordnung eines urbanen Gebildes. Und gerade deshalb mag nach 20 Jahren in der Rückschau die Frage anstehen, ob „West-Berlin“ nicht inzwischen zu einer geradezu legendenhaften Chiffre geworden ist, im besten Sinne zu einem „Erinnerungsort“ der deutschen Geschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der wie kaum ein anderer dazu taugt, Mythen und Erzählungen hervorzubringen. Schaut man auf die Textsammlung, die D. Holland-Moritz und Gabriela Wachter unter dem treffenden Titel „war jewesen“ termingerecht im Herbst des vergangenen Jahres herausgebracht haben, dann ist dies in der Tat so. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählungen von Aufbrüchen, von Protesten und dem Weg zu Neuem. Dazu gehört zuerst einmal alles, was nach dem 2. Juni 1967 geschehen ist, an dem vor der Deutschen Oper in Charlottenburg gegen den Schah von Persien demonstriert wurde und an dem der Polizist Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss. Es ist alles, was zunächst in der epochalen Jahreszahl „1968“ kondensierte und dann eine generationengebundene Emanzipationsbewegung nach sich zog, die sich erst in den 1970er und 1980er Jahren voll entfaltete. Vieles von dem, was in Deutschland „1968“ war und ebenso viel von dem, was sich an Folgen anschloss, lässt sich offensichtlich verbinden mit der Chiffre „West-Berlin“. Dazu gehören alternative Lebensformen und soziale und künstlerische Projekte des Protests: Von der „Kommune I“ am Stuttgarter Platz in den späten 1960er Jahren bis zu den Hausbesetzungen und Mai-Krawallen der 1980er. Von Kreuzberg, im Schatten der Mauer zum Inbegriff einer die Bürger schreckenden Anderskultur geworden, schreibt Ingeborg Bachmann schon 1964, mit deren Text „Ein Ort für Zufälle“ die Sammlung eröffnet wird. Mit Ulrich Enzensberger, Wolfgang Neuss, Bommi Baumann und Peter Schneider sind dann bekannte Protagonisten der 1968er mit Texten vertreten, die zum Teil aus der damaligen Zeit stammen, zum Teil aber auch der inzwischen breit vorhandenen Erinnerungsliteratur entnommen sind. Martin Kippenberger, Thomas Kapielski, Bodo Morshäuser sind die Namen, die für die West-Berliner Zeit der 1970er und 1980 Jahre stehen, in der es neue wilde Kunst und intellektuelles Experimentieren gab, in der sich am Savignyplatz aber auch schon eine wohl gesetzte kreative Klasse in ihren Kneipen und Restaurants etabliert hatte: in der „Paris Bar“, dem „Zwiebelfisch“ oder dem „Terzo Mondo“.

All dies ist repräsentiert in der Anthologie. Ein Auszug aus dem sicher berühmtesten West-Berlin-Buch jener Jahre, Christiane F.s „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, steht aber auch für eine Stadt, in der der Ausbruch aus dem Alltag in Drogen und Kriminalität führen konnte. Knapp 60 Texte sind es, die die Herausgeber versammelt haben; die kürzesten nur eine Seite lang, die längsten um die 15 Seiten. Im Ganzen entsteht daraus ein gelungenes, ein äußerst lesenswertes Panorama. Die Herausgeber haben gar nicht erst versucht, den mythischen Qualitäten der vergangenen Inselstadt eine Entzauberung entgegenzusetzen – sympathisch ist dennoch, dass auch weniger Geschichtsträchtiges in die Bandbreite der Texte eingemischt wurde und dadurch Alltägliches zur Sprache kommt. So sind auch kaum bekannte Autoren verpflichtet worden, sie haben Erinnerungen an ihre Dahlemer Kindheit oder die Musik- und Jugendkultur in der Mauerstadt zu Papier gebracht. Außerdem berichten West-Berliner Größen aus Show und Unterhaltung von ihrer Stadt: Hans Rosenthal etwa von seinem schwierigen Verhältnis zum Sender RIAS – und Brigitte Mira berechnet in einer Passage aus ihrer Autobiografie, wie viele Buletten während der Dreharbeiten zu den „Drei Damen vom Grill“ verspeist wurden. Fotos und Abdrucke von Originaldokumenten – wovon die Stasi-Korrespondenz des jüngst enttarnten Ohnesorg-Schützen Kurras sicher das interessanteste ist – bereichern das Buch. Gewünscht hätte man sich bisweilen etwas genauere Angaben zu den vielen Autoren, die nicht allen Lesern gleichermaßen bekannt sein dürften.

Es wird sich zuletzt zeigen, ob der Mythos West-Berlin, an dem auch der vorgestellte Band mitwebt, sich durchsetzen kann in den Erzählungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, oder ob seine Ausstrahlung doch beschränkt bleibt auf diejenigen, die das miterlebt haben, was sie als Erinnernde und Schreibende zu ihm beigetragen haben und beitragen werden. In letzter Zeit diskutiert man in der Stadt die Einrichtung eines eigenen West-Berlin-Museums. Kein schlechtes Zeichen für den dauerhaften Eingang ins kulturelle Gedächtnis – oder aber doch nur ein nostalgischer Ort für Zeitzeugen und Touristen?

Titelbild

Gabriele Wachter (Hg.): War jewesen. West-Berlin 1961-1989.
Parthas Verlag, Berlin 2009.
470 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869640143

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