Poetologie des Wassers

Durs Grünbein erkundet „Die Bars von Atlantis“

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Bar von Atlantis hocken verblichene Prominente der Weltliteratur nebeneinander wie die Wachsfiguren eines Unterwassermuseums von Madame Tussaud: „Der Mensch ist ein Fremdling auf Erden“ lautet lakonisch ein Schild über dem Tresen. Die versunkene Insel, von der Platon erzählte, soll nach Durs Grünbein von den großen Dichtern der Vergangenheit bevölkert sein, von den verstorbenen Autoren aller Epochen, mit denen er so häufig in seinen Werken kommuniziert. Wie Kapitän Nemo, ein „Festlandsverächter“ und „Radikalmisanthrop“, will der Dresdner Schriftsteller in die Fluten tauchen wie der Mann auf der Tomba del tuffatore in Paestum, dessen Kopfsprung auf eine lange Reise in die Unterwelt, ins Totenreich, ins Unbewusste hindeutet.

Im vergnüglichen Band „Die Bars von Atlantis“, einem langen Essay in vierzehn Etappen, der auf zwei Vorträgen beruht, die der Dichter in Berlin und Bologna zwischen 2008 und 2009 gehalten hat, lässt Grünbein die schönsten literarischen Werke Revue passieren, die das Leben unter oder auf dem Wasser sowie das Reisen übers Meer zum Thema haben. Natürlich gehören Homer und Herman Melville dazu; Dante, Virginia Woolf und Jules Verne, sogar Charles Baudelaire, Bertolt Brecht und T. S. Eliot werden erwähnt. Dichtung wird als Schifffahrt präsentiert, das Gedicht – nach Ossip Mandelstam – als Flaschenpost konturiert.

Die Literatur, jahrhundertelang von den riskanten Unternehmen der Meeresbezwinger genährt, wimmelt von abenteuerlichen Seefahrern. Grünbein zufolge werden moderne Verkehrsmittel das Schiff und seine charmante Symbolik von Aufbruch, von Wagnis des Lebens nie ersetzen können. Denn wie könnten heute die technikfeindlichen Lyriker über die so unpoetischen Flugzeuge dichten? „Warum“, fragt sich der Autor, „werden keine Oden geschrieben auf all diese Airbusse, Boeings und Helikopter, nicht die kleinste Elegie auf die erst gestern im Technikmuseum abgestellte Concorde […]?“ Auch einem Kosmopoliten wie Grünbein, der seit der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ viel durch die Welt gereist ist, erscheinen die Flughäfen als moderne Höllen, als hektische Transiträume für vom Jetlag verwirrte Globetrotter. Dichtung bewegt sich dagegen auf dem Meer, sie speist sich mit Salzwasser, sie träumt von langen Reisen, von fernen Ländern und submarinen Reichen.

Von der durchdringenden Macht des Aquatischen zutiefst fasziniert, hat Grünbein in seinem Opus Literatur und Wasser wiederholt in Verbindung gebracht, zum Beispiel in den zahlreichen venezianischen Gedichten oder in verträumten Überflutungsfantasien. Der Schriftsteller, ein „neugierige[r] Tintenfisch“, hat sich in seiner Produktion mehrmals der semantischen Sphäre des Liquiden genähert und maritimer Bildkomplexe bedient, um eine originelle Poetologie des Wassers auszuarbeiten, der er nun mit diesem Band eine gewisse Systematik zu verleihen scheint.

Die produktive Anwendung einer aquatischen Metaphorik auf die Bereiche der Poetik und der Semiologie – die ziemlich früh bei Grünbein zu registrieren ist, etwa im Gedicht „Fisch im Medium“ (1991) – findet ihre Krönung im dichterischen Kabinettstück „Calamaretti“ (2005), in dem sich das lyrische Ich bei den wehrlosen, in Scheiben geschnittenen Meeresfrüchten entschuldigt, bevor es sie als Soße eines leckeren Nudelgerichts kostet. Die Kalmare, deren Name an den Calamus – das antike Schreibgerät aus Schilfrohr – erinnert, sind als Tinte ausscheidende Weichtiere auch mit dem materiellen Prozess des Schreibens verbunden. Aus dieser Perspektive gelesen, erhalten die heiteren Zeilen des Gedichtes eine selbstreflexive, eminent poetologische Dimension; der Dichter versetzt sich amüsiert in die Rolle eines Fischers, seine Angelrute ist der Vers: „soweit ich weiß, / In eurem wäßrigen Biotop, in Poseidons wogendem Reich, / Habt ihr niemals die Sonne vermißt. Erst mein Vers / Rückt euch ins Tagelicht, eh euch mein Gaumen berührt“.

Die „angelnde“ Funktion der Dichtung findet sich auch in „Erklärte Nacht“ (2001), einem der bedeutendsten poetologischen Gedichte Grünbeins, wieder: „Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen / Am Meeresgrund“, heißt es dort. Die erste Bewegung der Dichtung ist also vertikal, das Gedicht durchbricht die dünne Wasseroberfläche der Gegenwart und sammelt die in der Meerestiefe vorhandenen Schätze der persönlichen, literarischen und geschichtlichen Erinnerung.

Beim Tauchen – so Grünbein in „Die Bars von Atlantis“ – sucht man „eine Schatztruhe an Erinnerungsbildern“; die Tiefsee ist der unzugängliche Raum des Unbewussten, ein Biotop, in dem die Vergangenheit auf keinem Fall verloren geht, sondern im Lichtlosen konserviert wird. Wie uns die sonderbaren Fische in den Ozeantiefen, von denen Grünbein im Essay „Zeit der Tiefseefische“ (1995) spricht, unbekannt bleiben, bis ein Dokumentarfilm oder eine Enzyklopädie ihnen Sichtbarkeit schenkt, überlagern sich die Bilder am Meeresgrund und scheinen damit unter dem kontinuierlichen Wechsel von Ebbe und Flut begraben zu sein, während sie in Wirklichkeit dort unverloschen und geborgen warten, bis sie – auch durch die Poesie – plötzlich heraufgeholt werden. Eine der ersten Aufgaben des Dichters ist also das Tauchen als Akt des Sinkens, des Erkundens und des Emportauchens.

Innerhalb der Grünbein’schen Wasserpoetik ist eine zweite Bewegung der Lyrik zu erkennen, und zwar die horizontale Bewegung der Überfahrt von einem Ufer zum anderen, die im Bereich der Wörter mit der Metapher, für Grünbein vielleicht der wichtigsten rhetorischen Figur, zu identifizieren ist. Ganz bewusst vom etymologischen Sinne des griechischen Ausdrucks metà phérein – das heißt „(meistens per Schiff) anderswohin tragen“ – präsentiert Grünbein im Essay „Katze und Mond“ (1992) den Dichter als zuständige Person für den „Transport der Worte. Er ist der Zwischenträger, der Überträger zwischen dieser und einer anderen Welt“. Und in „Die Bars von Atlantis“ erinnert sich der Autor auch an einen Möbelwagen, den er eines Tages in einer Athener Nebenstraße gesehen hatte und der die Aufschrift Metaphorai trug: „Seither will mir die praktische Bedeutung des Wortes nicht mehr aus dem Sinn. Eine Metapher ist […] ein Umzugswagen, sie schafft Bedeutungslasten von hierhin nach dorthin, und im Fahrerhaus sitzen die Dichter und palavern und steuern“.

Aber die Metapher ist für Grünbein nicht nur eine durch eine ungewöhnliche Wortkombination erfolgende Sinnübertragung, eine Art Quidproquo, in dem „je weiter der Sprung vom Quid zum Quo, um so stärker der Überraschungseffekt“ ist; dank ihrer bildlich-evokativen Kraft ermöglicht sie auch das Reisen durch die Zeiten, das Baden im Gewässer der Kultur und der Geschichte. Im Gedicht „Metapher“ (2002) – einer Umschreibung und Neuauslegung von Lukians Totengespräch zwischen Charon und Merkur anlässlich des Besuches des Fährmanns in der Welt der Lebenden – wird gerade diese Bedeutung der rhetorischen Figur als Brücke zwischen den Zeiten, als Übergang zwischen Diesseits und Totenwelt suggeriert.

Die Metapher „umfaßt […] den beiderseitigen Verkehr auf der mehrspurigen Spiralbahn zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden“ (Michael Eskin), sie erlaubt dem Dichter, in das „Stimmengewirr vieler Zeiten“ zu lauschen – von dem Grünbein im Aufsatz „Mein babylonisches Hirn“ (1995) spricht – und dadurch eine gewisse Simultanität des historisch Disparaten herzustellen. So lesen wir in „Erklärte Nacht“: „Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer / Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren, / Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer / Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen. […] Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. / Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.“

Die Metapher hüpft wie ein platter Stein auf dem Wasser, sie springt zwischen Wasser und Luft hin und her, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und sinkt nach den waagerechten Sprüngen senkrecht in die Tiefe, um die Schätze der Vergangenheit – ihren abundanten Vorrat an Bildern und Gedanken, der dem orientierungslosen Gegenwartslyriker Halt gibt – zu erkunden. Wie Grünbein in einem Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks erklärt, ist Dichtung diachronisch, sie entsteht aus dem „Ineinanderverwobensein aller Zeitformen“ und sorgt für die „Gleichzeitigkeit des zeitlich Beziehungslosen“; die Metapher als Figur des Zeitlichen beziehungsweise des Omnitemporalen ermöglicht die Wiedergewinnung des Verlorenen und dessen Verewigung – „Was bleibt, sind Gedichte“.

Wie sich aus diesen kurzen Reflexionen über die das ganze Grünbein’sche Werk durchziehende Poetologie des Wassers ergibt, bildet das Bild des Flüssigen und des Maritimen eine Konstante in der lyrischen sowie essayistischen Produktion des Dichters. In den vierzehn „Tauchgängen“ des vorliegenden Bandes liefert nun Grünbein einen reichen und differenzierten Überblick über die wichtigsten Darstellungsformen des thalassalen „Ur-Topos“ in der Weltliteratur; dabei geht er vorwiegend eidetisch und assoziativ vor, seine Argumentation folgt der sanften Beweglichkeit der wogenden Fluten, sie schwankt von einem Bild zum anderen, von einem Autor zum anderen, von einem Werk zum anderen.

In „Die Bars von Atlantis“ entwirft Grünbein zugleich eine solide poetologische Struktur, die einen Schlüssel zum Verständnis und zur kritischen Einbettung von manchen seiner eigenen Gedichte anbietet. Insofern bestätigt der Band die Tendenz des Dichters, seine Aufsätze in enger Verbindung zu den Gedichten zu konzipieren; nicht zufällig wird die Reihenfolge der kleinen Essays durch zwei Lyrikstücke – „Kosmopolit“ und „Von den Flughäfen“ – unterbrochen, und den Ausgangspunkt der Abhandlung selbst stellt gerade ein eigener Vers dar, der lautet: „Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle“.

Wie der Schriftsteller in einem Interview mit Silvia Ruzzenenti erklärt, schreibt er seine Essays als Studien für die Gedichte, oder umgekehrt schreibt er Gedichte, aus denen dann Essays hervorgehen. Seine Aufsätze, die in ihrer angenehmen Luftigkeit denen von Joseph Brodsky ähneln, werden also zum „unmittelbare[n] literarische[n] Ausdruck eines Confinum zwischen Poesie und Prosa“, wie es bei Max Bense heißt.

Aber nicht nur als erhellendes Handbuch zur Poetik des Dichters soll dieser Prosaband gelten. Mit seiner unterhaltsamen Erkundung der „Bars von Atlantis“ legt Grünbein einen gelehrten und äußerst anregenden Text vor, den alle Literaturliebhaber faszinierend finden werden.

Titelbild

Durs Grünbein: Die Bars von Atlantis. Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
63 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783518125984

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