Zur Aktualität eines arroganten Imperialisten

Er galt als hypertropher Snob, war zur Zeit von Queen Victoria britischer Vizekönig in Indien und später auch Außenminister: George Nathaniel Curzon. Ein Rückblick auf den britischen Imperialismus und auf David Gilmours brillante Curzon- Biografie

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon als lernbegieriger, Preise einheimsender Eton-Zögling, dann auch als Präsident des berühmten studentischen Oxford Union-Debattierclubs, eilte Lord Curzon (1859-1925) der Ruf eines arroganten, kaltschnäuzigen Schnösels voraus. Am Balliol College fabrizierten kritische Kommilitonen Spottverse, die Curzons oberlehrerhafte Snob-Attitüde verhöhnten und ihn noch Jahrzehnte später, als er die höchsten politischen Ämter des Empire innehatte, schwer trafen. Alles wusste er besser; er benahm sich schon als Student wie ein onkelhafter Premierminister, verkehrte am liebsten in Aristokratenkreisen wie etwa bei den Churchills in Blenheim Castle und als „most superior person“ hielt er sich für unwiderstehlich und unfehlbar. In dem klassischen Spottreim, der damals in Oxford kursierte, hieß es:

My name is George Nathaniel Curzon
I am a most superior person
My cheeks are pink
My hair is sleek
I dine at Blenheim once a week

Und eine „Spy“-Karikatur von 1892 zeigt den konservativen Abgeordneten während einer Parlamentsdebatte, der „wie ein Hohepriester zu schwarzen Käfern“ spricht. Schon während seines Studiums stand für den begnadeten Rhetoriker fest, dass für ihn nur eine Politiker-Karriere in Frage kam. Er wurde 1886 konservativer Abgeordneter, machte sich mit seinen Asienreisen schnell einen Namen als Asien-Spezialist und verfasste Bücher über Persien, das asiatische Russland und „Probleme im Fernen Osten“, die ihm quer durch alle politischen Lager große Anerkennung einbrachten. Als indischer Viceroy bekam er jedoch sofort große Probleme mit dem militärischen Hardliner Lord Kitchener, als dieser 1902 in Indien den Posten des militärischen Oberbefehlshabers der britischen Streitkräfte übernahm, sich jedoch weigerte, in irgendeiner Form von Curzon kontrolliert oder beaufsichtigt zu werden. Kitchener intrigierte solange gegen Curzon mit Hilfe seiner Whitehall-Cronies, bis Lord Curzon schließlich 1905 als Viceroy zurücktrat. Sein Fehler war die Superior Person-Attitüde: Er hatte viele Untergebene und ranghohe Kolonialbeamte zu lange und zu nachdrücklich wissen lassen, wie unfehlbar er selbst war und welch armselige Kreaturen sie selbst darstellten. Curzon übernahm vorübergehend das Amt des Kanzlers der Universität Oxford, beschäftigte sich mit Kunst und Architektur und wurde 1916 ins Kriegskabinett von Lloyd George berufen. 1919 wurde er schließlich doch noch – nach vielen vergeblichen Bemühungen – Außenminister. Als jedoch 1923 nicht er, sondern James Baldwin Premierminister wurde, war der von seiner Unfehlbarkeit überzeugte Lord Curzon extrem enttäuscht. Bekannt wurde er auch mit seinem 1919 auf der Versailler Friedenskonferenz eingebrachten Vorschlag, die nach ihm benannte „Curzon-Linie“ als Grenze zwischen Sowjet- Russland und Polen zu etablieren.

Wie der ehemalige Oxford-Fellow, „Spectator“- Kolumnist und Autor David Gilmour zeigt, hatte der zeitlebens mit erheblichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfende workaholic Curzon auch positive Seiten: Er war unbestechlich und objektiv bei der Einschätzung seiner Mitarbeiter, er lieferte bestechende Analysen bei brisanten politischen Problemen und er war trotz seiner Gesundheitsprobleme ein unermüdliches, bis zur Selbstverleugnung gehendes Arbeitstier. Gilmour ist Experte für die Blütezeit des britischen Empire, er hat eine große Kipling-Biografie verfasst und die Interna des britischen Kolonialdienstes mitsamt den Querelen, Intrigen und gnadenlosen Machtkämpfen innerhalb der kleinen Machtelite in seiner grandiosen Curzon-Biografie akribisch analysiert.

Vor dem Hintergrund der Diskussionen über militärische Interventionen in Afghanistan, Iran und im Irak gewinnen besonders Curzons Überlegungen zur Annexion Afghanistans eine bestechende Aktualität. Curzon war zwar begeisterter Imperialist und glaubte daran, während seiner Amtszeit als indischer Vizekönig (von 1899-1905) mit britischen Verwaltern, indischen Beamten und einem umfassenden Justiz-System das soziale Gefüge eines streng hierarchisch gegliederten Kastensystems gerechter gestalten zu können. Doch er war auch ein scharfer Kritiker eines ungezügelten Expansionismus sowie christlicher, in Asien aktiver Missionare. Sein Sendungsbewusstsein als „imperialistischer Umerzieher“ war zwar extrem stark ausgeprägt, doch er besaß auch ein subtiles Sensorium für autonome nationalistische Strömungen und erkannte genau, wo die Vertreter des Empire an ihre Grenzen stießen. Eine totale Hegemonie, wie sie klassische Imperialisten anstrebten, war ihm fremd.

Schon während der ersten seiner vielen ausgedehnten Asienreisen bemerkt er in einem Tagebucheintrag: „Ein normaler Asiate läßt sich lieber schlecht von Asiaten regieren als kompetent von Europäern“. Dennoch beging er den Fehler, in Bengalen willkürlich neue Grenzen zu bestimmen und das Land aufzuteilen in Sektoren für Hindus und Moslems – diese fatale Polarisierung führte prompt zu Massenaufständen gegen die britischen Kolonialisten und zu weiteren Separationsbewegungen. Eine stringente, neutrale Beobachterrolle ohne regulierende Funktion war eben doch nicht im Sinne dieses Krypto-Monarchen.

Curzon war zwar prinzipiell gegen militärische Abenteuer, obwohl er den riesigen indischen Subkontinent nur mit einem großen militärischen Apparat für beherrschbar hielt. Afghanistan stellte für Lord Curzon ein frappierendes, enervierendes und nicht zu meisterndes Phänomen dar. Diese Kombination von allgemeiner Unfähigkeit und Sinnlosigkeit eines Systems zu erleben, das zwar zentralistisch organisiert war, sich jedoch gegenüber mächtigen Stammesfürsten und altbewährten provinziellen Machtapparaten nicht durchsetzen konnte und konsequent ignoriert wurde, ließ bei Curzon alle Alarmglocken schrillen.

„Nirgendwo sonst war die britische Außenpolitik erfolgloser gewesen als in Afghanistan“, schreibt Gilmour. Sie hatte seit 1838 zu diplomatischen und militärischen Katastrophen geführt, wie man sie in dieser Dimension noch nie erlebt hatte. Curzon dazu „Es gab keinen afghanischen Herrscher, den wir nicht abwechselnd bekämpft und verhätschelt hätten, dessen Selbständigkeit wir nicht bestritten und dann anerkannt hätten. Und dessen Untertanen wir nicht abwechselnd glorifiziert und dann wieder als Erzfeinde betrachteten und abgeschlachtet hätten“. Doch nach vierzig desaströsen Jahren in Afghanistan hatten die Briten laut Gilmour in diesem verbissen ausgetragenen Great Game zwischen dem Empire und Russland den brillanten Einfall, sich mit der Installation eines Würdenträgers auf dem verwaisten Thron aus der Affäre zu ziehen und sich einen passablen Abgang verschaffen zu können.

So boten die Briten dann 1880 dem in Samarkand im Exil lebenden legitimen Erben Abdur Rahman den afghanischen Thron an. Der neue, von den Briten gerufene Herrscher kehrte mit russischen Waffen aus dem Exil zurück, er mobilisierte einige Stämme im Norden, die eine Revolte gegen einen rivalisierenden Thronfolger durchführten – und plötzlich hatte man die ideale Lösung für eine Exit-Strategie: Der Pufferstaat gegenüber dem russischen Reich war endlich etabliert, die britischen Truppen konnten abgezogen werden und man hatte obendrein noch einen von London subventionierten, dem Empire wohlgesonnenen Herrscher inthronisiert. Doch die ambitionierten Expansionisten in Whitehall gaben sich mit dieser von Curzon willkommenen Lösung nur vorübergehend zufrieden – bald wurden wieder Überlegungen hinsichtlich neuer militärischer Abenteuer laut, die den Russen endgültig den Garaus machen sollten. Diese Kriegstreiber, traf Curzons geballter Furor.

Ein von ausländischen Machthabern installierter Marionetten-Herrscher, Kontroversen über die richtige Exit-Strategie, korrupte Machenschaften in Kabul und Sandkastenspiele, die sich mit militärischen Interventionen befassen – kommt einem das heute nicht bekannt vor?

Sollte auch nach Ansicht Curzons am britischen Wesen die Welt genesen? Er hielt das Empire für einen großen Segen: „Niemals zuvor in der Weltgeschichte gab es etwas so Großartiges wie das britische Empire, ein so einzigartiges Empire, ausersehen für das Wohl der Menschheit. Ich würde es als Gesetz der Vorhersehung betrachten – jedenfalls bestimmt zum Wohl von Millionen Menschen“. Als Vizekanzler und Herrscher über Indien legte Curzon großen Wert auf Pomp and Circumstance, auf spektakuläre, feierliche Rituale, an denen auch Teile des indischen Beamtenapparats partizipieren sollten. Aber er verabscheute den unter Old Boys verbreiteten Nepotismus, das Zuschanzen hoher Ämter an imkompetente Schaumschläger, nur weil diese über die richtigen Establishment-Connections verfügten. Da Curzon gegen diesen Postenschacher sehr aggressiv und direkt vorging, machte er sich viele Feinde und überwarf sich sogar mit seinen besten Freunden. Großen Wert legte er auch auf die Gleichbehandlung indischer Untertanen: Die durften keinesfalls schlechter behandelt werden als die Briten. In das Raster der etablierten Imperialisten, die sich als Verwalter des Empire nur irgendwie bequem und komfortabel durch ihre Amtszeit bringen wollten, paßten diese Eigenschaften des eigenwilligen Viceroy ganz und gar nicht.

Der „Compensator Maximus“ Curzon wollte es allen zeigen – seinem Vater, den Mitschülern, den Kommilitonen und Parlamentariern, den Beamten im Kolonialdienst und mit seinen Büchern und „Times“-Artikeln auch den vermeintlichen Experten, die er mit seinen Reiseberichten und profunden Studien beeindruckte. Sein Vater, Baron Scarsdale, war ein engstirniger Biedermann gewesen, der nur seine Ruhe haben wollte und gelegentlich von der Schnepfenjagd im schottischen Hochmoor träumte. Für die Weltreisen seines Sohnes hatte er überhaupt kein Verständnis: Was wollte der überhaupt in Persien, am Hindukusch, in Indien, Japan und China?

Biograf Gilmour begibt sich zum Glück nicht in küchenpsychologische Niederungen, um Curzons Kindheitskomplexe aufzuarbeiten. Doch spurlos vorbeigegangen waren all die Demütigungen des jungen Curzon durch seine Gouvernante sicher nicht. Sie genoss es, ihren Zögling mit einer von den Dienern präparierten Rute auszupeitschen, außerdem musste Curzon selbst nach Bagatell-Delikten mit am Körper befestigten Schildern im Ort herumlaufen, die mit „Feigling“ oder „Ich bin ein Lügner“ beschriftet waren. Zweifellos gab es hier ein immenses Kompensationspotential, das Curzon immer zu Höchstleistungen antrieb. Und dazu führte, dass er kaum eine Aufgabe delegieren konnte: Er machte lieber alles selbst und mischte sich permanent in Belange ein, die eigentlich nicht in seinen Kompetenzbereich gehörten. Die Reform des indischen Eisenbahnnetzes machte er ebenso zu seiner Sache wie den Bau von Bewässerungskanälen, den Umbau des Gouverneurspalastes oder die Organisation des großen Inthronisierungsspektakels von Queen Victoria, als diese zur „Empress of India“ ernannt wurde. Für seine erste Frau, die amerikanische Millionärstochter Mary Leiter, hatte er selbst das Brautkleid bestimmt, nicht einmal die Möblierung oder die Innendekoration der Häuser hatte er ihr überlassen. Sicher keine „most superior person“, wenn man die menschlichen Schwächen des arroganten Lord Curzons betrachtet. Doch ein scharfsinniger Analytiker und ein Stratege mit großem Weitblick, wenn man seine Kenntnisse Asiens berücksichtigt. Besonders seine schon 1880 formulierte Einsicht, Afghanistan sei als Objekt der Begierde ein hoffnungsloser Fall für westliche Nationen, die dort militärisch intervenieren wollen, sollte all den selbsternannten Militärstrategen und systemrelevanten Experten unserer Tage, für die am Hindukusch die Rettung der westlichen Demokratie auf dem Spiel steht, sehr zu denken geben. Gilmours Biografie ist ein epochales, beeindruckendes Werk. Selten liest man eine so differenzierte, in großen historischen Zusammenhängen argumentierende und doch so spannende Lebensgeschichte eines faszinierenden Staatsmannes, dessen biografische Eckdaten bisher jedoch kaum bekannt waren.

Titelbild

David Gilmour: Curzon: Imperial Statesman.
Macmillan Publishers Ltd, London 2003.
728 Seiten, 17,59 EUR.
ISBN-10: 0374133565
ISBN-13: 9780374133566

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