Was war der große Plan des Welfen?

Joachim Ehlers Biografie über Heinrich den Löwen fehlt eine zentrale thematische Klammer

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es überhaupt möglich, über einen Herrscher des Mittelalters eine echte Biografie zu verfassen? Gewiss, die Quellenlage über Heinrich den Löwen ist gut, im Vergleich zu anderen Protagonisten seiner Zeit sogar hervorragend. Der Welfe war einer der bekanntesten Gestalten des 12. Jahrhunderts, nicht zuletzt in seiner Rolle als Widersacher seines Vetters, des Stauferkaisers Friedrich I.; und sein Name erscheint allein deshalb schon in vielen zeitgenössischen Chroniken.

Doch über die eigentliche Persönlichkeit des Welfen oder gar Einzelheiten aus seinem privaten Leben erfährt man daraus nur wenig, wie sein neuester Biograf, der Berliner Emeritus für Mediavistik, Joachim Ehlers, betont. Mittelalterliche Chronisten zeichneten gewöhnlich nicht das tatsächliche Bild eines Herrschers, wie man es von einem modernen Biografen erwarten würde, sondern maßen ihn an ihren Idealvorstellungen. Es ging ihnen mehr um die Frage, wie ein Fürst nach ihrer Ansicht und der Auffassung der Zeit auftreten und handeln sollte. Auch wenn sich die Zielpersonen selbst schon aus Gründen der politischen Propaganda an dieses Rollenbild zu halten versuchten, sind mittelalterliche Charakterbeschreibungen einer hervorgehobenen Persönlichkeit nicht mehr als eines Schablone, hinter der sich nur mühsam winzige Versatzstücke einer historischen Authentizität herausfiltern lassen.

Heinrich der Löwe war prominenter Angehöriger einer Klasse, die als Krieger und Territorialherren die damalige europäische Christenheit von Schottland bis zur Elbe und zum Teil darüber hinaus beherrschte und hatte sich in dieser Rolle den Anforderungen seiner Zeit in besonderer Weise zu stellen. Dies gelang ihm allerdings nicht immer. Als Herzog über Sachsen und Bayern nahm Heinrich von Beginn an eine Sonderstellung im Reich ein, die ihm zwangsläufig viele Feinde einbrachte. Obwohl ihn seine Doppelfunktion zum mächtigsten Fürsten des Reiches machte, trat er von sich aus nie in Opposition zum Kaiser, war sogar während der ersten Dekade seiner Herrschaft als einer der treuesten Vasallen des Staufers oft an dessen Seite zu finden und konnte sogar erwirken, dass das umstrittene Herzogtum Bayern im Jahre 1156 zwischen ihm und dem Babenberger Heinrich Jasomirgott geteilt wurde. Es war die Geburtsstunde des heutigen Österreichs.

Gefolgschaft und Loyalität waren die heiligsten Gebote eines Fürsten der europäischen Feudalgesellschaft und solange Heinrich diesem Grundsatz treu blieb, schien seine Position im Reich gesichert. 30 Jahre lang gelang es ihm, seine Herrschaft auf beiden Seiten der Elbe durch Verhandlungen, kaiserliche Protektion und dosierte Gewaltanwendung stetig weiter auszubauen.

Joachim Ehlers widmet sich in seiner Studie ausführlich diesem Aspekt der fürstlichen Herrschaft und schildert in eingefügten systematischen Kapiteln die beachtliche Bautätigkeit seines Protagonisten ebenso wie dessen Kirchenpolitik. Hierbei zeichnen sich zwei Schwerpunkte ab. Zunächst ging es dem Welfen um die Durchsetzung seiner unmittelbaren Lehnsgewalt in den Herzogtümern, was zu seiner Zeit noch als eine höchst problematische Beeinträchtigung der Reichsunmittelbarkeit seiner höchsten Lehnsträger galt. Zugleich versuchte Heinrich das kirchenrechtlich nicht weniger umstrittene Recht der fürstlichen Bischofsinvestitur zumindest in seinen ostelbischen Territorien, die noch nicht unmittelbar der Reichsgewalt unterstanden, durchzusetzen. Eigenartigerweise beunruhigten Heinrichs Anstrengungen, die man auch als Ansätze zu einer erst in der frühen Neuzeit gelungenen Territorialstaatsbildung interpretieren könnte, weder Kaiser noch Papst. Waren doch die beiden höchsten Repräsentanten der damaligen politischen Welt seit Dekaden in eine erbitterte Auseinandersetzung verstrickt, die den Staufer den größten Teil seiner langen Regierungszeit in Italien band.

Erst als sich Heinrich 1176 den dringenden Bitten des Kaisers um Unterstützung seines Kampfes gegen den lombardischen Städtebund demonstrativ verweigerte, war der Bruch zwischen den beiden ehedem eng verbundenen Protagonisten ihrer Epoche unvermeidlich geworden. Die dramatische Szene soll im norditalienischen Chiavenna stattgefunden haben und wurde später noch oft, einschließlich des kaiserlichen Fußfall dargestellt. Bis heute ist nicht geklärt, weshalb der Welfe die kaiserliche Bitte so schroff und arrogant – wie es einige Zeitgenossen betonten – abgelehnt hatte. Dass hierbei die Sorge um das eigene Wohl und das seiner jungen Familie im Vordergrund gestanden haben soll, wie Ehlers vermutet, kann nicht überzeugen. Auch wenn seine Erben noch im frühen Kindessalter standen, hatte sich Heinrich wie jeder Fürst den Gefahren eines kriegerischen Lebens zu stellen und war davor auch niemals zurückgeschreckt. Überhaupt scheute er wie alle seines Standesgenossen keine noch so weite Reise, um seine Herrschaft und seinen fürstlichen Ruhm zu vermehren. So war Heinrich erst wenige Jahre zuvor von einer gewiss nicht ungefährlichen Fahrt ins sogenannte Heilige Land zurückgekehrt.

Wenn überhaupt die Persönlichkeit Heinrichs fassbar wird, dann vielleicht gerade in dieser entscheidenden Szene seines Lebens, in der er sich um den Ertrag seiner jahrzehntelangen politischen Bemühungen brachte. Selbstüberschätzung und Hybris mögen ihn dazu veranlasst haben, dem Kaiser jene tausend oder zweitausend Berittenen zu verweigern, die er nur vier Jahre zuvor allein für seine pompöse Reise nach Konstantinopel und in den Nahen Osten aufgebracht hatte. Ob nun Friedrichs entscheidende Niederlage bei Legnano noch im selben Jahr mit der Unterstützung des Welfen hätte vermieden werden können, ist eine andere Frage. Doch die politischen Folgen waren eindeutig. Nach seinem unvorteilhaften Ausgleich mit dem Gegenpapst und den norditalienischen Städten musste sich der Staufer beinahe zwangsläufig den deutschen Angelegenheiten zuwenden und hier insbesondere seine bisher nur halbherzig betriebene Hausmachtpolitik in Südwestdeutschland wieder aufnehmen. Selbst wenn Heinrich die Ansprüche eines universalistischen Kaisertums ablehnte und lieber territoriale Realpolitik im Reich betrieb, so hatten ihm doch die weltpolitischen Chimären des Kaisers jahrzehntelang in unvergleichlicher Weise genutzt. Dies nicht erkannt zu haben, zeugt von einer beachtlichen Kurzsichtigkeit des Welfen, die ihn eigentlich aus der Reihe der Großen seiner Zeit praktisch ausschließt.

Ehlers geht mit seiner Biografie über Heinrich den Löwen ausdrücklich über das bisherige Standardwerk Karl Jordans aus dem Jahre 1979 hinaus, indem er das Handeln seines Protagonisten nicht allein auf der Ebene von Territorial- und Reichspolitik, sondern auch auf der europäischen Bühne verfolgt. Zu letzterem zählte sicherlich dessen spektakuläre Reise zum byzantinischen Kaiserhof und weiter ins Königreich Jerusalem, wo er sich sogar als Kreuzritter internationales Renommee verschaffen wollte. Dann aber auch seine Heirat mit der jungen Mathilde, die immerhin die Tochter des mächtigen Heinrich II. Plantagenet war, der England, Schottland und große Teile Frankreichs beherrschte.

Trotz dieser ertragreichen Perspektive bleibt Ehlers jedoch die Antwort auf die entscheidende Frage schuldig: Was also trieb diesen zweifellos ehrgeizigen Fürsten des Hochmittelalters an? Was war sein großer Plan? War es vielleicht ein eigenes Königtum auf dem slawischen Territorium jenseits der Elbe oder beabsichtigte Heinrich, den immerhin um zehn Jahre älteren Kaiser nachzufolgen, wie es schon sein früh verstorbener Vater, der den bezeichnenden Beinahmen „superbus“ trug, im Falle Lothars III. angestrebt hatte? Auch wenn die Quellen dazu nur wenig aussagen, hätte zumindest ein Deutungsversuch die ansonsten gelungene Biografie des Welfen abschließen müssen. So fehlt doch eine zentrale thematische Klammer, die der oft sehr detaillierten und mit der Nennung zahlreicher Persönlichkeiten befrachteten Darstellung überhaupt eine thematische Richtung hätte geben können.

Ehlers Studie überzeugt dort, wo er ausführlich die Funktionsweise von hochmittelalterlicher Politik analysiert, die anders als in neuzeitlichen Staaten fast durchweg auf persönlichen Bindungen beruhte. Dadurch gelingt es ihm fraglos, seinen Protagonisten fest in das wechselnde Spannungsfeld seine Epoche einzuordnen und Voraussetzungen und Struktur hochmittelalterlicher Herrschaft nachzuzeichnen. Die Besonderheiten der damaligen Kriegführung bleiben jedoch in Ehlers hauptsächlich politisch angelegter Biografie nur ein Randthema, obwohl gerade militärische Fragen und die daraus erwachsenden Ehrvorstellungen im Leben eines Adligen des 12. Jahrhunderts fraglos eine bedeutende Rolle gespielt haben. Dass der Verfasser hierzu offenbar nur über wenig Expertise verfügt, mag mit der Forschungstradition im Nachkriegsdeutschland zu tun haben. In der Biografie eines mittelalterlichen Kriegerfürsten bleibt es ein Manko.

Titelbild

Joachim Ehlers: Heinrich der Löwe. Biographie.
Siedler Verlag, München 2008.
496 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783886807871

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