Narrativer Angstschweiß

Zur ästhetischen Funktion erzählerischer Emotionalität im „Joseph“-Roman

Von Matthias LöweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Löwe

Der Erzähler von Thomas Manns „Joseph“-Roman sucht in der deutschen Literatur seinesgleichen: Man hat ihn sich als einen Historiker oder Archäologen vorzustellen, der dank einer narrativen Zeitreise durch den „Brunnen der Vergangenheit“ auf den Schauplatz der „Genesis“ gelangt und hier an Ort und Stelle zum Augenzeugen wird. Er verpflichtet sich zur „besonnen untersuchenden Erzählung“ und will die „Mondlicht-Genauigkeit“ der späten Bronzezeit mit neuzeitlicher Rationalität durchdringen.

Es scheint so, als bestätige gerade der Erzähler des „Joseph“-Romans den Topos vom ‚kalten Künstler‘ Thomas Mann, der sich im klimatisierten Elfenbeinturm auktorialer Souveränität einrichtet und mit kühlem Erzählerverstand die emotionalen Schwächen seiner Figuren inszeniert, um sie dem Seziermesser der Ironie preiszugeben: In einer humorigen Szene etwa beschließt Potiphars liebeskranke Frau Joseph ihr Verlangen mündlich mitzuteilen. In der Nacht zuvor beißt sie sich auf die Zunge, um ihren Antrag rührender zu gestalten und ihrer Rede „einen Ausdruck von Unschuld und Hilflosigkeit“ zu verleihen. Der Erzähler lässt sich die Gelegenheit, ihr „Kinderlispeln“ nachzuahmen, natürlich nicht entgehen und gibt schonungslos wieder, wie sie Joseph von den „Merzen“ an ihrer „Tunge“ erzählt und ihn schließlich anfleht: „Slafe bei mir!“. Aus lauter Erzähleranstand fügt er indes hinzu: „Wir ahmen nicht weiter nach, wie sie von Piel und Teinen und Auschfüschten stammelte, denn es könnte scheinen, als wollten wir sie verhöhnen“. Da hat er es freilich bereits getan.

In solchen und ähnlichen Szenen entdeckt man das für Manns Erzählprosa charakteristische ironische Zur-Schau-Stellen der Figuren, wie er es sich schon in seinen frühen Erzählungen für die Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“ antrainiert. Genauer besehen, ist im „Joseph“ allerdings der auktoriale Erzähler selbst das Objekt der Ironie, denn er praktiziert wissenschaftliche Übergenauigkeit auf denkbar dünner Faktenlage. Mann hat den „Joseph“ als großangelegten „Mammut-Spaß“ bezeichnet und betont, dass es sich bei dem genauigkeitsbesessenen Erzähler um die Hauptquelle des Humors handelt, denn was dieser betreibe, sei „Schein-Genauigkeit“. Zu seinen liebsten Beschäftigungen gehört etwa die rechnerische Überprüfung der biblischen Überlieferung: Mit kühler Pseudorationalität weist er nach, wie lange Joseph im ägyptischen Gefängnis einsaß und kommt zu dem Ergebnis, dass es drei Jahre gewesen sein müssen: „Nicht mehr und nicht weniger; und wirklich sind selten auf überzeugendere Weise Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zusammengefallen als in dieser Tatsache. Was könnte einleuchtender und richtiger sein, als daß Joseph, entsprechend den drei Tagen, die er zu Dotan im Grabe verbrachte, drei Jahre lang und weder kürzer noch länger in diesem Loche lag?“

Der Erzähler, der eigentlich antritt, um in den „Genesis“-Geschichten bibelkritisch die Fakten von den mythischen Fiktionen zu scheiden, macht sich mit seinem Erzählen in Wahrheit zum Erfüllungsgehilfen einer typologischen Bibeldeutung und ihrer mythischen Zahlensymbolik: Die drei Tage, die Joseph – von den Brüdern hineingeworfen – im Brunnen zubrachte, wiederholen sich in den drei Jahren, die er im ägyptischen Gefängnis einsitzt. Als er das Gefängnis verlässt und zum ägyptischen Superminister aufsteigt, war Joseph zudem nach aller Wahrscheinlichkeit, wie er Erzähler beteuert, genau 30 Jahre alt. Auch das ist natürlich eine symbolische Zahl und Signum einer typologischen Auslegungspraxis, die das Alte Testament als Verweis auf das Neue liest: So war bekanntermaßen nicht nur Joseph, sondern auch Jesus 30 Jahre alt, als er zu wirken anfing. Es handelt sich bei dem Erzähler des „Joseph“-Romans mithin um die Persiflage eines zu historischem Realismus ambitionierten Autors, der sich zur „genauen und zuverlässigen Wiederherstellung“ ausgerechnet einer mythischen Geschichte verpflichtet. Gerade aber „das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte ist pure Ironie“, so Mann.

Die kühle rationale Souveränität und auktoriale Macht des Erzählers wird auch dadurch unterminiert, dass er sich immer wieder als Erzähler im wörtlichen Sinne zu erkennen gibt, als anthropomorphe Aussageinstanz: Vor der narrativen „Höllenfahrt“ durch den „Brunnen der Vergangenheit“ muss er erst „die Scheu [seines] Fleisches überwinden“ und gegen Ende des Romans beginnt sogar der Zahn der Zeit an seinem Erzähler-Leib zu nagen, als er sich nach „siebzigtausend geruhig strömenden Zeilen“ eingesteht, dass „wir doch selbst, die wir diese Geschichte entwickeln, um kein Geringes älter darüber geworden“ sind.

Der luftige, körperlose und allgegenwärtige „Geist der Erzählung“, von dem im „Erwählten“ die Rede ist, zieht sich im „Joseph“ zwar nicht zu einer Person zusammen, die auktoriale Erzählinstanz erhält aber dennoch persönliche Züge, ohne jedoch an einen konkreten Ort gebunden zu sein. Signum für diesen Erzähler-Anthropomorphismus ist vor allem die wechselnde erzählerische Anteilnahme, die subtile emotional-körperliche Reaktion des Erzählers auf das Erzählte. Ich möchte die ästhetische Funktion dieser Erzählstrategie exemplarisch an einer der prominentesten und aufschlussreichsten Passagen des „Joseph“ demonstrieren, nämlich am Finale des 3. Bandes, an der berühmten Szene zwischen Joseph und Potiphars Frau.

Voraus schicke ich dem einige Bemerkungen über das Verhältnis von mythischem Stoff und modernem Erzählen im „Joseph“: Mann benutzt darin zwei immer wiederkehrende Leitmotive, mit denen er die ästhetische Operation eines historischen Romans umschreibt, nämlich den Brunnen und das Fest. Der Erzähler fordert den Leser auf, mit ihm die „Höllenfahrt“ in den unergründlichen Brunnen der Vergangenheit zu wagen, um in einer Tiefe von gut 3.000 Jahren das „Fest der Erzählung“ zu feiern, bei dem die Vergangenheit erzählend wiederholt wird und im Rausch des Erzählfestes der Unterschied zwischen „Es war“ und „Es ist“ verwischt: „Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart!“ Was das Fest als Metapher für die Zeitlosigkeit fiktionalen Erzählens qualifiziert, ist die Illusion zeitloser Gegenwart, die es im Akt erinnernder Wiederholung erzeugt: „Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist zu leiden, zu sterben und aufzufahren“. Das Erleben von zeitloser Gegenwart im Erzählfest bindet sich bei Mann aber an einen bestimmten Weltaneignungsmodus, nämlich an den des Mythos. Das mythische Weltbild konstruiert Wirklichkeit auf der Grundlage fundamentaler Geschichten und erkennt in allem, was geschieht, die Wiederholung narrativer Schemata, etwa von Leben, Tod und Auferstehung. Die Menschen, die dem Leser im „Joseph“-Roman begegnen, „sind Menschen wie wir“, so versichert das Vorspiel, ausgenommen die „träumerische Ungenauigkeit ihres Denkens“, das heißt ihr mythisches Weltbild. Mann erklärt, er habe von Menschen erzählt, „die so recht nicht wußten, wer sie waren, oder die es auf eine frömmere, tiefer-genaue Art wußten als das moderne Individuum: deren Identität nach hinten offen stand und Vergangenes mit aufnahm, dem sie sich gleichsetzten, in dessen Spuren sie gingen und das in ihnen wieder gegenwärtig wurde“. Wie muss man sich das vorstellen?

Als der altersverwirrte Isaak, Josephs Großvater, stirbt, verfällt er in ein markerschütterndes „Urgeblök“, das die Laute eines Widders nachahmt. Am Schluss seines Lebens weiß Isaak also nicht mehr zwischen seinem Ich und jenem Schafsbock zu unterscheiden, den sein Vater Abraham – dank Gottes Einschreiten in letzter Minute – an seiner statt geopfert hatte. Josephs Vater Jakob hatte seinem Bruder Esau mit einem Linsengericht den Erstgeburtssegen abgeluchst. In der Wut, die Esau darüber befällt, erkennt dieser bei sich und Jakob das wiederkehrende Schema der feindlichen Brüder Kain und Abel. Auch Joseph selbst deutet seinen Aufenthalt in Ägypten als Wiederholung eines mythischen Schemas, als „Höllenfahrt“, als Abstieg in die Unterwelt: Sein Vater Jakob hatte vor der Wut Esaus zu seinem Onkel Laban fliehen und diesem jahrelang dienen müssen. Als Joseph von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wird, erlebt er dies als die Wiederholung jenes Abstiegs ins „Labansreich“, den sein Vater Jakob eine Generation zuvor schon vollzogen hatte. Die Reihe solcher sich wiederholender mythischer Schemata ließe sich mühelos fortsetzen, denn Mann realisiert diesen „archaischen Personenbegriff“ (Jan Assmann) des „Nach-hinten-offenen Ichs“ in einer Unzahl von Erzähldetails.

Weil sich die mythischen Schemata als narrative Schemata, als Geschichten wiederholen, überträgt der Roman die Vorstellung einer mythischen Zeit, das heißt einer „zeitlosen Gegenwart“ in der immerwährenden Wiederholung, analogisch auch auf den Akt des Erzählens von Vergangenheit. So behauptet der Erzähler, dass Josephs Geschichte „wieder geschieht in unseren Worten“, im Akt der wiederholenden Erzählung also erneute Gegenwart gewinnt. Dabei geriert er sich selbst allerdings als der „Herr des Überblicks“ mitten im rauschenden „Fest der Erzählung“, als der souveräne Regisseur jenes „Tempeltheaters“, das er „für des Volkes Sinne“ auf der Brunnenwiese aufführt.

Der „Joseph“-Roman stiftet damit nicht nur eine Analogie zwischen dem Fest der Erzählung und dem Weltbild des Mythos, sondern auch eine zwischen der Instanz des Erzählers und dem monotheistischen Gott des Judentums. Im „Vorspiel“ zu „Joseph, der Ernährer“ wird erklärt, dass Gott „der Raum der Welt war, aber die Welt nicht sein Raum (ganz ähnlich wie der Erzähler der Raum der Geschichte ist, die Geschichte aber nicht seiner, was für ihn die Möglichkeit bedeutet, sie zu erörtern)“. Assmann hat dies treffend als die „theologische Narratologie“ von Manns Roman bezeichnet. „Gott ist die Unterscheidung“, lautet die Formel, mit der der Roman den Monotheismus charakterisiert. Während das mythische Weltbild in „festlicher Vermischungswut“ allenthalben den „Zauberstab der Analogie“ (Novalis) bemüht und überall Geschichten, Götter und Wiederholung vorgeprägter Schemata erkennt, differenziert der Ein-Gott-Glaube zwischen wahr und falsch, zwischen dem mythischen Tanz ums goldene Kalb und dem Glauben an den unsichtbaren Gott, von dem es keine Statuen gibt, sondern allenfalls Gebote.

Der ästhetische Trick des „Joseph“-Romans besteht darin, dass er separate Bereiche kulturellen Wissens in Analogie zueinander setzt. Über die Leitmotivtechnik, von der hier exzessiv Gebrauch gemacht wird, das heißt über die teils metaphorische, teils wörtliche Verwendung von Signalwörtern wie dem „Fest“, knüpft der Roman Analogien zwischen Theologie, Narratologie und schließlich der Trieb- und Willenspsychologie à la Schopenhauer und Freud. Immer geht es darum, dass zwei entgegengesetzte Pole zusammen erst ein Ganzes ausmachen, nämlich Monotheismus und Mythos, Erzähler und Erzähltes, Ich und Es.

Im Roman wird dieser Grundgedanke von einem Humanismus als Ausgleich zwischen Entgegengesetztem „Gottesvernunft“ genannt, das heißt ein Leben unter dem Motto „Gott ist das Ganze“. Die humanistische Faustformel, die der „Joseph“ uns an die Hand gibt, ist berühmt: „Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.“

Über seine Körperlichkeit und subtile Emotionalität wird das Problem der Gottesvernunft, der Einheit von Entgegengesetztem auch am Erzähler exponiert. Immer wieder läuft er nämlich Gefahr, seinen olympischen Überblick einzubüßen und selbst in jenes mythisch-zeitlose Erzählfest hineinzugeraten, das er mit kühlem Erzählerverstand nur „für des Volkes Sinne“ inszeniert.

Zu Beginn der Finalkapitel des 3. Bandes gibt sich der Erzähler noch als berechnender Regisseur, der die Emotionen seiner Leser dirigiert und Spannung erzeugt, indem er sein Erzählen effektvoll retardiert. Gönnerhaft eröffnet er: „Die Ungeduld des Hörerkreises, zu erfahren, was jeder schon weiß, ist über alledem zweifellos auf ihren Gipfel gekommen“. Dennoch steigert er die Ungeduld ein weiteres Mal. Anstatt nun von dem „privaten und eigentlichen“ Wendepunkt der Geschichte zu erzählen, beschreibt er mehrere Seiten lang ausgiebig den öffentlichen Rahmen des Geschehens, nämlich das ägyptische Neujahrsfest, die Feiern zum Beginn der Nilschwelle, die mit einem Festumzug beginnen und in einem öffentlichen Besäufnis enden. Auch der Immigrant Joseph hält sich von dem ägyptischen Volksfest nicht fern, nimmt aber „mit Maß und einiger Ironie“ daran teil.

Die Gefahr der „Heimsuchung“ des Ich durch seine Triebe wird im 3. „Joseph“-Band also nicht primär an dem öffentlichen ägyptischen Volksfest exponiert, sondern die „Haupt-Feststunde“ der Geschichte ereignet sich im Privatraum von Potiphars leerem Haus, wo dessen in Joseph verliebte Frau kränkelnd allein zurück geblieben ist. Als Joseph davon erfährt, beschließt er sogleich nach dem Rechten zu sehen und legitimiert diesen Entschluss vor sich selbst mit seiner Stellung als Potiphars Meier, der für Ordnung im Haus seines Herrn zu sorgen habe. Er erfindet daher Sittensprüche, „die es eigentlich gar nicht gab, sondern die er selbst zu diesem Zweck erdichtete“, wobei er so tut, „als handle es sich um geprägte Volksweisheiten“, zum Beipsiel „Gönne der Menge und wähle die Strenge“. Die Heimsuchung Josephs besteht hier darin, dass er sich mit den erfundenen Volksweisheiten selbst glauben machen will, der Intellekt und die berufliche Pflicht steuere sein Handeln, in Wahrheit folgt er freilich seinem Willen, versucht die verlockende Gelegenheit des leeren Hauses auszunutzen und gerät dabei in die Gefahr, den Überblick zu verlieren, nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ (Sigmund Freud) zu sein und der „festlichen Vermischungswut“, seinem Trieb zu erliegen.

Um die ästhetische Exponiertheit dieser Heimsuchungserfahrung zu unterstreichen, wird in dieser Szene auch der Erzähler von seinem eigenen Erzähler „heimgesucht“: Obwohl er in „festlicher Wiederholung“ nur nacherzählt, „was jeder schon weiß“, zeitigt sein eigenes retardierendes Erzählen auch beim Erzähler eine emotional-körperliche Wirkung, er empfindet Spannung und fürchtet um Josephs Keuschheit. Obwohl man den Ausgang bereits kenne, sei keineswegs „vorwitzige Sorglosigkeit am Platz“, denn „einer jeden Feststunde des Geschehens gebührt die volle Ehre und Würde ihrer Gegenwart in Jammer und Jubel“. In Anbetracht von Josephs erfundenen Sittensprüchen, mit denen dieser sich selbst betrügt, konstatiert der Erzähler voller Ungeduld, dass die Geschichte zwar schon weit fortgerückt sei, aber noch immer nicht weit genug, „daß uns bei Josephs Gedankengängen und goldenen Reimchen der Schweiß der Besorgnis nicht sollte perlenweis auf der Stirne stehen“. Selbst der Erzähler lässt sich also von der Gegenwartsillusion und vom Eindruck der Unentschiedenheit anstecken, den die „Feststunde des Geschehens“ erzeugt und beginnt vor Anspannung zu schwitzen.

Diese emotionale Reaktion des Erzählers kann man auch unabhängig von Manns Metaphorik von der mythischen Feststunde beschreiben, etwa mit dem Begriff des make-believe, den der amerikanische Philosoph Kendall L. Walton geprägt hat, um die emotionale Anteilnahme an fiktionalen Texten zu erklären. Die Beschreibung der Rezeption von Erzähltexten als make-believe-Spiel meint, dass ein Rezipient die Rolle des im Text eingeschriebenen Adressaten einnimmt und sich die Wahrheit und Gegenwärtigkeit des Erzählten für die Zeit der Lektüre selbst glauben macht. Deshalb, so Walton, „kann die Spannung ein entscheidender Bestandteil unserer Reaktion auf ein Werk bleiben, fast unabhängig davon, wie vertraut wir mit ihm sind.“

Waltons Theorie der Rezeptionsemotionen finden wir mustergültig im Finale des 3. „Joseph“-Bandes veranschaulicht, hier freilich mit dem besonderen Clou, dass der neuzeitliche Erzähler dieser mythischen Geschichte zugleich in die Rolle des Rezipienten verfällt und von seinem retardierend-spannungserzeugenden Erzählen unwillkürlich stimuliert wird, sich die Gegenwärtigkeit des Erzählten glauben zu machen und das „Fest der Erzählung“ mitzufeiern. Die Bedeutungshaftigkeit dieser erzählerischen Emotionalität wird noch dadurch hervorgekehrt, dass Erzählen im „Joseph“ als orales Erzählen inszeniert wird: Immer wieder spricht der Erzähler von einer körperlich anwesenden Hörerschaft, der er die Josephs-Geschichte mündlich vortrage. Im 4. „Joseph“-Band, nach fast 1.700 Druckseiten, mahnt er seine Zuhörer sogar, nicht vorzeitig nach Hause zu gehen und bis zum Ende durchzuhalten. Aus dieser simulierten Mündlichkeit kann man sich auch die durchgängige Wir-Form des Erzählers erklären, durch die er sich mit seinen Zuhörern gemein macht, das heißt er ist gleichermaßen Erzähler und Rezipient der Josephs-Geschichte, zugleich erzählender Mund und hörendes Ohr. In der Produktion und Rezeption umschließenden Wir-Form des Erzählers steckt daher auch die Idee des pluralen Ich, das Ich und Es umschließt, zwar Herr im eigenen Haus ist, aber immer in der Gefahr steht, von seinen Emotionen heimgesucht zu werden.

Humanismus, so wie Mann ihn im „Joseph“ konzipiert, gedeiht indes erst, wenn man sich der immer währenden und nicht zu überwindenden Heimsuchungsgefahr bewusst wird und sie nicht leugnet, also „im Bewußtsein der Sündenmöglichkeit bei mythisch vorgegebener Rolle über das Schema verfügt“, wie Eckhard Heftrich das ausgedrückt hat. Der Erzähler ist jedoch weit entfernt von einem solchen Bewusstsein über die Unentrinnbarkeit der eigenen Emotionalität. Gleichsam als wäre der narrative Schweißausbruch im Kapitel „Das leere Haus“ nie geschehen, behauptet er später, während des gesamten Erzählvorgangs fest im Sattel auktorialer Souveränität gesessen zu haben und vom Erzählten emotional nicht tangiert worden zu sein: „Wir unsererseits sind jeglicher Spannung überhoben, weil wir überhaupt die Phasen der hier aufgeführten Geschichte am Schnürchen haben, […] weil schon in unserer eigenen Aufführung festgelegt ist, was für Joseph noch spannend-zukünftig war“.

Der Erzähler ist also nicht nur deshalb eine der Hauptquellen des Humors im „Joseph“, weil er mit vorgeblich neuzeitlicher Rationalität in Wahrheit mythisch-typologische Erzählschemata konstruiert, sondern auch weil er mehr emotionalen Anteil nimmt, als er zugibt.

Wie hängt diese uneingestandene erzählerische Emotionalität mit dem Humanismus-Konzept des „Joseph“ zusammen? Die Humanismus-Idee des Romans besteht darin, einerseits der bloßen Trieb- und Willenspsychologie von Schopenhauer und Freud nicht das letzte Wort zu überlassen, da man sich dadurch der Möglichkeit von Sündenbewusstsein, der Differenzierung von Gut und Böse gänzlich beraubt. Andererseits formuliert der Roman aber auch erhebliche Zweifel an der Idee reiner Geistigkeit und Willensverneinung, die zumindest bei Schopenhauer für eine kleine philosophische Elite reklamiert wird. Bei Mann sind Vertreter reiner Geistigkeit meist zwiespältige Charaktere. Im „Joseph“-Roman steht dafür Josephs Vater Jakob, der glaubt, sich mit dem neuen Ein-Gott-Glauben ganz aus dem mythischen In-Spuren-Gehen befreien zu können, den ganzen Roman hindurch aber geradezu Kult mit seinen Gefühlen betreibt.

Humanismus meint im „Joseph“ also nicht Schopenhauersche Willensverneinung und auch nicht eine Trockenlegung des Unterbewussten, wo ‚Es‘ war, soll nicht ‚Ich‘ werden, sondern an Joseph wird im Lauf der vier Romane ein Umgang mit dem Willen oder der Heimsuchung durch das ‚Es‘demonstriert, der nicht darin besteht, es zu verdrängen oder zu bekämpfen, sondern es als Teil des Ich zu akzeptieren, auf das man freilich ein wachsames Auge haben muss, das aber auch die Quelle menschlicher Kreativität ist. In seinem Vortrag über den „Joseph“ formuliert Mann das so: Im Laufe der vier Bände erweist sich Joseph „nicht nur [als] der Held seiner Geschichten, sondern [als] ihr Regisseur, ja ihr Dichter“. Joseph ist „einer, der zwar auch noch teilhat am Kollektiv-Mythischen, aber auf witzig-vergeistigte und verspielte, zweckhaft-bewußte Art“.

Dem auktorialen Erzähler gelingt indes gerade kein bewusster Umgang mit seinen Emotionen, sondern er geriert sich durchweg als außenstehender kalter Drahtzieher des Erzählens, der nur narrativ abspult, „was jeder schon weiß“. Er verwickelt sich dabei in einen performativen Selbstwiderspruch, da er am mythischen Erzählfest tatsächlich intensiver teilnimmt, als er zugestehen will. Gerade für den abgeklärten Hochmut des Erzählers gilt daher die Warnung, die Joseph an anderer Stelle ausspricht: „Alles, was geschieht, kann zur Geschichte werden […] und leicht kann es sein, daß wir in einer Geschichte sind“.

Die Spannung, die sein retardierendes Erzählen im Finale des 3. Bandes erzeugt und das ängstlich-gespannte Schwitzen, mit dem er auf sein eigenes Erzählen reagiert, ist zudem Teil einer raffinierten Leserlenkungsstrategie, die versucht, die Humanisierungsidee des Romans gleichsam im Lektüreprozess erfahrbar zu machen. Durch das retardierende Erzählen und die gesteigerte Ungeduld zu erfahren, „was jeder schon weiß“, wird der Leser hier in die emotionale Lage der ungeduldig harrenden Mut-em-enet versetzt, die sich im leeren Haus wartend nach Joseph verzehrt. Gerade durch diese psychologisierende Einfühlung in das Verlangen von Mut-em-enet unterscheidet sich der „Joseph“ eklatant von der biblischen Vorlage, die Potiphars Frau zur „Mutter der Sünde“ degradiert: Bei Mann hat ihr Verlangen indes eine konkrete psychologische Ursache, denn ihr Mann ist Eunuch, sie lebt also in erzwungener lebenslanger Keuschheit.

Autobiografischer Hintergrund solcher Heimsuchungserfahrungen wie der von Mut-em-enet ist natürlich Manns verdrängte Homosexualität und die Angst vor deren Einbruch in sein äußerlich geordnetes Leben. Die Angst vor der „festlichen Vermischungswut“ bezieht sich in seinen Texten deshalb aber nicht allein auf dieses biografische Problem, sondern auf jede Form der Überwältigung des Intellekts durch den Trieb: So hat Eckhard Heftrich gezeigt, dass die Darstellung jener Neujahrsfeierlichkeiten zur Nilschwelle auch einen „ins Ägyptische rückübertragenen Zeitreflex“ enthält: Der Schluss des 3. „Joseph“-Bandes entsteht im Sommer 1936, zeitgleich zu den Olympische Spielen in Berlin. In der Schilderung des ägyptischen Neujahrfests kommt daher auch Manns reservierte Haltung gegenüber Volksfestlichkeit und „Tempeltheater“ zum Ausdruck, und wenn am Abend ganz Ägypten so betrunken war, „daß es blindlings gröhlte und torkelte und viel Unfug beging“, dann ist das natürlich als zeitkritisches Bild für die verblendeten Massen zu lesen. Wie so häufig schwingt im Hintergrund der Szene auch Manns nie ganz verwundenes Leiden daran mit, dass er sich bei Kriegsausbruch 1914 selbst von dem nationalen Hochgefühl hatte erfassen lassen. Er versteht den Nationalsozialismus zwar wie viele seiner Zeitgenossen als eine „Form neuheidnischer Idolatrie“ (Jan Assmann), verdammt deswegen aber nicht pauschal alles Mythisch-Unaufgeklärte, sondern versucht, so seine berühmte Formulierung, „den Mythos den faschistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane ‚umzufunktionieren‘.“

Humanisierung als Psychologisierung des Mythos meint also, in dem Bewusstsein zu leben, dass die Gefahr der mythischen Heimsuchung durch Emotionen und Triebe unabdingbar zum Menschsein gehört, dennoch aber nicht die Verantwortung für sein Handeln auf die fremde Macht des ‚Es‘ zu schieben, sondern für seine Verfehlungen selbstverantwortlich einzustehen, theologisch gesprochen: Schuld- und Sündenbewusstsein zu kultivieren. „Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Vergötterung“, schreibt Kant in der „Metaphysik der Sitten“, ein Satz, der – schon wegen dem Topos der Höllenfahrt – auch im „Joseph“-Roman nicht als Fremdkörper aufgefallen wäre.